Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Parteien / Wahlanalysen - Partizipation / Bürgerrechte - Libanon / Syrien / Irak «Der Libanon braucht eine starke sozialistische Stimme»

Knapp vier Monate nach dem Einzug von 13 unabhängigen Kandidat*innen ins libanesische Parlament zeigen ihre mageren Fortschritte, dass ein radikalerer Ansatz notwendig ist

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Nizar Hassan, Hanna Voß,

Libanesische Regierungsgegner*innen, äthiopische Hausangestellte und eine Gruppe von Feministinnen nehmen an einer Demonstration vor dem Eingang des Parlamentsgebäudes in Beirut, Libanon, am 27. Juni 2020 teil. Im Libanon gibt es seit Monaten Proteste gegen die derzeitige Regierung, die durch die katastrophale Lage der heimischen Wirtschaft angeheizt werden. Foto: picture alliance / EPA-EFE | NABIL MOUNZER

Als im Mai 2022 die Ergebnisse der Wahlen im Libanon bekannt gegeben wurden, war die Aufregung innerhalb der Oppositionsbewegung spürbar: 13 Oppositionskandidat*innen, die keiner der etablierten Parteien angehören, zogen ins Parlament ein. In einigen Gebieten lösten sie Kandidat*innen ab, die jahrzehntelang die lokale Politik dominiert hatten.

Doch seit ihrem Amtsantritt haben die neuen Parlamentarier*innen Mühe, sich einen Namen zu machen. Der politische Diskurs wird derzeit vor allem von den Streitigkeiten zwischen Israel und dem Libanon über das Karish-Gasfeld im Mittelmeer beherrscht, das beide Seiten für sich beanspruchen.

Wie der libanesische Politikberater Nizar Hassan erklärt, führt die Anwesenheit von unabhängiger Opposition im Parlament nicht automatisch zu Veränderungen - dazu bedarf es der Organisierung. Hassan beobachtet die politischen Entwicklungen und berät Politiker*innen im Libanon seit vielen Jahren. Er ist unter anderem Co-Moderator des Lebanese Politics Podcast. Drei Monate nach dem parlamentarischen Durchbruch der Opposition sprach er mit Hanna Voß von der Rosa-Luxemburg-Stiftung über bisherige Fortschritte und darüber, welche Art von Politik notwendig sein wird, um die schlimmste Krise in der Geschichte des Libanon zu bewältigen.

Nizar, welche Rolle sollten Ihrer Meinung nach die unabhängigen Kandidat*innen, die im Mai ins Parlament eingezogen sind, einnehmen?

Es ist wichtig, dass die neuen Kandidat*innen eher früher als später ihren eigenen Ansatz formulieren, wie sie im Parlament agieren wollen. Natürlich war es sehr wichtig, überhaupt ins Parlament einzuziehen. Aber wenn ich von einigen von ihnen höre, dass sie Gesetze verabschieden wollen, dann sage ich: «Nehmt es locker. Ihr seid im Parlament nicht in erster Linie, um zu gestalten, sondern um den Rest, also die politische Oligarchie im Libanon, zu behindern. Das wird eure Aufgabe sein - vor allem, wenn es um Wirtschaft und Sektierertum geht, denn in diesen Bereichen sollte es möglich sein, dass Kandidat*innen aus verschiedenen Lagern Allianzen schmieden».

Mit welchem Ziel?

Das Ziel kann nur sein: die Arbeiterklasse, die einfachen Leute im Parlament zu vertreten. Das sind diejenigen, die nicht vertreten sind. Das sind diejenigen, in deren Interesse die Oligarchie als letztes handelt.

Wenn es den neuen Parlamentarier*innen wirklich um die einfachen Leute, um die Arbeiter*innen geht, müssen sie das den anderen Abgeordneten deutlich machen. Sie laut und deutlich adressieren: «​​​Keine*r von euch kümmert sich um dieses oder jenes Thema, das die Menschen in eurem Land wirklich betrifft. Ihr ignoriert die Bedürfnisse der Menschen, schaut an ihnen vorbei und nur auf euch selbst, um euch in eurer Ablehnung der anderen zu identifizieren und darin Relevanz vorzutäuschen. Damit ist den Menschen aber nicht geholfen. Deshalb erhebe ich meine Stimme gegen euch, deshalb mobilisiere ich die Menschen außerhalb des Parlaments und mache folgenden Gegenvorschlag». Zumindest würde das ein*e echte*r sozialistische*r Kandidat*in tun.

