Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Brasilien / Paraguay - Demokratischer Sozialismus Kriegt Lula eine zweite Chance?

Die Präsidentschaftswahlen in Brasilien werden darüber entscheiden, ob das Land den Weg der Reaktion fortsetzt oder sich der neuen Rosa Welle anschließt.

Information

Anhänger*innen des brasilianischen Präsidentschaftskandidaten Lula bei einer Kundgebung am 1. Mai in São Paolo, Brasilien. Foto: IMAGO/Isabella Finholdt

Die Wahl, vor der brasilianische Wähler*innen am 2. Oktober stehen, könnte kaum drastischer sein: Sie stimmen entweder für vier weitere Jahre unter Jair Bolsonaro – dem waffenvernarrten, gottesfürchtigen Rechtspopulisten, während dessen Amtszeit Hunderttausende der COVID-19-Pandemie zum Opfer fielen und Rekordwerte in der Zerstörung des Amazonas-Regenwaldes erzielt wurden – oder für die Rückkehr von Luiz Inácio «Lula» da Silva, der Ikone der Arbeiterpartei PT, der Brasilien von 2003 bis 2010 regierte.

Sabrina Fernandes ist eine ökosozialistische Aktivistin aus Brasilien und Moderatorin des beliebten marxistischen YouTube-Kanals Tese Onze. Sie ist derzeit auch Post-Doc-Stipendiatin am International Research Group on Authoritarianism and Counter-Strategies der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Lula konnte während seiner beiden Amtszeiten beträchtliche Verbesserungen im Lebensstandard der brasilianischen Arbeiterklasse erreichen und eine Reihe progressiver Reformen durchsetzen. Dennoch führten Korruptionsvorwürfe und ein juristischer Putsch gegen seine Amtsnachfolgerin Dilma Rousseff zur Entwicklung einer reaktionären Dynamik, die 2018 schließlich Bolsonaro an die Macht brachte. Seit seinem Amtsantritt hat Bolsonaro eifrig Privatisierungen vorangetrieben, Lulas Sozialhilfeprogramme zurückgebaut und eine toxische, chauvinistische und ressentimentgeladene Stimmung befeuert. Lula, der nun sein politisches Comeback wagt, nachdem er vor vier Jahren wegen konstruierter Korruptionsvorwürfe inhaftiert worden war, zielt in seiner Wahlkampagne darauf ab, die «totalitaristische Gefahr abzuwehren» und «Brasilien wiederaufzubauen und zu transformieren». Es steht also, gelinde gesagt, viel auf dem Spiel.

Mit etwas mehr als einem Monat Vorlauf zur Wahl sprach die brasilianische Ökosozialistin Sabrina Fernandes mit Loren Balhorn von der Rosa-Luxemburg-Stiftung über Bolsonaros finstere Erfolgsbilanz, seine Opposition, und darüber, was die Linke von der Erfahrung Brasiliens über die Organisation starker Bewegungen und die Übernahme der Staatsmacht lernen kann.

Die Kampagne zur Wahl des brasilianischen Präsidenten begann offiziell vor einigen Wochen. Ein ziemlicher Showdown ist zu erwarten, in dem der rechte Präsident Jair Bolsonaro, der sich zur Wiederwahl stellt, und Lula, Kandidat der Arbeiterpartei PT und früherer Präsident, aufeinandertreffen. Wie hat sich Brasilien in den vier Jahren unter Bolsonaro verändert?

Wenn man sich vergangene brasilianische Präsidenten anschaut, stößt man auf Juscelino Kubitschek, der versprach, das Land innerhalb von fünf Jahren um 50 Jahre weiterzubringen. Mit Bolsonaro hat man jetzt den Eindruck, wir haben uns in vier Jahren um 40 Jahre zurückentwickelt. Ohne dass er das je versprochen hätte, hat er genau das erreicht.

