Nachricht | Zentralasien - Die Neuen Seidenstraßen Migration in Kasachstan und Chinas Neue Seidenstraße

Der wachsende chinesische Einfluss schürt in der kasachischen Gesellschaft Ängste vor dem Nachbarn

Information

Lastwagen, die Windturbinenblätter für einen Windpark transportieren, der von der chinesischen Firma Universal Energy in der kasachischen Region Kostanay in Auftrag gegeben wurde, passieren im April 2020 die Guozigou-Brücke in der nordwestchinesischen autonomen Region Xinjiang Uygur.
Chinas Wiederaufnahme der Produktion treibt die BRI-Zusammenarbeit mit Kasachstan voran. Lastwagen, die Windturbinenblätter für einen Windpark transportieren, der von der chinesischen Firma Universal Energy in der kasachischen Region Kostanay in Auftrag gegeben wurde, passieren im April 2020 die Guozigou-Brücke in Xinjiang Uygur., Foto: IMAGO / Xinhua

Immer wieder schätzen Expert*innen vor Ort die demografischen, ökonomischen und gesellschaftspolitischen Folgen der in den vergangenen drei Jahrzehnten gewachsenen chinesischen Minderheit in Kasachstan unterschiedlich ein. Auch die staatliche Einwanderungspolitik ist regelmäßig Gegenstand hitziger Debatten. Offiziell wird der Zuzug aus China zwar begrüßt, doch die Vorbehalte nehmen zu. Sinophobie ist in Teilen der Bevölkerung weit verbreitet. Damit verbunden sind Befürchtungen, dass sich chinesische Immigrant*innen durch Heirat ein Aufenthaltsrecht sichern könnten und das Land in eine finanzielle Abhängigkeit vom ökonomisch mächtigen Nachbarstaat geraten könnte, der zudem womöglich territoriale Ansprüche geltend macht.

Auf Regierungsebene werden tragfähige bilaterale Beziehungen angestrebt, da China ein wichtiger Exportmarkt für Energieträger ist und viel ausländisches Kapital in die kasachische Wirtschaft investiert – insbesondere im Rahmen der Neuen Seidenstraße, der sogenannten Belt and Road Initiative (BRI). Präsident Tokajew betonte unlängst auf dem Internationalen Wirtschaftsforum St. Petersburg, dass die chinesische Initiative aufgrund der COVID-19-Pandemie und der Handelskriege mit den USA zwar ins Stocken geraten sei, nun jedoch die Gelegenheit bestehe, sie unter günstigeren Bedingungen für die Vertragsstaaten (insbesondere die Republik Kasachstan) wiederzubeleben

Chinesische Investitionen, die – auch im Rahmen der BRI – nach Zentralasien und Kasachstan fließen, gehen in der Regel mit der Errichtung chinesischer Produktionsanlagen, dem Einsatz chinesischer Subunternehmer*innen und chinesischer Arbeitskräfte einher. Wie in anderen Weltregionen folgen auch in Zentralasien und Kasachstan der Ansiedlung chinesischer Großunternehmen kleinere Unternehmen und Migrant*innen.

Leyla Muzaparova promovierte in Wirtschaftswissenschaften und arbeitet als Projektmanagerin im Zentralasienbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Almaty.

Swetlana Koshirowa ist promovierte Politikwissenschaftlerin, Ko-Direktorin des Gemeinsamen Zentrums für China- und Zentralasienstudien an der Fudan-Universität in China, des Internationalen Forschungsverbundes «Astana» in Kasachstan sowie Leiterin des Zentrums für China- und Asienstudien.

Der wachsende chinesische Einfluss schürt in der kasachischen Gesellschaft Ängste vor dem östlichen Nachbarland – Ängste, die sich inzwischen beinahe als «Volkskrankheit» bezeichnen ließen. Offiziellen Statistiken zufolge handelt es sich objektiv um keine Bedrohung: Nach Angaben des kasachischen Innenministeriums sind offiziell 3.651 Staatsangehörige der Volksrepublik China im kasachischen Staatsgebiet beschäftigt (Stand: 1. Juni 2022). Wahrscheinlich liegt die Dunkelziffer nur unwesentlich höher. Auch eine massenhafte Einwanderung aus dem grenznahen Xinjiang, wo der Mindestlohn etwa 200 Euro im Monat beträgt, während in Kasachstan das Monatsgehalt bei rund 120 Euro liegt, scheint unwahrscheinlich. Laut Temur Umarov, Fellow des Moskauer Auslandsbüros des Carnegie Endowment for International Peace, entsteht durch den Kontrast zwischen den dicht besiedelten chinesischen Städten und den unbewohnten Weiten Kasachstans der Eindruck, dass die Chines*innen mehr Land beanspruchen wollten.

