Für Chinas «digitalen Wohlstand» spielt die chinesische Digitalwirtschaft eine wesentliche Rolle. Entstand sie zunächst als Kopie des Vorbilds aus Kalifornien, hat sie sich mittlerweile zu einem eigenständigen Pfeiler der modernen chinesischen Gesellschaft entwickelt. Was Nutzerzahlen, Marktbeherrschung oder die Menge der anfallenden Daten angeht, brauchen sie sich nicht hinter den Originalen aus dem Silicon Valley zu verstecken. Die chinesischen Digitalkonzerne ziehen vergleichbare Summen an Risikokapital an wie deren US-Pendants, sie «schreiben die Regeln in China neu, verändern dabei das Land und schaffen einen Markt, der im Laufe der Zeit enorme Auswirkungen auf den Rest der Welt haben wird», betont Edward Tse, renommierter Experte für die chinesische Wirtschaftsentwicklung (Tse 2016, xii).
Die großen Drei sind Alibaba, Baidu und Tencent (A-B-T der digitalen Wirtschaft in China), aber auch ByteDance (TikTok) und viele weitere wie Didi Chunxing, die private Taxifahrten vermitteln, sind zu Megakonzernen geworden, die Chinas digitale Gesellschaft prägen. Die chinesische Digitalwirtschaft ist gleichzeitig viel stärker abhängig von und verwoben mit der chinesischen Digitalpolitik und den Zielen der Partei- und Staatsführung.
Timo Daum ist Physiker, Hochschullehrer und Sachbuchautor, sein Arbeitsschwerpunkt ist der digitale Kapitalismus.
Die chinesischen Digitalkonzerne sind zu eigenständigen Machtfaktoren in der chinesischen Gesellschaft geworden und ihre Chefs unermesslich reich. Im trotz allem noch «größten Entwicklungsland der Welt», so Präsident Xi Jinping, wird dies zunehmend als Problem angesehen. Die Partei- und Staatsführung hat die Abmilderung «ungleicher Entwicklung» sogar zum Hauptwiderspruch in der chinesischen Gesellschaft erklärt.
Die Anfänge
Kurz nachdem das Internet-Zeitalter in China begann, entstanden auch die ersten Internetfirmen. 1998 wird Tencent in Shanghai gegründet. Kurz darauf, im Februar 1999, geht Tencents QQ-App an den Start. Es ist die erste weite Verbreitung findende Messanging-App in China und löst die bis dahin gebräuchlichen SMS (short message service) ab, die kostenpflichtig über Telefonprovider abgewickelt werden. QQ erfreut sich auch heute noch großer Beliebtheit und verzeichnet 1,3 Milliarden aktive Benutzer*innen pro Monat (monthly active users, MAU). Tencent verantwortet auch WeChat, die vielleicht wichtigste Alltags-App in China, die 2011 eingeführt wurde.
Ebenfalls 1999 gründet Jack Ma Alibaba, ein Business-to-Business-E-Commerce-Unternehmen, das sich mit derzeit 939 MAU zu einem Handels- und Finanzgiganten entwickelt hat. 2003 geht Alibaba mit Taobao an den Start, einer Handelsplattform, die es auch Privatpersonen sowie kleinen Händler*innen und Produzent*innen erlaubt, auf einem Online-Marktplatz präsent zu sein. Im gleichen Jahr übertrifft Alibaba durch sein besseres Eingehen auf die spezifischen Bedürfnisse Chinas den US-Konkurrenten eBay, der schließlich den chinesischen Markt verlässt. 2004 startet Alibabas Alipay und löst einen Boom im Online-Zahlungsverkehr aus. Der Clou: Die Plattform verwaltet getätigte Zahlungen solange treuhänderisch, bis der Kunde mit dem Produkt zufrieden ist.
Im Jahr 2000 wird Baidu gegründet. Kerngeschäft ist der Betrieb der weltweit größten Suchmaschine nach Google mit einem Marktanteil von 76 Prozent im Inland. 2010 zog sich US-Konkurrent Google aus China zurück. Die Gründer, der Softwareentwickler Robin Li Yanhong und der Biologe Eric Xu Yong wurden zu milliardenschweren Internetunternehmern. Baidu gehört neben Alibaba und Tencent zu den «Big Three» der Digitalunternehmen in China.