Diese Entwicklung geht nicht allein auf seine Rechnung, sondern ist auch der Tatsache geschuldet, dass er nach dem Putsch gegen Dilma Rousseff ins Amt kam. Der frühere Interimspräsident Michel Temer hatte bereits Sparmaßnahmen und den Rückbau der Reformen von Arbeiterrechten und Pensionsansprüchen angestoßen. Bolsonaro kam dann ins Amt mit der Absicht, diese Entwicklungen noch zu verstärken, etwa durch die Privatisierung staatlicher Unternehmen. Sein Wirtschaftsminister Paulo Guedes wird von Bolsonaros Anhängern generell als erfolgreich angesehen, auch wenn eigentlich noch weitere Privatisierungen vorgesehen waren, zum Beispiel von Correios, dem brasilianischen Postwesen, oder von Petrobas, der staatlichen brasilianischen Ölfirma.

Beim Ausbruch der Pandemie zeigte Bolsonaro schließlich, wofür er stand: dafür zu sorgen, dass der Staat sich nicht um seine Bevölkerung kümmert. Das brasilianische Gesundheitssystem ist in einen öffentlichen und einen privaten Sektor gespalten, und die Pandemie wäre eben der Zeitpunkt gewesen, um die Bedeutsamkeit der öffentlichen Gesundheitsversorgung zu demonstrieren. Aber wegen der Sparmaßnahmen, die Temer bereits durchgesetzt hatte und die unter Bolsonaro intensiviert wurden, konnte die Regierung behaupten, dass kein Geld dafür da sei. Die Sparpolitik hatte also bereits vor Bolsonaros Wahlsieg begonnen, und da er behauptete, demokratisch gewählt worden zu sein, erhielt er ein starkes Mandat, um sie weiter verschärfen zu können.

Bolsonaro «behauptete», demokratisch gewählt worden zu sein? Er hatte die Wahl doch ganz klar gewonnen, oder?

Das hatte er, aber man muss hier betonen, dass bei den Wahlen 2018 viel Korruption im Spiel war und Fake News in einem bislang ungekannten Ausmaß verbreitet wurden. Bolsonaro bediente sich demnach der Strategien Steve Bannons, um die Wählerschaft zu manipulieren. In diesem Sinne liefen die Mechanismen der Wahl zwar rechtmäßig ab – die Leute stimmten wirklich für Bolsonaro –, aber die Wahlkampagne als solche stellte einen Angriff auf demokratische Prinzipien dar.

Würdest Du sagen, dass Bolsonaro eine kohärente ideologische Agenda verfolgt oder eher ein rechter Opportunist ist, der in erster Linie die Interessen des brasilianischen Kapitals vertritt?

Meiner Ansicht nach könnte man Bolsonaro am ehesten als liberalen Konservativen beschreiben. Das entbehrt nicht einer gewissen Komik, denn in den letzten vier Jahren gab es Auseinandersetzungen zwischen brasilianischen Konservativen und Liberalen darüber, für oder gegen Bolsonaro zu sein. Die einen sagten: «Er ist keiner von uns, sondern ein Konservativer», worauf die andere Seite entgegnete: «Auf keinen Fall, er ist nicht konservativ genug».

Ob wir ihn als Faschisten, Proto-Faschisten, Neo-Faschisten oder Ähnliches bezeichnen sollten, scheint eher eine akademische Frage zu sein. Ich würde sagen, dass Bolsonaro sicherlich eine faschistische Vorstellungswelt bedient – er hat eine Unterstützungsbasis unter Neonazis und die Zahl neonazistischer Gruppen in Brasilien ist innerhalb der letzten Jahre angestiegen. Klassische Faschisten sind Bolsonaro sehr zugetan, wogegen er sich keinesfalls verwehrt hat. Einige Elemente seiner ideologischen Plattform ähneln einer klassisch faschistischen, wie etwa seine religiöse, christlich-evangelikale Rhetorik in der Ansprache der Massen.

Gleichzeitig ist er kein großer Protektionist. Seine ökonomische Agenda besteht letztlich darin, imperialistischen Mächten zuzuspielen. In dieser Hinsicht war auch seine Verbindung zu Trump wichtig: Während Trumps Amtszeit sah Bolsonaro die USA als Brasiliens wichtigsten Verbündeten in der Region. Es war das Ende der Pink Tide («rosa Welle»): Viele rechte Regierungen in Lateinamerika kamen an die Macht, so wie in Argentinien und Chile, dann folgte der Putsch in Bolivien, und Bolsonaro sah sich als Teil dieser Entwicklung.