Gibt es jetzt eine*n sozialistische*n Kandidat*in im Parlament?

Nein, ich sehe niemanden. Aber es gibt Leute, die anders arbeiten und Politik machen wollen. Sie sind keine Heiligen, aber sie haben gute Absichten, und ich würde mit einigen von ihnen zusammenarbeiten, wenn sie es wollen. Aber wir müssen abwarten.

Wir sehen Kandidat*innen, die sozialistische Ideen haben, die aber nicht sehr tief gehen. Wir haben Anwält*innen, die im Allgemeinen eher der Bourgeoisie angehören, aber wer weiß? Es gibt Leute, die zum Beispiel in israelischer Haft waren oder während der Proteste nach der Explosion im Hafen von 2020 angeschossen wurden.

Im Süden haben die Menschen mit Elias Jrade jemanden gewählt, der links der Mitte steht und der verstanden hat, dass die Menschen es leid sind, immer davon zu reden, dass die Hisbollah nur eine iranische Miliz ist und solche Dinge. Das ist so weit weg von dem, was die Menschen in ihrem Alltag tatsächlich beschäftigt. Jemand, der von dort kommt, kann das verstehen und glaubwürdig vertreten. Trotzdem werden echte sozialistische Ideen, vielleicht auch vertreten durch eine neue Partei, noch einige Zeit brauchen.

Warum sind diese sozialistischen Ideen Ihrer Meinung nach notwendig?

Grundsätzlich braucht es ein Verständnis davon, wie die Welt aussieht, und darauf aufbauend einen gemeinsamen Rahmen, in dem man arbeiten kann. Diejenigen, die dieses Verständnis nicht teilen, werden immer nur versuchen, die Dinge innerhalb des bestehenden Rahmens zu verändern. Liberale wollen Dinge verbessern, Sozialist*innen wollen sie verändern.

Das ist besonders in einem Land wie dem Libanon notwendig, wo das bestehende System von Grund auf verrottet ist. Unser Problem ist nicht nur die Korruption. Unser Problem ist ein System, das seit Jahrzehnten die Kapitalakkumulation über das Grundwohl der Menschen stellt.

Um diesen Zustand zu ändern, sind radikale Ansätze erforderlich, keine Kompromisse?

Wenn die Politik von einer Gruppe von Menschen aus der Bourgeoisie kontrolliert wird, werden die gleichen Muster einfach immer wieder reproduziert. Das hilft nicht weiter. Wenn wir die politische und wirtschaftliche Praxis in ihrem Kern verändern wollen, können wir nicht mit Kompromissen beginnen. Wenn wir ernsthaft die Interessen der Arbeiterklasse im Libanon vertreten wollen, ist ein Kompromiss nicht der richtige Weg, schon gar nicht in Zeiten der Krise wie diesen. Es geht im Gegenteil darum, den Diskurs so weit wie möglich in die von uns gewünschte Richtung zu lenken, sodass der Kompromiss schon weiter links beginnt. Es geht darum, den Rahmen von vornherein anders zu stecken und sich nicht mit linksliberalen Ideen zufrieden zu geben.

Was müsste angegangen werden, und wie?

Zunächst einmal funktioniert das politische System des Libanon als solches nicht, weil es keine Entscheidungen und Lösungen hervorbringt. Die konstitutionelle Demokratie hat versagt. Wir brauchen eine Art von Mehrheitsregierung, wenn wir als parlamentarische Demokratie funktionieren wollen. Wir brauchen ein neues Wahlsystem, denn das ist die Grundlage jeder politischen Legitimation. Wir brauchen ein Gesetz, das die Beziehung zwischen religiösen Institutionen und dem Staat neu regelt.

Wenn wir versuchen, eine weniger sektiererische Gesellschaft aufzubauen, brauchen wir demokratische Reformen und meiner Meinung nach eine neue Verfassung. Unsere wurde von der intellektuellen Elite der 1920er Jahre geschrieben und ist in vielen Aspekten nicht mehr mit dem vereinbar, was den Menschen heute wichtig ist. Das sind die Dinge, die die Menschen im Grunde genommen fordern, wenn sie sagen, dass sie ein Ende der sektiererischen Kämpfe wollen.

Und auf wirtschaftlicher Ebene?