Aufgrund der Besonderheiten der Migrationsbewegungen von China nach Kasachstan wirkt die Vorstellung einer massenhaften Einwanderung äußerst wirklichkeitsfremd. Im Wesentlichen handelt es sich bei den Migrant*innen um zwei Gruppen: ethnische Kasach*innen (sogenannte Oralmany oder Kandas) und Arbeits- und Wirtschaftsmigrant*innen (meist ethnische Chines*innen).

Die erste Gruppe – die kasachische Diaspora in China – wandert meist im Zuge der Rückkehrpolitik ein, die Kasachstan seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1991 verfolgt. Diese Diaspora ist das Resultat jahrhundertealter Migrationsbewegungen in den Grenzgebieten der heutigen Volksrepublik (hauptsächlich im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang) und umfasst derzeit rund 1,5 Millionen Menschen, was rund sechs Prozent der Bevölkerung in dieser Region entspricht. Diese Zahl ist seit 30 Jahren leicht rückläufig: Zwischen 1991 und 2021 sind bereits rund 235.000 ethnische Kasach*innen aus China nach Kasachstan übergesiedelt.

Die zweite Gruppe der Arbeits- und Wirtschaftsmigration ist ethnisch diverser. Die Arbeitsmigration ist hauptsächlich von Han-Chines*innen geprägt, während an der Wirtschaftsmigration neben Han-Chines*innen auch Uigur*innen, Kasach*innen und Dungan*innen beteiligt sind.[1] Die Zahl der chinesischen Arbeitsmigrant*innen in Kasachstan schwankt von Jahr zu Jahr und betrug 2015 rund 14.000.

Diese beiden Migrationsphänomene unterscheiden sich nicht nur in ihrem Ausmaß, sondern auch in ihrer staatlichen Regulierung. So unterliegt etwa die Rückkehr ethnischer Kasach*innen in ihre historische Heimat keinen Beschränkungen und wird vonseiten des Staates durch umfangreiche Unterstützungsmaßnahmen gefördert. Rückkehrer*innen erhalten etwa Grundstücke, Unterstützung bei der Aufnahme einer Beschäftigung, Leistungen im Bildungs- und Gesundheitswesen, kostenlose Anpassungs- und Integrationsleistungen sowie finanzielle Zuwendungen. Dagegen reguliert der Staat den Umfang der Arbeitsmigration durch jährlich festzulegende Quoten für ausländische Arbeitskräfte. So soll der Binnenarbeitsmarkt geschützt werden.[2] Die meisten ausländischen Arbeitskräfte in Kasachstan kommen zwar aus China (4.068 Personen im Jahr 2021), aber der Anteil chinesischer Arbeitskräfte an der Gesamtbeschäftigung ist mit 0,1 Prozent äußerst gering und hat keine nennenswerten Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.

Arbeitsmigration aus China und die BRI

Mit dem Baubeginn groß angelegter Infrastrukturprojekte im Jahr 2010 wurde China zu einem der wichtigsten Herkunftsländer für ausländische Arbeitskräfte in Kasachstan. Zu diesen Projekten zählten unter anderem die Autobahn «Westeuropa - Westchina» und die Gaspipeline Beineu-Bozoy-Shymkent. Insgesamt trug die Umsetzung der BRI in Kasachstan zu einem Anstieg chinesischer Direktinvestitionen in den Bau und die Modernisierung der wichtigsten Industrieunternehmen des Landes[3] bei und kurbelte den bilateralen Handelsumsatz an.

Arbeitsmigrant*innen aus China waren in den 2010er Jahren in chinesischen Unternehmen oder Joint Ventures beschäftigt, montierten im Schichtdienst an entlegenen Standorten Gas- und Ölpipelines und arbeiteten darüber hinaus in spezifisch chinesischen Geschäftsbereichen – etwa chinesischen Restaurants und Gesundheitszentren. Ihre Dienste nahmen dort vornehmlich Chines*innen in Anspruch.

Die innenpolitische Situation in China hat Expert*innen zufolge zwischen 2010 und 2015 zum Anstieg der Arbeitsmigration beigetragen[4]: Der Staat suchte nach Anlagemöglichkeiten für die immer rasanter wachsende chinesische Wirtschaft. Da sich Auftragsarbeit für Chines*innen nicht mehr lohnte, traten große chinesische Unternehmen nun als Co-Investoren auf und stellten nicht nur Arbeitskräfte zur Verfügung, sondern auch ihr Eigenkapital und eigene Darlehen von chinesischen Banken. Chinesische Unternehmen, die außerhalb Chinas tätig sind, können dabei nach wie vor auf staatliche Unterstützung, subventionierte Kredite und Steuervergünstigungen zurückgreifen.