Was die internationale kapitalistische Klasse betrifft, sicherte Bolsonaro den Profit ausländischer Aktionäre und den Zugriff ausländischer Investoren auf brasilianischen Grund und Boden. Aber die traditionelle brasilianische Elite freute sich wahrscheinlich meisten, besonders die Agrarindustrie. Auch wenn Bolsonaro kein traditioneller Protektionist ist, hat er die Interessen der brasilianischen Kapitalisten konsequent vertreten.

Wie erging es der arbeitenden Bevölkerung unter seiner Präsidentschaft? Wurden die sozialen Errungenschaften der PT-Regierung rückgängig gemacht?

Zu den größten Errungenschaften von Lulas erster Amtszeit gehörten seine Maßnahmen gegen den Hunger. Historisch hat Brasilien ein großes Problem mit Ernährungsunsicherheit und für Lula stellte ihre Beseitigung eine Priorität dar. Er führte das Programm Fome Zero – «Null Hunger» – ein, das Essensprogramme an Schulen, den Ausbau nationaler Vorräte zur Regulierung der Lebensmittelpreise, Kredite und Bargeldtransfers beinhaltete. Lula ist äußerst stolz auf diese Initiativen und Bolsa Família ist wahrscheinlich das erfolgreichste staatliche Transferprogramm weltweit, sodass selbst die Weltbank es als Modell verwendet. Es war vielleicht nicht radikal, aber dennoch überaus wichtig.

Unter Bolsonaro haben wir jetzt wieder einen verschärften Zustand der Ernährungsunsicherheit erreicht. Man kann das den Daten entnehmen, aber es genügt auch, sich einfach umzuschauen: Es gibt viel mehr Menschen, die Mülleimer nach Lebensmitteln durchsuchen oder Knochen hinter Metzgereien aufsammeln, da sie sich kein Fleisch leisten können.

Auch die Ermordung indigener Führungspersönlichkeiten hat zugenommen. Brasilien war schon immer ein gefährlicher Ort für Umwelt- und indigene Aktivist*innen und unter Bolsonaro hat sich diese Lage noch verschlimmert. Hinzu kommt eine generell verschärfte Naturzerstörung: Der Amazonas-Regenwald war früher eine Kohlenstoffsenke, ist aber jetzt aufgrund von Änderungen in der Landnutzung und Abholzung zum Nettoemittent geworden. Bolsonaro ist hauptsächlich für diese Entwicklungen verantwortlich. Auch die Zahlen von Femiziden und geschlechtsspezifischen Gewalttaten sind besorgniserregend hoch.

Aus jeder Perspektive können wir also sehen, dass es der Bevölkerung zunehmend erschwert wird, ihr Leben zu leben. Das meint nicht allein die über 600.000 Menschen, die in der Pandemie ihr Leben verloren haben oder Bolsonaros Verzögerungen in der Beschaffung des Impfstoffes oder seine Weigerung, effiziente Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus zu ergreifen: in vielerlei Hinsicht kommen hier mehrere Faktoren einer Regierung zusammen, die auf Nekropolitik basiert.

Wenn Bolsonaros Politik ein derartiges Desaster war, wie können wir seinen Aufstieg überhaupt nachvollziehen? Wie konnte er eine einst beliebte und erfolgreiche Koalition niederringen? Schließlich steht nicht einmal ein politischer Apparat hinter ihm.

Eine gängige Erklärung verbindet das Aufkommen der Pink Tide mit dem Rohstoffboom zu dieser Zeit. Regierungen wollten damals tatsächlich eine Umverteilung durchsetzen und da die Wirtschaft wuchs, konnten Rekordprofite und Umverteilung nebeneinander bestehen. Das bedeutete, dass Teile der Elite kein großes Problem mit Sozialprogrammen hatten, denn sie gehörten weiterhin zu den Gewinnern. Als dann die Wirtschaftskrise ausbrach, mussten ebenjene Kapitalisten die Spielregeln anpassen, damit ihre Profite erhalten blieben.

