Nachricht | Geschichte Politik, Marxismus und Universitätsreform

Die Philosophin Margherita von Brentano (1922 – 1995)

Information

Autorin

Susan Neiman,

Schwarz-weiß Porträt von Margherita von Brentano mit Brille, Kurzhaarschnitt und Rollkragenpullover.
Margherita von Brentano Foto: Freie Universität Berlin

Als sie vor einhundert Jahren geboren wurde, hätte kaum jemand voraussehen können, was aus Margherita von Brentano geworden ist. Sie war Tochter einer alten Adelsfamilie, vor dem Krieg war ihr Vater Botschaftsrat im Vatikan, nach dem Krieg wurde er deutscher Botschafter in Italien. Zu einer Zeit Ende der 1940er-Jahre, als noch die wenigsten Frauen studierten, promovierte Margherita mit einer Arbeit über Aristoteles bei Heidegger. Sie wurde dann zu einer der entschiedensten Antifaschist*innen der ersten Stunde der Bundesrepublik. Als Redakteurin beim Südwestrundfunk (SWR) schrieb sie die ersten Sendungen über das, was man noch nicht den Holocaust nannte; nach dem sie vom SWR zur FU Berlin gewechselt war, veranstaltete sie das erste wissenschaftliche Seminar über Antisemitismus und Gesellschaft. Heute nur schwer vorstellbar, dass das irgendjemand provozieren könnte. In den 1950er- und 1960er-Jahren aber erforderte es Mut, solche Themen überhaupt anzusprechen. Zu einer Zeit, in der bundesdeutsche Historiker*innen alles außer Völkermorde und Vernichtungskrieg behandeln wollten, beschloss Margherita, dass die Philosophie die Aufgabe der Vergangenheitsaufarbeitung übernehmen musste. Für sie war die Philosophie immer auch – wenn auch nicht nur – politisch; für den akademischen Elfenbeinturm hatte sie nichts übrig.

Susan Neiman, geb. 1955 in Atlanta/USA, ist Philosophin und seit 2000 Leiterin des Einstein Forumin Potsdam.

Professorin wurde Margherita an der FU in ihren turbulentesten Jahren. Neben dem Engagement gegen Atomrüstung in den späten 1950er-Jahren gehörte sie zu den Gründern der Zeitschrift Das Argument. Das Manifest dafür hatte sie geschrieben. An der Seite der Studierenden engagierte sie sich für Reformen, stieg 1970 auch zur ersten Vizepräsidentin in der Geschichte der Universität auf, trat von diesem Posten aber zwei Jahre später schon zurück, als der Berliner Senat sich weigerte, den trotzkistischen Wirtschaftswissenschaftler Ernest Mandel auf einen Lehrstuhlzu berufen. Obwohl sie als eine der ersten Professorinnen immer lautstark für die Gleichberechtigung von Frauen aufstand, interessierte sie sich weder für feministische Theorie noch für Gender-Studien; an eine weibliche Vernunft glaubte sie nicht. Ob sie sich gefreut hätte, wenn ein Zentrum für Geschlechterforschung und feministische Wissenschaft in ihrem Namen gegründet wird?

Seminare über den Terrorismus hielt sie genauso gern wie Seminare über Kants Metaphysik; Aktuelles wie Klassisches, Praxis und Theorie waren ihr gleich wichtig. Wer das Glück hatte, ihr zuzuhören, durfte erfahren, was ein wirklich klar und brillant geführter philosophischer Diskurs sein kann. Leider haben politisches Engagement und umfangreiche Lehrtätigkeit ihr so viel Zeit und von ihrer Kraft genommen, dass Margherita nicht mehr dazu kam, bedeutende Bücher zu verfassen. Was sie schrieb, ist nur verstreut zu haben. Diesen Mangel zu kompensieren, versuchten meine Assistentin Iris Nachum und ich, mit einem Sammelbandvon kleineren Texten aus ihrem Nachlass sowie Interviews mit Menschen, die Margherita kannten.

Das unten angehängte, 1991 geführte Interviewlässt ihren Geist und ihre Geistesgegenwärtigkeit erstrahlen. Im Gegensatz zu den meisten ihrer Kolleg*innen ließ sie sich von der «Wende» nicht verwirren: das Scheitern der DDR war ihr kein Grund, die Hoffnung auf einen reformierten Sozialismus aufzugeben. Ihr jüdischer Mann, Jakob Taubes, sagte mir einmal: «Margherita ist der einzige Deutsche, dem ich vertraue». Der frühere Präsident der Humboldt-Universität, Heinrich Fink, bezeichnete sie als die einzige Westdeutsche, die zu ihm stand, als er 1991 auf skandalöse Weise fristlos entlassen wurde. Beide Einschätzungen verweisen auf Margheritas absolute Unbestechlichkeit wie auch auf eine Frechheit, die allem Autoritären widerspricht. Gleichzeitig blieb sie so bodenständig wie warmherzig, allein schon zu bemerken, wenn einem Studierenden die finanziellen Mittel für ein Buch oder eine Mahlzeit fehlten.

Inspiriert hat sie viele. Margherita von Brentano habe ich es zu verdanken, bei der Philosophie geblieben zu sein. Denn als ich sie 1982 kennenlernte, kam ich gerade aus dem Elfenbeinturm Harvard ins geteilte, aufgewühlte Berlin – was mich dazu bewegte, über einen weniger weltfremden Beruf nachzudenken. Margherita überzeugte mich mit den Worten: «Wenn Menschen wie Sie aufgeben, bleiben nur noch Pedanten bei der Philosophie». Ich schmiss die Doktorarbeit nicht hin…. Nicht nur deshalb bin ich ihr aus tiefstem Herzen dankbar. Wie gern würde ich ihr heute zum 100. Geburtstag gratulieren! Leider weiß man erst, was man von den Lehrern wissen will, nachdem sie nicht mehr zu hören sind.

Das erwähnte Interview mit Margherita von Brentano vom Sommer 1991 findet sich im angehängten PDF dokumentiert.

Literatur

Iris Nachum/Susan Neiman (Hrsg.): Das Politische und das Persönliche, Wallstein Verlag, Göttingen 2010.

Gabriele Althaus und Irmingard Staeuble (Hrsg.): Streitbare Philosophie. Margherita von Brentano zum 65. Geburtstag, Festschrift, Metropol Verlag, Berlin 1988.

Peter McLaughlin (Hrsg.): Akademische Schriften. Wallstein Verlag, Göttingen 2010.

Wolfgang Fritz Haug: Wissenschaft und Parteilichkeit bei Margherita von Brentano. In: Das Argument. Band 287, Nr. 3, 2010, S. 376. (Artikel als PDF).

Wolfgang Fritz Haug: Erinnerung an Margherita von Brentano [Zuerst erschienen unter dem Titel «An Margherita von Brentano denkend» in: Ausgezeichnet. Der Margherita-von-Brentano-Preis der Freien Universität Berlin, 2002; eine frühere Fassung erschien unter dem Titel «Zum Tode von Margherita von Brentano» in: Das Argument 209, 37. Jg., 1995, H. 2/3, 174f. (Artikel als PDF).]