Nachricht | Digitaler Wandel - China China: Ein Online-«Entwicklungsland»

Im Digitalen genießen Chines*innen infrastrukturellen Wohlstand der Spitzenklasse

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Timo Daum,

Das Neue vom alten China (Beijing, 2010)
Das Neue vom alten China (Beijing, 2010), Trey Ratcliff, via Flickr

Im Jahr 2009 erschien «Chinas Megatrends». In dem Bestseller der beiden Zukunftsforscher*innen Doris und John Naisbitt war von allem Möglichen die Rede, aber nicht vom Internet, von Smartphones oder Digitalkonzernen. Das liegt nicht (nur) an der fehlenden Vision der Autor*innen – es zeigt vielmehr eindrücklich, wie rasant und quasi aus dem Nichts die digitale Sphäre in China aufgeblüht ist. Dreizehn Jahre später ist China weltweit Spitze, was die Adaption digitaler Technologien angeht. Die Bevölkerung ist außerordentlich digital affin, kaum irgendwo sonst ist das Smartphone so tief im Alltag verwurzelt wie dort. Online-Shopping und zahlreiche digitale Kommunikationsdienste sind alltagsbestimmend, nahezu alle chinesischen Internet-NutzerInnen benutzen regelmäßig mobile Zahlungsmethoden.

Die Anfänge

Um die Geschichte des chinesischen Internets nachzuvollziehen, muss man mindestens 40 Jahre zurückblicken. Chinas Reform- und Öffnungspolitik unter Partei- und Staatschef Deng Xiao-Ping setzte auf marktwirtschaftliche Mechanismen, und private Firmengründungen wurden möglich. Vor 1978 war der private Sektor praktisch nicht existent. Heute tragen private Unternehmen zu etwa 70 Prozent zum chinesischen BIP bei. Die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen (Gebiete innerhalb Chinas, für die besondere Regeln gelten, wie niedrige Steuern, geringe Zölle oder vereinfachte Verwaltungsprozesse) ab 1980, von denen Shenzhen die bekannteste ist, gehört zu den herausragenden Maßnahmen der Reform- und Öffnungspolitik. Desweiteren spielte Technologie in der Vision der chinesischen Führung für die Modernisierung des Landes von vornherein eine entscheidede Rolle. Deng Xiao-Ping, der mehrere Jahre im Ausland verbracht hatte, bezeichnete sie einmal als «primäre Produktivkraft».

Einer der ersten, der sich die neuen Möglichkeiten zunutze machte, war Liu Chuanzhi, ein Ingenieur, der an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften studiert hatte. Im November 1984 gründete er eine Computerfirma, die einen der ersten chinesischen Personal Computer herstellte – den «Great Wall 0520CH», auf dem das freie Betriebssystem Linux lief. Er war mit IBM PCs kompatibel (manche sagen: von IBM abgekupfert). Das Modell wurde zunächst in 13 Fabriken mit einer anfänglichen Produktionszahl von 10.000 Stück hergestellt.

Timo Daum ist Physiker, Hochschullehrer und Sachbuchautor, sein Arbeitsschwerpunkt ist der digitale Kapitalismus.

Lius Unternehmen ist heute unter dem Namen Lenovo bekannt und zählt zu den größten Computerherstellern weltweit. Im Jahre 2005 übernahm Lenovo sogar die PC-Sparte von IBM, der ältesten Computerfirma der Welt. Der chinesische Newcomer übernahm so das PC-Geschäft desjenigen US-amerikanischen Unternehmens, das drei Jahre vor Lius Gründung einen historischen Deal mit Microsoft abgeschlossen hatte, ein wichtiger früher Meilenstein für den Siegeszug des Personal Computers als Alltagsprodukt.

Wagemutige Unternehmer wie Liu sind aber nur die eine Seite. Auch auf Seiten der Politik und Verwaltung war Initiative gefragt. Eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des chinesischen Internets spielte die Wissenschaftlerin Hu Qiheng, sie organisierte den Anschluss Chinas an das weltweite Netz. Im Mai 1994 ging an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften der erste Webserver in China überhaupt an den Start. Später übernahm Hu die Leitung des China Internet Network Information Centers (CNNIC), das für die Verwaltung der cn-Domains verantwortlich ist. 2013 wurde sie in die «Internet Hall of Fame» aufgenommen.

Und China hatte viel aufzuholen: Im Jahr 1995 verfügte bereits über die Hälfte der US-Bevölkerung über die Möglichkeit, zu Hause auf der Arbeit oder in der Schule ins Netz zu gehen. Anfang des Jahres 1995 gab es in China gerade einmal 3000 Internet-Nutzer*innen, ein halbes Jahr später waren es dann schon 40.000. Im Jahr 2000 waren bereits 22,5 Miillionen Menschen in China online, Ende 2010 – gerade einmal fünfzehn Jahre nach den ersten Schritten – waren es dann 547 Millionen, womit Chinas Online-Community die gesamte US-Bevölkerung übertraf.