Sicherlich ist diese Erklärung teilweise zutreffend, aber ich denke, dass noch mehr dahinter steckt. Um Bolsonaro zu verstehen, müssen wir uns den Konservatismus genauer ansehen und die Rolle fundamentalistischer christlicher Führungspersönlichkeiten, denen die progressiven Maßnahmen der PT missfielen. Zum Beispiel gibt es schon seit Langem Kampagnen der Afro-brasilianischen Bewegung, um Gleichstellungsmaßnahmen durchzusetzen, was unter der PT auch ansatzweise geschah. Dies genügte, um anzuecken und am Selbstverständnis der Mittelklasse zu rütteln.

Wie kann man sich das genau vorstellen?

Die PT strebt einerseits eine Demokratisierung an, hatte aber andererseits auch zum Ziel, das Klassenbewusstsein der Arbeiter*innen zu stärken. Über die Zeit hinweg hat die Partei einige dieser Zielsetzungen aus den Augen verloren, während Teile der Mittelklasse dazu übergingen, sich als getrennt von der Arbeiterklasse zu sehen.

Der Konservatismus und die historisch verankerten Privilegien einiger Teile der brasilianischen Gesellschaft waren dafür auch ausschlaggebend. Einigen missfiel es, dass ihre Reinigungskräfte nun mehr Rechte bekamen und es sich leisten konnten, Reisen zu unternehmen oder in denselben Einkaufszentren wie sie ihre Freizeit zu verbringen. Dies führte zu Unmut in Teilen der Mittelklasse und sogar in Teilen der Arbeiterklasse, was wiederum durch Korruptionsanschuldigungen der Regierung noch weiter verstärkt wurde.

Das klingt stark nach dem klassischen Dilemma sozialdemokratischer Parteien in Westeuropa: Sobald erfolgreiche sozialdemokratische Maßnahmen die Lebensstandards und -aussichten von Arbeiter*innen verbessern, beginnt die Basis in ebenjener Klasse, die sie ursprünglich an die Macht gebracht hatte, zu bröckeln, da mehr und mehr Arbeiter*innen in die Mittelklasse aufsteigen.

Ich glaube, das steht damit in Verbindung, aber wir sprechen hier über ein Land an den Rändern des Kapitalismus, wo sozialer Aufstieg nicht unbedingt bedeutet, dass man sich ein Auto leisten kann, sondern eher, drei Mahlzeiten am Tag zu essen. Der grundlegende Gedanke des sozialen Aufstiegs ist extrem wirkmächtig. Aber wenn ein Projekt, das soziale Aufstiege ermöglicht, nicht mit Verbesserungen für die Arbeiterklasse als solcher verbunden wird, und mehr noch, die Organisation der Arbeiterschaft forciert, dann verliert man die Leute in ideologischer Hinsicht.

Dennoch bleibt die PT die einzige Kraft, die imstande ist, Bolsonaro zu bezwingen. Auch wenn die Umfragewerte etwas zurückgehen, behält Lula einen robusten Vorsprung seit der Verkündung seiner Kandidatur im letzten Mai. Könntest Du näher auf seine Bedeutung für die brasilianische Politik und Gesellschaft im Allgemeinen eingehen?

Lula kann auf verschiedene Weise charakterisiert werden. Eine verbreitete Sichtweise ist zu sagen, dass er Brasiliens bislang bester Präsident war. Trotz aller Widersprüche, Probleme und anderer Dinge, für die wir ihn kritisiert haben, kann man festhalten, dass er tatsächlich der beste Präsident war und ihm das Wohlergehen der Bevölkerung am Herzen lag – das Bewusstsein dafür, dass Menschen aus der Armut befreit werden müssen, sicherzustellen, dass sie zu essen haben und gute Arbeitsplätze. Diese Fragen sind Lulas Prioritäten und ich denke, genau das zeichnet ihn aus.