2009 geht Weibo der Firma Sina Weibo aus Shanghai an den Start. Weibo («Mikroblog») ist die größte Mikroblogging-Seite in China und oft als das chinesische Twitter bezeichnet. Nach dem Verbot von Twitter in China hat Weibo deren Rolle übernommen. Sie hat jetzt 426 Millionen aktive Nutzer*innen.
Im September 2016 tauchte Douyin erstmals auf, eine Kurzvideo-App der Firma ByteDance aus Peking, zunächst unter dem Namen A.me. Mit monatlich 613 Millionen aktiven Nutzer*innen ist es die erfolgreichste chinesische Video-App. Bereits ein Jahr später erfolgte dann der Launch der Variante für den internationalen Markt, sie hört auf den Namen TikTok.
Dabei war der Beginn für Bytedance und seinen Gründer Zhang Yiming durchaus holprig. Noch im Jahr 2018 wurde die erste erfolgreiche App des Unternehmens, Neihan Duanzi («angedeuteter Witz») wegen regimekritischer Inhalte schlicht verboten.
Populär und unsicher: WeChat
An erster Stelle der alltagsbestimmenden Apps steht unangefochten WeChat oder Weixin, wie es in China genannt wird. 90 Prozent aller chinesischen Internetnutzer*innen greifen täglich auf diese zentrale Alltags-App der Firma Tencent aus Shenzhen zu. WeChat begann als schlichte Messaging-App und kommt bis heute ohne Empfangsbestätigung aus.
WeChat ähnelt WhatsApp in vielerlei Hinsicht, geht aber im Funktionsumfang darüber hinaus. Zak Dychtwald schreibt: «Ohne WeChat zu verlassen, kann man auf [Funktionen wie in] Facebook, Instagram, Skype, WhatsApp, Yelp, Venmo, ApplePay, Groupon, Uber, Teile von Amazon und eine Vielzahl anderer Dienste zugreifen». Von Reservierungen über Konzerttickets bis hin zu Bitcoin-Versendung und Mobilitätsdienste reicht die Spannbreite (Dychtwald, S. 13).
WeChat «Moments» erinnern stark an Stories bei Instagram, «Channels» hingegen liefern Kurzvideos wie bei TikTok. Ein wichtiges Feature sind die 2017 eingeführten Miniprogramme, die innerhalb der App laufen und es Benutzer*innen ermöglichen, mit anderen Diensten zu interagieren. Diese Mini-Apps in WeChat werden schnell geladen, da sie nicht über den App Store installiert werden müssen und machen WeChat zu einer App-Plattform innerhalb der App selbst.
Mit 1,5 Milliarden täglich versendeten Nachrichten, 1,26 Milliarden aktiven Benutzer*innen pro Monat (MAU) und 3 Millionen Unternehmen, die WeChat geschäftlich nutzen, ist WeChat derzeit die Nummer eins unter den Instant-Messaging-Anwendungen der Welt. Es fungiert mittlerweile als soziales Medium kombiniert mit zahlreichen Anwendungen wie E-Commerce und Bezahlvorgängen. WeChat Pay verarbeitet über eine Milliarde Geldtransfers täglich.
WeChat-Nachrichten sind nicht wie bei WhatsApp Ende-zu-Ende verschlüsselt. Die Benutzer*innendaten von WeChat werden den chinesischen Regierungsbehörden auf Anfrage zur Verfügung gestellt, diese können im Prinzip nicht nur die Metadaten (wer, wann, an wen, etc.) sondern auch die Inhalte lesen. Aus Datenschutz-Gesichtspunkten ist ausgerechnet eine der populärsten Apps der Welt mangelhaft, die Mozilla-Foundation rät sogar ganz von ihrer Nutzung ab – für Chinesinnen und Chinesen vermutlich keine Option. Sie zählen Vorkommnisse wie Lecks von Hunderten Millionen privater Chat-Protokolle, kürzlich gemeldete Verbote von LGBTQ-freundlichen und feministischen Konten sowie mutmaßliche Überwachung durch chinesische Regierungsbehörden als «Deal Breaker» auf.