Zwischen 2015 und 2021 wurden in Kasachstan 17 chinesische Projekte im Wert von über 4 Milliarden US-Dollar auf den Weg gebracht, der Großteil davon im Zusammenhang mit der BRI. In diesem Zeitraum wurden immer mehr chinesische Migrant*innen Führungs- und Fachkräfte im Öl- und Gassektor. Das ist eine Besonderheit der chinesisch-kasachischen Migration. Während die Anwerbung chinesischer Arbeitsmigrant*innen im fernen Osten Russlands den vielen vakanten und unattraktiven Arbeitsplätzen geschuldet ist, sind chinesische Migrant*innen in Kasachstan vorrangig in chinesischen Projekten beschäftigt.

Eigenheiten der chinesischen Migration in Kasachstan

Die überwiegende Mehrheit der Chines*innen in Kasachstan arbeiten auf Vertragsbasis in großen chinesischen Staats- und Privatunternehmen, in kasachisch-chinesischen Joint Ventures[5] oder aber als Kleinunternehmer*innen.

Das Milieu der chinesischen Arbeitsmigrant*innen in Kasachstan verändert sich im Laufe der Zeit, und die sozioprofessionelle Zusammensetzung der chinesischen Migrant*innen, die in den vergangenen Jahren nach Kasachstan gekommen sind, ist im Vergleich zu früher vielfältiger geworden: Chines*innen sind nicht nur in den traditionell chinesischen Sektoren vertreten (Handel, haushaltsnahe Dienstleistungen, Gastronomie, medizinische Dienstleistungen, Hotelgewerbe), sondern auch in Sektoren wie Industrie, Bauwesen, Baustoffproduktion, Nahrungsmittelherstellung und Glücksspiel.

Da China seine Wirtschaft im Ausland aktiv fördert, steigt auch das Bildungsniveau der chinesischen Migrant*innen. Die Zahl der qualifizierten Arbeitskräfte nimmt zu, ihre Kompetenzen und Profile ändern sich. Momentan arbeitet die Mehrheit von ihnen in einem festen Beschäftigungsverhältnis oder betreibt ein eigenes Unternehmen. Existenzgründer*innen aus China erwerben Immobilien in Kasachstan, gründen eigene Firmen vor Ort und zeigen ein hohes Interesse an der Anmietung von Gebäuden und Räumlichkeiten.

Chines*innen in Kasachstan verbleiben in der Regel in einem chinesisch geprägten Umfeld und wollen ihre nationale Identität bewahren. So verhält es sich auch bei chinesischen Migrant*innen in anderen Teilen der Welt. Selbst in kleinen chinesischen Communities in Kasachstan entstehen auf diese Weise geschlossene Wirtschaftskreisläufe. Chines*innen integrieren sich kaum in das lokale Umfeld; Eheschließungen zwischen chinesischen Migrant*innen und der einheimischen Bevölkerung sind eine Seltenheit und zielen in der Regel nicht darauf ab, sich in Kasachstan niederzulassen, sondern auf eine unternehmerische Tätigkeit, auf Vermögensbildung, auf die Aneignung und den Erhalt von Marktanteilen oder auf eine geplante Ausreise nach Russland oder Europa.

Traditionell empfinden Chines*innen auch im Ausland eine starke Bindung zu ihrer Herkunftsgegend, in Kasachstan entsteht darüber hinaus eine Gemeinschaft zwischen Menschen aus unterschiedlichen Regionen. Zu den wichtigsten Herkunftsregionen der chinesischen Migrant*innen zählen heute Ürümqi, Beijing, Shanghai, Fujian, Guangdong, Jiangsu, Anhui, Guangzhou und Dalian

Geflüchtete aus Xinjiang

Eine Sonderstellung hinsichtlich der Migration aus China nehmen Geflüchtete aus Xinjiang ein – meist handelt es sich um ethnische Uigur*innen, seltener um Kasach*innen, die in der Volksrepublik China einer totalen elektronischen Überwachung unterworfen oder in sogenannten Umerziehungslagern für Muslim*innen inhaftiert sind.