Er ist zudem ein fähiger Politiker in dem Sinne, dass er Menschen unterschiedlicher Meinungen zu einem Konsens bewegen kann, auch wenn das niemand für möglich gehalten hatte. In Anbetracht der Tatsache, dass die brasilianische Gesellschaft fragmentiert ist – sowohl in Fragen des Bewusstseins als auch in ihrer politischen Organisierung – ist das eine positive Eigenschaft. Es gibt mehr als 30 offizielle Parteien in Brasilien und seine Fähigkeit, mit vielen Politikern ins Gespräch kommen zu können, ist überaus wichtig.

Allerdings führt sein Regierungsstil auch dazu, dass er bereit ist, Dinge zu opfern – er folgt damit der Idee, dass alle gewinnen, sobald jede Seite dazu bereit ist, für die andere Seite etwas aufzugeben. Offensichtlich wird diese Herangehensweise zum Problem, wenn es um die Macht der Arbeiterklasse geht. Man muss anerkennen, dass Lula kein radikaler Linker ist, sondern ein Moderater, der auch der Mitte-rechten und kapitalistischen Klasse oft Zugeständnisse macht.

Wie zeigt sich das in der aktuellen Kampagne? Welche Art von Koalition hat er hinter sich aufgestellt und welche Botschaft vertritt er?

Es war völlig klar, dass Lula nicht mit einem «reinen» linken Ticket gewinnen würde, so wie 2018, als der PT-Kandidat Fernando Haddad mit Manuela d’Ávila als Kandidatin der Kommunistischen Partei Brasiliens antrat. Sie mussten sich für jemanden aus dem Mitte-rechts-Spektrum entscheiden. Das Problem ist meiner Ansicht nach dabei nicht so sehr, dass sie jemanden aus dem Mitte-rechts-Spektrum gewählt haben – das war erwartbar –, sondern dass die Entscheidung auf Geraldo Alckmin fiel. Er war für vier Amtszeiten Gouverneur des Bundesstaates São Paulo und in viel Korruption verwickelt. Seine Partei war einst ein Hauptgegner der PT und beteiligte sich an Schmierenkampagnen gegen die Linke – sie brachten Fake News in Umlauf, bevor diese überhaupt ein großes Thema wurden.

Viele Leute in der brasilianischen Linken sind der Ansicht, dass Alckmin für Lulas Sieg ausschlaggebend ist – diese Meinung kommt nicht allein von Lula oder einer kleinen Gruppe innerhalb der PT, denn ein Teil von Lulas Basis in den sozialen Bewegungen hat kein großes Problem mit Alckmin. Wir werden sehen, was daraus wird, aber ich denke, das schädigt Lula dahingehend, dass besonders in São Paulo arme Communitys unter Alckmins Regierung leiden mussten. Als etwa die Lehrergewerkschaft in Streik trat, wurden sie von der Polizei verprügelt. Ich denke, es gefährdet die eigene Glaubwürdigkeit, wenn man sagt: «Natürlich war Alckmin nicht gut für euch, aber ihr müsst ihn akzeptieren, denn wir brauchen ihn, um zu gewinnen.»

Lulas Koalition ist hauptsächlich auf den Kampf gegen Bolsonaro fokussiert. Wäre Lulas Gegner nicht Bolsonaro, sondern irgendein Mitte-rechter Politiker – vielleicht sogar Alckmin, der gegen Lula 2006 angetreten war – hätte er möglicherweise eine andere Strategie gewählt. Aber da es jetzt in erster Linie darum geht, Bolsonaro loszuwerden, sind die Leute eher bereit dazu, bestimmte Aspekte der Kampagne hinzunehmen, inklusive der politischen Mäßigung: einfach um sicherzugehen, dass Bolsonaro nicht mehr ins Amt kommt.

Die Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL), die als linke Abspaltung von der PT begann und eine der größeren Kräfte der Linken darstellt, unterstützt Lula in dieser Wahl. Wie sieht es mit der übrigen radikalen Linken aus?

