Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Partizipation / Bürgerrechte - Cono Sur «Das Tor zu einem neuen Chile steht immer noch offen»

Zwischen Aufstand und Institutionalisierung: Die Ablehnung des Verfassungsprojektes in Chile verstehen

Ein Banner an einer Wand mit Graffiti wirbt für die neue Verfassung. «Apruebo un Chile para el futuro» - Zustimmung für ein Chile der Zukunft - steht dort in großen bunten Buchstaben.
Mit dem Satz «Apruebo un Chile para el futuro» - Zustimmung zu einem Chile der Zukunft - wirbt dieses Banner für die neue Verfassung.
  CC BY-NC 2.0, Rosa-Luxemburg-Stiftung

Mit der Ablehnung des vom Verfassungskonvent vorgelegten Textes mit 61,87 Prozent der abgegebenen Stimmen schließt sich ein Zyklus konstitutioneller Reformen in Chile. Dieser begann im Oktober 2020 mit der massiven Unterstützung eines Referendums über die Entwicklung einer neuen Verfassung. Die Zustimmung zum Verfassungsgebenden Prozess war das Ergebnis einer sektorübergreifenden Einigung und die institutionelle politische Antwort auf den sozialen Aufstand vom Oktober 2019.

Zum ersten Mal seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1990 fand in Chile eine Wahl mit Wahlpflicht statt. Etwas mehr als 13 Millionen Menschen – mehr als 85 Prozent der Wähler*innenschaft – gingen am 4. September 2022 an die Urnen, um über das Schicksal des neuen Verfassungstexts abzustimmen. Dieser sollte die aktuell gültige, noch von der Diktatur entworfene Verfassung ersetzen. Doch in allen Regionen des Landes wurde der Entwurf abgelehnt. Auch die großen Städte stellten dabei keine Ausnahme dar. Auf diesen hatte die Hoffnung der Aktivist*innen gelegen, die für das «Apruebo» (die Zustimmung) gekämpft hatten. Die Ergebnisse der beiden Referenden im Verfassungsprozess zeigen, dass die Chilen*innen zwar die Verfassung von Pinochet nicht mehr wollen – aber diese neue Verfassung auch nicht.

Ein Beitrag vom Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Buenos Aires.
Das Regionalbüro koordiniert die Arbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Argentinien, Chile und Uruguay.

Übersetzung: Jakob Frey- Schaaber

Wir werden uns bald Gedanken darüber machen müssen, welche Strategien die Basis jetzt verfolgen kann und in welchen Räumen politische Debatten stattfinden müssen. Wie kann das «Rechazo» (die Ablehnung) im Kontext des Vormarschs der politischen Rechten und des anhaltenden Misstrauens gegenüber den Institutionen erklärt werden? Und welche Konsequenzen hat das für das politische Szenario in Lateinamerikas?

Noch ist es nicht möglich, das Ausmaß der Folgen der Wahlen abzuschätzen oder das Ergebnis dieses Prozesses abschließend zu analysieren. Kein Zweifel besteht allerdings daran, dass es sehr wichtig werden wird, welchen Kurs die derzeitige Regierung um Gabriel Boric einschlagen wird – angesichts all der Forderungen und Ansprüche, die im Geist und Text der neuen Verfassung erhoben worden sind.

Gespaltene Linke, geschlossene Rechte

Der Triumph der Ablehnung drängt uns dazu, uns mit den Unzulänglichkeiten des Prozesses und der Verfassungsdebatten auseinanderzusetzen, die es nicht über den Plenarsaal hinausgeschafft haben. Hinzu kommt die politische Dynamik der Linken in Chile, die erneut gespalten agiert hat, während die Rechte geschlossen voranging. Die neue Regierung Boric glänzte nicht nur durch Abwesenheit, sondern fügte der Kampagne für das Apruebo mit der Idee «Zustimmen, um zu reformieren» maßgeblichen Schaden zu. Das alles muss vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Situation Chiles gesehen werden: eine sich zuspitzende Wirtschaftskrise mit einem beispiellosen Anstieg der Inflation, Währungsabwertung, Desinvestition und Verschuldung.

Unerlässlich ist zudem, die Strategie der Rechten zum Verfassungsreferendum zu verstehen. Diese begann direkt nach den Wahlen der Mitglieder des Verfassungskonvents im Mai 2021. Der Erfolg der in den Konvent gewählten Kandidat*innen, die nicht aus der Parteipolitik kamen, sondern sich als unabhängige Kandidat*innen oder als Teil sozialer Organisationen zur Wahl stellten, hat die Krise der traditionellen politischen Partien deutlich gemacht. Das war schon zu Beginn zugleich Chance und Schwäche des Prozesses: Zwar wurden die unabhängigen Kandidat*innen zunächst nicht mit der traditionellen Politik verbunden, aber gleichzeitig hatten sie keine Erfahrungen mit politischen Institutionen. Dadurch wurden teilweise Fehler begangen, die von der Rechten ausgeschlachtet worden sind. Statt im Verfassungskonvent zu debattieren, begann diese von Anfang an akribisch daran zu arbeiten, die Arbeit des Konvents und den ganzen Verfassungsprozess zu untergraben und zu delegitimieren. Dadurch entstand ein Klima des Misstrauens und der Enttäuschung.

