Nachricht | Rosa-Luxemburg-Stiftung Verhaftete Bücher

Beschlagnahme am Flughafen bringt Präsentation in Lepzig in Gefahr. Episode 11 von Jörn Schütrumpf.

Frühjahr, Leipziger Buchmesse. Man schreibt in der Bundesrepublik das 48. Jahr des KPD-Verbots und in Deutschland das 15. Jahr seit der Selbstbefreiung der DDR-Bevölkerung von der stalinistischen Herrschaft.
Am Abend des ersten Tages will der Verlag Dietz Berlin das biografische Handbuch »Deutsche Kommunisten« vorstellen. Verfasser sind der Altmeister der Kommunismus-Geschichtsschreibung, Hermann Weber aus Mannheim sowie der deutlich jüngere Andreas Herbst aus Berlin, ein Mann, unbestechlicher und zuverlässiger als alle biografischen Datenbanken. Die Bücher sollen am Morgen an unseren Messestand geliefert werden; zu unserem Glück verfügen wir über fünf Vorabexemplare, die uns noch kurz vor unserer Abfahrt nach Leipzig in den Verlag gesandt wurden.

Um 11 Uhr kommt unser Pößnecker Kollege, der die Verbindung zur tschechischen Druckerei in Südmähren hält, an den Messestand. Auf unsere fragenden Gesichter verspricht er, die Angelegenheit sofort zu klären, und kehrt kurz darauf mit der Nachricht zurück: Aus irgendwelchen Gründen würden die Bücher in Zinnwald, an der deutsch-tschechischen Grenze, festgehalten. Zinnwald – 200 Kilometer, kein Problem, die Veranstaltung beginnt erst um 20 Uhr. Wir beschließen, wenn bis Mittag die Bücher nicht frei seien, die literaturinteressierten Zöllner zu besuchen. 12 Uhr – eine neue Nachricht erreicht uns: Die Bücher lägen nicht in Zinnwald, sondern auf dem Flughafen. Aufatmen, denn der befindet sich in Schkeuditz, gleich um die Ecke, nur wenige Autominuten entfernt. Nun können wir uns Zeit lassen – glauben wir. 13 Uhr: Unser Pößnecker Kollege erscheint mit einer Farbe im Gesicht, die seinen hellen Anzug dunkel erscheinen lässt: Die Bücher lägen zwar auf dem Flughafen, aber nicht in Schkeuditz, sondern in Frankfurt am Main. Die Pakete seien per Lkw nach Prag geschickt und dort im Zuge der «Transportoptimierung» in ein Flugzeug verladen worden. Wir, als zahlende Auftraggeber, erfahren erst in diesem Augenblick davon; ausgemacht war Lkw-Transport nach Leipzig. Das Prager Flughafenpersonal habe «Buchmesse» gelesen und befunden, dass es in Deutschland so etwas nur noch in Frankfurt am Main gäbe. Dort seien die Bücher beschlagnahmt worden, denn die KPD sei 1956 als verfassungsfeindliche Organisation verboten worden und demnach alle moskauhörige Propaganda untersagt. Die Beißreflexe funktionieren nach wie vor. Willkommen in (West-)Deutschland.

Hermann Weber, der seit den 1950er-Jahren Unschätzbares für eine seriöse Kommunismus-Geschichtsschreibung geleistet und nicht zuletzt als erster SED-Chef Ulbricht detailliert als stalinistischen Geschichtsfälscher entlarvt hat, ein Propagandist Moskaus? Ich malträtiere lauthals das unschuldige Mikrofon meines Handys – bis ich den Fauxpas bemerke und die Messehalle verlasse. Auf der anderen Seite erst Rotzigkeit, dann hilfloses Stottern: «Ja, aber ...» Nun wechsele ich – mit schwindendem Widerwillen – vom Sarkastischen ins Zynische. Nach drei Minuten sind die Bücher frei.

Mir ist natürlich bewusst, welcher Verlag mir ein Jahr zuvor übertragen wurde: die einstige Dreckschleuder der SED-Propaganda. Meine Nachwende-Vorgänger und vor allem Christine Krauss, die letzte verbliebene Lektorin aus DDR-Zeiten, hatten in den 1990er-Jahren jedoch den Bruch vollzogen; ihre Ethik: ab sofort keine Zugeständnisse mehr an die nach wie vor aktive stalinistische Reaktion.Die Abendveranstaltung in Leipzig muss allerdings mit den fünf Vorabexemplaren bestritten werden, denn der Kurier mit den Büchern bleibt im Neuschnee des Thüringer Waldes stecken. Als er endlich doch den Veranstaltungsort erreicht, empfängt ihn nur noch die Putzfrau. Nebenan feiern Autoren und Verlag den erfolgreichen Abend, wohl wissend: Der infantile Kalte Krieg ist noch immer nicht zuende.

JÖRN SCHÜTRUMPF IST GESCHÄFTSFÜHRER DES KARL DIETZ VERLAGES BERLIN