Müssen wir vor allem die Menschen erreichen, die so sehr unter der Krise gelitten haben und noch immer leiden. Das ist wichtiger, als die Kredite der Banken zu bezahlen. Am wichtigsten ist es natürlich, eine produktive Wirtschaft aufzubauen. Das bedeutet das Gegenteil einer neoliberalen Lösung und ist auch der Punkt, an dem sich Sozialist*innen und die Progressiven, die ebenfalls einen Wandel wollen, unterscheiden.

Inwiefern?

Viele der Progressiven und Liberalen glauben, dass das Geld, das der IWF im Gegenzug für Reformen anbietet, eine Lösung ist. Ich glaube genau das Gegenteil: Die «Lösung» des IWF wird eine weitere Krise und sogar einen weiteren Zusammenbruch in vielleicht zehn oder 15 Jahren verursachen. Noch mehr Menschen werden arm werden. Mit den vorgeschlagenen Maßnahmen wird sich nichts verbessern, sie werden nichts an dem massiven Handelsdefizit ändern, das der Libanon hat, weil wir so viel mehr importieren als exportieren.

Was das Problem lösen würde, wären Investitionen in die Produktionskapazität. Das Ausmaß der Krise im Libanon verlangt nach Ideologie. In Zeiten einer solchen Krise wenden sich die Menschen oft dem Sozialismus oder dem Faschismus zu. Der Faschismus hat die einfachen Antworten, aber wir Sozialist*innen müssen auch welche liefern. Ein Teil dieser Antwort besteht darin, die Gesellschaft und die Wirtschaft auf eine völlig neue Art zu organisieren. Noch einmal: Es geht nicht darum, einzelne Dinge zu verbessern, sondern das große Ganze zu verändern. Wir wollen eine Wirtschaft, die für die Menschen arbeitet und nicht andersherum.

Wie könnte dieser große wirtschaftliche Wandel erreicht werden?

Zunächst müssen wir damit beginnen, Ideologie im Libanon zu normalisieren. Bislang wird sie als etwas sehr Abschreckendes wahrgenommen, aber wir brauchen ein Narrativ, das sich radikal vom Mainstream unterscheidet. Unser Diskurs muss radikaler sein, wir müssen darüber sprechen, dass alle Ressourcen dem Volk gehören. Nein, nicht deine Zahnbürste und nicht dein Haus. Aber dein drittes Haus. Das Land, das du nicht nutzt.

Lasst uns in Menschen investieren, in Bildung, Gesundheitsversorgung. Wir müssen auch endlich anfangen, über die Sektoren nachzudenken, die es uns ermöglichen würden, in der Welt relevant zu sein. Der gesamte Technologiesektor zum Beispiel, der sich zu einem bedeutenden Wirtschaftszweig entwickeln wird.

Was braucht es, um diesen Prozess zumindest anzufangen?

Führungsqualitäten. Auch wenn wir es nicht gerne hören, wir brauchen Menschen, die sagen: «Ich bin hier, um die Oligarchie zu bekämpfen. Um Sozialismus zu praktizieren. Wir sind hier, um dies und jenes zu bekämpfen.» So erreicht man auch Menschen, die im Grunde genommen keine Sozialist*innen sind, die aber erkennen: Es gibt hier einen klaren Unterschied zu den anderen, einen offensichtlichen Kampf, und das ist auch meiner.

Also keine Angst vor Polarisierung?

Ganz im Gegenteil. Ich plädiere für Polarisierung. Ich plädiere für den Mut zur Polarisierung.

Aber ist das nicht gerade angesichts einer gespaltenen Gesellschaft wie der libanesischen gefährlich?

Im Libanon haben alle viel zu lang nach den gleichen Narrativen gelebt und Politik gemacht. Im Grunde war seit den 1990er Jahren, gleich nach dem Bürgerkrieg, klar, dass das Wirtschaftsmodell nicht funktioniert, dass die Politik von Rafiq Hariri zum Scheitern verurteilt ist. Wenn man immer höhere Zinsen auf Einlagen auf libanesischen Konten gewährt, aber als Staat Devisen braucht, um das enorme Handelsdefizit auszugleichen, dann ist klar, dass es irgendwann zusammenbricht. Das war jahrzehntelang vorausgesagt worden.

Dennoch hat sich niemand politisch damit befasst, die Wirtschaft war in der Politik völlig abwesend. Das zeigt, wie notwendig eine starke sozialistische Stimme im Libanon ist, die ein klares Gegengewicht zum Mainstream bildet und wirtschaftliche Fragen politisiert. Dann können Menschen sich entlang politischer Präferenzen unterscheiden und nicht entlang sektiererisch gezogener Linien.