Die Festlegung auf einen Verfassungskonvent anstelle einer verfassungsgebenden Versammlung schränkte die Möglichkeiten einer echten, offenen und breiten Beteiligung der chilenischen Bevölkerung an der Ausarbeitung des neuen Textes ein. Was mit gewaltigen Debatten von hunderten über das ganze Land verstreuten nachbarschaftlichen Versammlungen begann, endete eingezwängt in einem Plenarsaal im Zentrum Santiagos. Somit gab es kaum Wissen über den neuen Verfassungstext in der Gesellschaft. Ein dankbares Szenario für die Rechte, um die Öffentlichkeit mit ihrer Ablehnungskampagne zu überrennen.

Trotz aller Schwierigkeiten und Debatten wurde der Verfassungstext schließlich zu einem der innovativsten und demokratischsten der Welt, geprägt durch Feminismus, Umweltschutz und die plurinationale Demokratisierung der politischen Institutionen. Ohne politische Strukturen auf Bundesebene jedoch und mit ihrer sehr anspruchsvollen Dynamik isolierten sich die Debatten der Konventsmitglieder zunehmend von der Gesellschaft, während ihre Arbeit innerhalb und außerhalb des Konvents angefochten wurde. Das Ergebnis spiegelt auch die Schwäche und den Legitimitätsverlust der Regierung und des verfassungsgebenden Prozesses selbst wider. Zudem hat die von Boric zur Debatte gestellte Reform den Verfassungsentwurf noch vor der Wahl geschwächt. Der Rechten gelang es, den verfassungsgebenden Prozess mit der Regierung zu verknüpfen, sodass die Abstimmung auch als Botschaft an die Regierung verstanden wurde.

Medienoffensive gegen die Verfassung

Gefehlt hat eine vom Staat angestoßene Vermittlung, um den Text der neuen Verfassung zu verstehen und sich mit ihrem Inhalt auseinanderzusetzen. Es wäre nötig gewesen, über die intensive Schmutzkampagne für das Rechazo in den Medien und auf der Straße aufzuklären. Die früh begonnene Kampagne der Rechten setzte auf eine Reihe von Falschmeldungen, die auf Themen abzielten, die für Mehrheiten von zentraler Bedeutung waren: Angst vor dem Verlust von Wohnraum, Ersparnissen und Sicherheit. Die Medienoffensive stellte die Verfassung als viel radikaler dar, als sie jemals war. Der Rechten gelang damit, an die Ängste der Bevölkerungsmehrheit anzuknüpfen. Die Kampagne für das Apruebo hingegen konnte erst nach Vorlage des Textes im Juli 2022 beginnen und wurde zu einem defensiven Prozess: Überall mussten zuerst die von den Gegner*innen des Verfassungsentwurfs etablierte Erzählung entkräften werden.

Trotzdem ist es wichtig, die Gesellschaft nicht zu unterschätzen. Es gibt keinen quasi automatischen Zusammenhang zwischen den Diskursen der Rechten und der Wahl des Rechazo. Die Schuld liegt nicht bei der Bevölkerung, die selbstbestimmt entschieden hat. Aber die langen, für die Öffentlichkeit undurchsichtigen Debatten im Konvent, die Gewalt und Attacken der Rechten und die sehr fortschrittlichen Positionen haben es schwer gemacht, dass der Verfassungstext breit akzeptiert wird. Es ist nicht gelungen, einen Identitätsprozess mit dem Verfassungsvorschlag herzustellen.

Der Ruf nach Veränderung bleibt

Die Enttäuschung unter denen, die für das Apruebo gekämpft haben, lässt sich kaum in Worte fassen. Aber der verfassungsgebende Prozess in Chile hinterlässt auch eine positive Bilanz der Organisation, der politischen Diskussion und der kollektiven Konstruktion. Jetzt gibt es einen neuen Text, der zwar verbesserungsfähig ist, aber als politische Agenda existiert. Der soziale Aufstand von 2019, das Eingangsreferendum von 2020, in dem 80 Prozent der Bevölkerung einem verfassungsgebenden Prozess zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung zustimmten, der Triumph von Gabriel Boric in der Präsidentschaftswahl von 2021 und die gleichzeitige Ausweitung der Repräsentation der progressiven Linken in verschiedenen Regionen des Landes sowie ein Verfassungskonvent, der geschlechterparitätisch besetzt wurde und dessen erste Präsidentin eine indigene Frau war: All das beweist, dass es sich hierbei um einen bedeutsamen und übergreifenden Prozess handelt, der strukturelle Änderungen und Reformen fordert. Dies ist das Chile der letzten Jahre. Daher fällt es schwer zu glauben, dass die Chilen*innen, die dieses Szenario überhaupt erst möglich gemacht haben, ihre Forderungen aufgeben werden. Wir haben einen weiten Weg zurückgelegt und das Tor zu einem neuen Chile steht immer noch offen.