Lukrative Freiheit?

In den 1990er Jahren wurde nicht nur der technische, sondern auch der politische Grundstein für das heutige digitale China gelegt. Neben dem Internetzugang für breite Teile der Bevölkerung war dies der Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation (WHO). Beide Entwicklungen wurden vom Westen wohlwollend zur Kenntnis genommen. Man war überzeugt, die ökonomische Annäherung an den Westen werde letztlich zu einer Adaption der Marktwirtschaft und des Washington Consensus des Neoliberalismus führen. Und das Internet werde ein Übriges tun, um das chinesische Volk auf freedom & democracy einzuschwören.

Der damalige US-Präsident Bill Clinton äußerte im Jahr 2000 in einer Rede mit Blick auf China: «Im neuen Jahrhundert wird sich die Freiheit per Handy und Kabelmodem verbreiten.» Mit dieser Überzeung stand er wahrlich nicht allein: Die Vorstellung, das Internet werde die Demokratie und gute Geschäfte in den letzten Winkel der Welt tragen, war zu dieser Zeit weit verbreitet. Als «Cyberutopianism» bezeichnete der Kritiker des digitalen Kapitalismus Evgeny Morozov die Überzeugung, das Internet verfüge über die Macht, Gesellschaften zu demokratisieren und zu «verbessern», sprich im Sinne des Kapitals umzuformen.

RSA ANIMATE: The Internet in Society: Empowering or Censoring Citizens?

Graham Webster, Chefredakteur des DigiChina-Projekts am Cyber Policy Center der Stanford Universität, betont in einer Analyse: «Der Westen war überzeugt, dass die Kommunikationstechnologie die Demokratie befördern würde.» Gleichzeitig erhofften sich die Tech-Konzerne aus dem Silicon Valley fabelhafte Geschäfte in China, wenn die das Milliarden-Volk einmal mit ihren Diensten würden beliefert haben. Webster weiter: «Amerikanische Tech-Unternehmen erwarteten, durch die Dominanz auf dem chinesischen Markt ein Vermögen zu machen» (Graham Webster, A brief history of the Chinese internet, in: Logic Magazine, Issue 07 «China», S. 14.)

Die Rolle der Digitalkonzerne

Doch es kam ganz anders. Die KP hat zwar eine kapitalistische Dynamik angestoßen, die neoliberale Schocktherapie, wie sie in der ehemaligen Sowjetunion zur Anwendung kam, jedoch vermieden – auch im Hinblick auf die Digitalisierung. Die amerikanischen Internetkonzerne wie Ebay, Google oder Uber – alle zogen sich früher oder später vom chinesischen Markt zurück.

Letztlich durchgesetzt haben sich chinesische Unternehmen wie Alibaba, Tencent oder Baidu. Geschützt durch die «Große Brandmauer», also die Abschottung des chinesischen Internets, sowie protektionistische Maßnahmen zum Schutz des Binnenmarktes – hier nahm man sich insbesondere Korea und Singapur zum Vorbild – sind nationale Champions und mächtige Digitalkonzerne entstanden. Ihre Dienste sind aus dem Alltag der digital affinen chinesischen Bevölkerung nicht mehr wegzudenken.

Die chinesischen Digitalkonzerne Alibaba, Tencent und Baidu können inzwischen mit der Konkurrenz aus dem Silicon Valley bei Nutzerzahlen, Datenvolumen und Umsätzen Schritt halten. Dazu kommt eine eigenständige Startup-Experimentierkultur – wenige Unternehmen sind so agil in der Reaktion auf Kundenwünsche und geänderte Rahmenbedingungen, wie die chinesischen.

Digitaler Wohlstand

Dabei ist China immer noch ein Schwellenland, beim kaufkraftbereinigtem BIP pro Kopf und Jahr liegt es bei 19.000 Dollar und damit weit entfernt von Singapur mit 93.000, den USA mit 60.000, Deutschland mit 51.000 und eher im Bereich Iran mit 17.000. Noch vor wenigen Jahren war China gleichauf mit Brasilien, Brasilien ist heute bei 6.823 Dollar pro Kopf. China ist zwar was den allgemeinen Wohlstand angeht noch weit entfernt von den entwickelten Ländern, in der digitalen Sphäre gehört es allerdings zur Spitze.