Die brasilianische Linke ist sehr fragmentiert. Zum Beispiel ist die Kommunistische Partei von Brasilien (PCdoB) im Vergleich zur Brasilianischen Kommunistischen Partei (PCB) recht moderat, da letztere einer eher traditionellen marxistisch-leninistischen Linie folgt. Die PCdoB steht schon seit längerer Zeit der PT nahe und war Teil ihrer Regierungen.

Besonders unter Bolsonaro gab es einige Annäherungen zwischen PT und PSOL. Das ist sinnvoll, da eine starke Allianz gegen Bolsonaro in Stellung gebracht werden muss, hat aber auch zu Spannungen innerhalb der PSOL und dem Austritt einiger Mitglieder der Partei geführt. Insgesamt sind ihre Mitgliederzahlen jedoch gewachsen. Sie ist im Vergleich zur PT immer noch klein, aber hat für bestimmte Teile der Gesellschaft größere Relevanz gewonnen.

Drei kleinere Parteien der radikalen Linken, darunter die PCB und die Vereinigte Sozialistische Arbeiterpartei (PSTU) – eine trotzkistische Partei, die mit Lula lange bevor seiner ersten Amtszeit gebrochen hatte –, stellen ihre eigenen Kandidat*innen auf. Alle anderen unterstützen Lula. Das hat keinen wirklichen Einfluss auf die Wahl, da sie nicht genügend Unterstützer haben, aber es zeigt die stärkere öffentliche Debatte zum Thema Sozialismus und Kommunismus in Brasilien. So wie der Antikommunismus unter Bolsonaro gewachsen ist, haben auch kommunistische Ideen an Relevanz gewonnen.

Du hast eben gesagt, dass Lula trotz aller Kritik und Einschränkungen der beste Präsident Brasiliens bleibt. Gleichzeitig waren keine seiner linken Kritiker*innen erfolgreich darin, eine radikalere Agenda umzusetzen. Denkst Du, es ist möglich, allgemeinere Grundsätze aus der Erfolgsbilanz der PT zur Gewinnung linker Mehrheiten abzuleiten?

Eines der Hauptprobleme in Brasilien ist, dass unsere Politik stark auf Institutionen ausgerichtet ist – also auf Gewerkschaften, Parteien und soziale Bewegungen – und weniger auf die Frage, auf welche Weise wir diese Projekte dem Rest der Gesellschaft näherbringen können. Eine große Herausforderung besteht darin, dass sich unsere Linke oft gewissermaßen selbst auffrisst: Wir kämpfen um dieselbe Basis und sind weniger darauf konzentriert, diese Basis auszuweiten. Das wird oft damit in Verbindung gebracht, dass unsere Basis eigentlich sehr groß ist, da wir Leute wählen können – man braucht sich dazu nur die PT anzuschauen. In dieser Hinsicht findet eine Verwechslung zwischen der Wählerbasis und der eigentlichen Basis in der Bevölkerung statt.

Ich bin nicht sicher, ob die Linke das wirklich verstanden hat – besonders in dem Fall, dass Lula zurückkommt und sich die Leute an den Gedanken gewöhnen, dass eine Wählerbasis ausreichend sei. Einigen Teilen der PT ist das zumindest bewusst. Wenn sie Lulas radikalere Vorschläge umsetzen wollen, müssen sie die Leute dazu bringen, wieder auf die Straße zu gehen. Sie werden sie mobilisieren müssen. Dilma Rousseff hat den Anstoß zu diesem Prozess der Reflexion und sogar Selbstkritik gegeben, und dem Verständnis, dass wir stärker gegen den Putsch hätten mobilisieren müssen – wir müssen sicherstellen, dass wir, sollten wir regieren, das durch Mobilisierung tun. Ich denke, dass das ziemlich wichtig ist, auch, weil es von Rousseff kommt.

Du hast schon die Pink Tide, die Welle linker Regierungen in Lateinamerika, erwähnt, von denen Lulas Wahlsieg ein Teil war, und die in den letzten zehn Jahren zurückstecken musste. Im Nachgang zu Wahlsiegen in Bolivien, Kolumbien und anderswo, was denkst Du, welchen Einfluss ein möglicher Sieg Lulas auf Lateinamerika im Allgemeinen hätte?