Die Unterdrückung der ethnischen Kasach*innen und anderer zentralasiatischer Volksgruppen in China ist zweifellos Gegenstand intensiver Diskussionen in Kasachstan. Kasach*innen, die in Xinjiang leben, zählen fast alle auch Oralmany (die nach Kasachstan umgesiedelten ethnischen Kasach*innen) zu ihrer weiteren Verwandtschaft und berichten von Gewalt gegenüber dieser Gruppe. Damit prägen sie die öffentliche Meinung des Landes. Die Lage im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang ist äußerst problematisch und die Behörden belassen es laut Zeug*innenaussagen nicht bei den neuesten Technologien zur digitalen Kontrolle: Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung schlägt häufig in Polizeiwillkür um.

Allerdings gelten die Existenz solcher Lager und die sogenannte «Umerziehung» (in Form von Gehirnwäsche durch Propagandafilme und harter körperlicher Arbeit) trotz einer Reihe von Augenzeugenberichten noch nicht als endgültig bewiesen. Ohnehin schweigen die Menschen nach ihrer Rückkehr lieber darüber, was ihnen widerfahren ist, was zusätzlich eine Atmosphäre der Geheimnistuerei und Unruhe schafft.

Die offizielle Position Kasachstans zur Frage der Umerziehungslager in Xinjiang legte Präsident Kassym-Schomart Tokajew in einem Interview mit der Deutschen Welle dar: «In Xinjiang leben Bürger*innen der Volksrepublik China […] Aufgrund internationaler Abkommen mischen sich Kasachstan und China nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Länder ein […] Was die Berichte von Menschenrechtsorganisationen über Kasach*innen betrifft, die angeblich in diesen Umerziehungslagern festgehalten werden, so müssen diese Fakten geprüft werden […] Ich denke, dass diese Berichte in ihrer Gesamtheit nicht der Wahrheit entsprechen. Möglicherweise gibt es Einzelfälle, in denen Kasach*innen in diese Umerziehungsschulen geraten. Doch die allgemeine Darstellung einiger internationaler Institutionen oder Organisationen, wonach so gut wie alle Kasach*innen in solche Lager getrieben werden, entspricht ganz sicher nicht der Wirklichkeit.»

Zweifellos bleibt Beijings Politik in Xinjiang nicht ohne Auswirkungen auf die Wahrnehmung des modernen Chinas in Kasachstan. Doch obwohl Regierungsvertreter*innen die Unzufriedenheit ihrer Bürger*innen teilen, sind sich alle der Tatsache bewusst, dass Kritik an der Innenpolitik des mächtigen Nachbarn große Probleme nach sich ziehen kann.

Die Geflüchteten aus Xinjiang (meist ethnische Uigur*innen und Kasach*innen) beantragen zwar Asyl in Kasachstan, sie bleiben jedoch nicht lange im Land, sondern ziehen weiter nach Europa, in die Türkei oder in die USA, wo sie sich sicherer fühlen. Denn Kasachstan hat bereits nach China ausgeliefert.

Antichinesische Proteste in Kasachstan

In Kasachstan sind bereits zweimal antichinesische Massenproteste ausgebrochen. 2016 fanden sogenannte «Landesproteste» mit Tausenden Demonstrierenden statt, die auf der Befürchtung beruhten, dass sich Chines*innen kasachisches Land aneignen könnten. Die kasachische Regierung hatte geplant, das Bodenrecht zu reformieren und die Verpachtung von Grund und Boden an Ausländer*innen zu vereinfachen. Landesweite Kundgebungen mit Tausenden Teilnehmenden zwangen den damaligen Präsidenten Nasarbajew dazu, ein Moratorium über die Änderungen des Bodenrechts bis ins Jahr 2021 zu verhängen. Tokajew versprach zu Beginn seiner Amtszeit, dass er Ausländer*innen kein Land geben werde. Im Mai 2021 verabschiedete das Parlament dann auch ein Gesetz, das ein vollständiges Verbot des Verpachtens und des Verkaufs von landwirtschaftlichen Nutzflächen an Ausländer*innen vorsieht.

Im September 2019 ergriff eine zweite Welle von antichinesischen Protesten mehrere kasachische Städte. Ausgehend von der Ölstadt Schangaösen im Südwesten des Landes kam es zwei Tage später zu Solidaritätsaktionen in Aktobe, Aktau, Almaty, Karanga, Schymkent und Nur-Sultan.