Heute sind in China laut Weltbank 1032 Millionen Menschen online, das sind 73 Prozent der Bevölkerung (Deutschland: 90 Prozent). Das bedeutet aber auch, dass 370 Millionen Menschen immer noch keinen Zugang haben, insbesondere auf dem Land. Hier tut sich – wie auch beim extrem ungleich verteilten Reichtum im neuen China – eine digitale Kluft auf. Diese ist auch deshalb so gravierend, da Internet-basierte Diensleistungen für Finanzen, Handel und Transport im Alltag wichtiger Faktor der gesellschaftlichen Teilhabe in China geworden sind. Bei der Geschwindigkeit der Verbindungens steht China allerdings sehr gut da. Bei Breitband-Verbindungen liegt China auf Rang 3 weltweit (Deutschland: 42), bei mobilen Verbindungen liegt China auf Rang 10 weltweit (Deutschland: 32).

Eine Studie des chinesischen Smartphone-Herstellers Huawei aus dem Jahr 2016 attestiert der chinesichen Bevölkerung zudem eine positive Haltung zu digitaler Technik. 82 Prozent stünden digitalen Innovationen positiv gegenüber.

Chinas Wohlstand ist zwar insgesamt noch weit entfernt von dem westlicher Länder, insbesondere den USA. Im Digitalen allerdings genießen Chines*innen infrastrukturellen Wohlstand der Spitzenklasse. Mögen auch teure Konsumgüter bzw. Statussysmbole wie Autos für die Meisten auf absehbare Zeit unerreichbar bleiben, Internet-Dienste sind auch in den entlegensten Regionen verfügbar.

Beispiel Autos: In den USA gibt es 439 Autos pro 1000 Einwohner, in China gerade einmal die Hälfte. Dem steht eine hohe Akzeptanz und tatsächliche Nutzung von E-Hailing-Diensten (Service zur Buchung von öffentlichen Verkehrsmitteln über elektronische Anwendungen) gegenüber. In einer weltweiten Umfrage der Unternehmensberatung McKinsey gaben 90 Prozent der Interviewten in China an, dass sie mindestens einmal pro Woche digital vermittelten Fahrten nutzen.

Überholen im Digitalen

Die Parallelität von Wohlstand und digitalen Entwicklungen entspricht auch dem Kalkül der chinesischen Führung, auf den informationellen Sektor zu setzen. Das Land hat eine digitale Infrastruktur errichtet, auf der diese Entwicklung aufbaut. Ein Beispiel dafür ist der Mobilfunkstandard 5G, bei dem  das Land weltweit führend ist – derzeit beherbergt das Land zwei Drittel aller 5G-Basisstationen der Welt.

Es ist also kein Zufall, dass der Boom der letzten 30 Jahre von Wohlstand und Digitalisierung in China synchron abgelaufen sind. Die Partei-und Staatsführung förderte die heimische Digitalwirtschaft, profitierte zugleich von der Zufriedenheit deren immenser Nut­zerbasis, und übernimmt sogar deren wording: In seiner Rede anlässlich der Verabschiedung des 14. Fünfjahresplans im März 2021 betonte Präsident Xi Jinping die Bedeutung des digitalen Chinas, das Land müsse «schneller daran arbeiten, eine digitale Gesellschaft, eine digitale Regierung und ein gesundes digitales Ökosystem zu entwi­ckeln», forderte er.

Über Chinas technologische Entwicklung, die Digitalisierung und die Digitalkonzerne wird – insbesondere im angelsächsischen Raum – viel geschrieben. In der linken Debatte spielt diese jedoch weniger eine Rolle. Dabei ist es zum Verständnis des modernen Chinas unverzichtbar, auch das digitale China und seine Dynamik im Blick zu behalten. Spielt doch die digitale Sphäre eine entscheidende Rolle für das langfristige Ziel, zu einer technologischen Führungsmacht mit mittlerem Wohlstand für alle zu werden.

Graham Webster ist unbedingt zuzustimmen in seiner Einschätzung: «Das Internet in China entwickelt sich im Kontext eines politischen Regimes, das Mechanismen findet, um eine kontinuierliche Kontrolle zu gewährleisten – nicht eine Regierung, die in eine digital getriebene Revolution schlafwandelt.»

Quellen und Leseempfehlungen:

  • Stahl, Gerhard: China: Zukunftsmodell Oder Albtraum? Europa Zwischen Partnerschaft Und Konfrontation. Bonn: Verlag J.H.W. Dietz Nachf, 2022.
  • Zak Dychtwald: Young China: wie eine neue Generation ihr Land und die ganze Welt verändert. Econ, 2020.
  • Monika Hermann: «Chinas beispielloser Aufstieg». In: Atlas der Globalisierung, 2019, S. 108-111
  • Naisbitt, John, Doris Naisbitt, und Tatjana Halek. Chinas Megatrends: Die 8 Säulen Einer Neuen Gesellschaft. München: Hanser, 2009.