Dass Lula ein sehr geschickter Politiker ist, hilft viel hinsichtlich der lateinamerikanischen Integration. Sollte er gewinnen, und unter der Maßgabe, dass es keinen Putsch gibt, wird er eine wichtige Rolle dabei spielen, die Beziehungen zwischen diesen neuen progressiven Regierungen zu stärken, und dabei, einige Spannungen zu mildern. Beispielsweise bestehen definitiv Spannungen zwischen Gabriel Borics Regierung in Chile und Nicolas Maduros Regierung in Venezuela. Ich denke, Lula könnte bei einer Vermittlung hilfreich sein.

Lula spielt auch eine Schlüsselrolle bei den Gesprächen über alternative Regierungsorgane in der Region, wie etwa der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten, und der Opposition gegen die US-amerikanische Hegemonie auf dem Kontinent. Aber sein Einfluss geht weit über Lateinamerika hinaus. Lula ist ein großer Verfechter von Süd-Süd-Kooperationen der BRICS-Staaten und anderer Partnerschaften. Gleichzeitig ist er in Europa und den USA hoch angesehen, besonders vor dem Hintergrund von Bolsonaros Debakeln.

Seit einigen Jahren bist Du Post-doc Fellow am International Research Group on Authoritarianism and Counter-Strategies der Rosa-Luxemburg-Stiftung. In welcher Hinsicht besteht Deiner Ansicht nach eine globale Entwicklung in Richtung Autoritarismus? Ist es möglich, deutliche Parallelen in der Entwicklung der USA, Brasilien, und beispielsweise der Türkei zu sehen?

Es besteht immer eine Tendenz dazu, Vergleiche zu ziehen und Parallelen zu sehen. Während der Wahlen in Kolumbien etwa waren viele Menschen der Ansicht, Rodolfo Hernández sei ein kolumbianischer Bolsonaro oder Trump. Man könnte ähnliche Parallelen zur Situation auf den Philippinen, in Indien oder in der Türkei ziehen. Das ist legitim, aber die genauen Mechanismen dahinter zu verstehen, ist noch einmal etwas anderes.

Wir wissen, dass es direkte Verbindungen gibt, wie etwa im Einsatz von Social Media. Das ist kein Zufall, denn es ist nicht so, dass sie einander bloß imitieren würden. Auch Unternehmen und spezifische Ausbildungen kommen hinzu.

Zudem bestehen reale Verbindungen zwischen diesen Bewegungen. Wir sind noch nicht an dem Punkt, an dem wir sagen können, dass es eine globale, einheitlich handelnde rechtsextreme Allianz gäbe, aber man kann sicher davon ausgehen, dass sie miteinander kommunizieren. Sie teilen ihre Best Practices und unterhalten direkte Partnerschaften. Es gab eindeutig Verbindungen zwischen Bolsonaro und Juan Guaidó, der versucht hat, sich als Interimspräsident von Venezuela auszugeben.

Dies ist nicht nur ein lateinamerikanisches, sondern ein globales Phänomen. Wenn wir uns die Parallelen anschauen, ist es nicht allein unsere Aufgabe, zu vergleichen, sondern auch, den Verbindungen auf den Grund zu gehen und gegenseitige Einflussnahmen zu analysieren. Ich denke, das haben wir in unserer Forschungsgruppe recht gut hinbekommen.

Würde in dieser Hinsicht die Niederlage einer Figur wie Bolsonaro auch Auswirkungen auf ähnliche Politiker weltweit haben?

Sicherlich hätte das symbolische Auswirkungen, aber man muss auch verstehen, dass ein Sieg gegen Bolsonaro nicht bedeutet, dass damit der Bolsonarismus besiegt ist. Hinter ihm steht ein größeres Phänomen, das wir immer noch nicht vollständig ergründet haben. Nur weil Bolsonaro eine Wahl verliert, heißt das nicht, dass sich die extreme Rechte geschlagen gibt.

Übersetzung von Friederike Sachs.