Als offizieller Auslöser der Proteste gilt eine WhatsApp-Nachricht, die sich auf fünf Jahre alte Berichte über das Rahmenabkommen zwischen Kasachstan und China über 55 gemeinsame Projekte (einschließlich BRI-Projekten) stützte, welches 2015 unterzeichnet worden war. Die eigentliche Ursache war jedoch die Furcht vor dem wachsenden Einfluss Chinas aufgrund einer zunehmenden Verschuldung und der größeren Präsenz chinesischer Unternehmen und Waren. Allerdings kamen zu den anfänglichen Forderungen der Demonstrierenden, den Plan zur «Verlagerung von 55 Fabriken aus China nach Kasachstan» rückgängig zu machen, nach und nach weitere Vorwürfe gegen Beijing hinzu: «Chinesische Migrant*innen nehmen den Einheimischen die Arbeitsplätze weg, ihre Unternehmen verschmutzen die Umwelt, die Unternehmen kaufen massenhaft Land auf, die chinesischen Machthaber*innen verfolgen Kasach*innen in Xinjiang, und die kasachische Führung drückt gegenüber alledem im Gegenzug für Investitionen und Bestechungsgelder beide Augen zu

Die Geschichte mit den «55 Fabriken» begann im Jahr 2014 und wurde zunächst als «Verlagerung» von Produktionskapazitäten des Nichtrohstoffsektors von China nach Kasachstan dargestellt. Einige Jahre später wurde aus den Transferplänen ein «Programm zur industriellen Entwicklung im Rahmen der kasachisch-chinesischen Zusammenarbeit». Dem kasachischen Außenministeriums zufolge liefert China lediglich neue Technologien, Know-how und Kapital, und insgesamt würden die Projekte 20.000 neue Arbeitsplätze für die kasachische Bevölkerung schaffen. Faktisch wurde bisher nur ein Viertel der 55 Projekte realisiert (15 Projekte mit einem Auftragsvolumen von 4 Milliarden US-Dollar), ein Fünftel befindet sich in der Implementierungsphase, und mehr als die Hälfte steckt noch in der Planungsphase. Gleichzeitig beinhalten die bisher durchgeführten Projekte auch den bloßen Erwerb von Anteilen kasachischer Unternehmen durch Chines*innen, was nicht unbedingt neue Arbeitsplätze schafft.

Wie die antichinesischen Proteste von 2016 und 2019 gezeigt haben, lassen die sinophoben Tendenzen innerhalb der kasachischen Gesellschaft mitnichten nach, und es ist für innenpolitische Kräfte ein Leichtes, diese zu eigenen Zwecken zu mobilisieren.

Die lokale Elite ist sich darüber im Klaren, dass das kasachische Wirtschaftswachstum von den Beziehungen zu China abhängt, und hält die Zusammenarbeit für erforderlich. Gleichzeitig dürfte es für die kasachischen Machthaber*innen angesichts der wachsenden Abhängigkeit von chinesischen Investitionen schwieriger werden, die antichinesischen Ressentiments im Land abzubauen. Werden die Ursachen der Sinophobie nicht öffentlich anerkannt, verschärfen sich die Probleme in absehbarer Zeit weiter und die Gefühlslage der Bevölkerung wird im Kampf um innerpolitischen Einfluss zunehmend zum Spielball.


Übersetzung von Johann Zajaczkowski für Gegensatz Translation Collective.


[1] Eine muslimisch-chinesische Minderheit, die vorwiegend in den zentralasiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion lebt, Anm. d. Übers.

[2] Eine Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte in Kasachstan ist ausschließlich im Rahmen einer von der Regierung jährlich festgelegten Quote erlaubt, die die Zahl der ausländischen Arbeitnehmenden festlegt. Die Quote wird als Prozentsatz der Erwerbsbevölkerung oder in absoluten Zahlen für prioritäre Projekte und für Länder, aus denen ausländische Arbeitnehmende kommen, ausgedrückt. 2022 wurde die Quote auf 0,31 Prozent der landesweiten Erwerbsbevölkerung festgelegt, was 28.300 Personen entspricht. Siehe www.inform.kz/ru/v-kazahstane-ustanovili-kvotu-na-privlechenie-inostrannyh-rabotnikov-v-2022-godu_a3892957.

[3] Dazu zählen die Ölraffinerien in Atyrau und Shymkent, die Gasverarbeitungsanlage im Gebiet Aktobe, die Aluminium-Elektrolyseanlage in Pawlodar, das Kunststoffwerk in Aktau und das Wasserkraftwerk in Moynak.

[4] Nach Angaben des kasachischen Migrationsdienstes wurden 2015 mehr als 100.000 chinesische Staatsbürger*innen in Kasachstan registriert.

[5] Offiziellen Angaben zufolge waren im Jahr 2020 insgesamt 2.674 chinesische Unternehmen und 822 kasachisch-chinesische Joint Ventures in Kasachstan tätig. Nach Angaben des kasachischen Innenministeriums waren im Jahr 2021 offiziell knapp über 3.600 chinesische Staatsangehörige in Kasachstan beschäftigt.