Mobiles Bezahlen ersetzt Bargeld
Die Standardfrage beim Bezahlen in allen möglichen Geschäften, auch bei Straßenständen oder Taxis, lautet: Alipay oder WeChat? Chinesische Zahlungs-Apps erfreuen sich großer Beliebtheit. Im Dezember 2020 gab es in China rund 852,5 Millionen eindeutige mobile ZahlungsnutzerInnen. Und im Jahr 2020 stieg die Zahl der mobilen Zahlungstransaktionen in China auf rund 123,22 Milliarden. Alipay und WeChat Pay haben Bargeld weitgehend abgelöst.
Kontaktloses Bezahlen mittels QR-Codes ist Standard in China. Es ist völlig normal, sowohl online als auch offline Eintrittskarten, Zugtickets oder Hotelzimmer mit dem Smartphone zu bezahlen. Auch das Teilen von Rechnungen mit Freunden und das Versenden von «roten Päckchen» (bei WeChat), einer chinesischen Tradition entsprechend, zu bestimmten Anlässen kleine Geldgeschenke zu senden, gehört zum Alltag. AliPay von Alibaba aus Hangzhou ist die populärste Bezahl-App mit derzeit 640 Millionen aktiven Benutzer*innen pro Monat (MAU).
Das offene Betriebssystem Android von Google dominiert in China mit einem Anteil von 80 Prozent aller Smartphones – ähnlich wie im Rest der Welt. Da der Google Play Store in China nicht verfügbar ist, übernehmen eine Vielzahl Android App Stores die Funktion. Führender App Store ist der Huawei App Market Store mit derzeit 530 MAU.
Entwicklungen durch die Pandemie
China war das erste Land weltweit, das im Februar 2020 eine landesweite Kontaktverfolgungs-App veröffentlichte. Entwickelt hatten die «Gesundheitscode»-App die Techfirmen Alibaba und Tencent. Benutzer*innen der App greifen über Alipay oder WeChat auf diese zu, wobei deren vollständiger Name, Telefonummer und eine ID registriert wird. Sie speichert persönliche Daten wie Reisehistorie, Wohnort und Krankenakten. Die Anwendung dokumentiert den Gesundheitszustand der Person in Echtzeit und generiert einen QR-Code, der die Risikostufe als rot, gelb oder grün identifiziert.
Die chinesische App ist jedoch anfällig für Missbrauch. Obwohl es gesetzlich verboten ist, den Status der App aus anderen als medizinische Gründen zu ändern, wurden Fälle berichtet, in denen Einzelpersonen oder Gruppen aus politischen Gründen Statusänderungen, die zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit führen, oktroyiert wurden. Die Apps erfreuen sich dennoch hoher Akzeptanz in China, 80 Prozent stehen diesen überwiegend positiv gegenüber, wohingegegen es nur 39 Prozent in den USA und 41 Prozent in Deutschland sind.
Corona-Apps in Deutschland hingegen wurden viel später entwickelt, ihr Design und ihr Umgang mit Daten von Anonymität, Freiwilligkeit und Datenschutzüberlegungen geprägt. Ihre Akzeptanz und ihre tatsächlicher Nutzen blieben allerdings auch weit hinter der chinesischen zurück.
Die Entwicklung verdeutlicht die enge Verzahnung der staatlichen Gesundheitspolitik mit den Diensten privater Unternehmen, sowie umgekehrt deren Indienstnahme für bzw. Unterordnung unter Kampagnen, Aktivitäten und gesellschaftspolitischen Zielsetzungen Chinas. In der Pandemie hat sich diese Entwicklung noch verstärkt.
Und es hat sich zum bedeutenden wirtschaftlichen Faktor entwickelt. In Hangzou erhielt kürzlich ein Joint Venture zwischen der E-Commerce-Gruppe Alibaba und zwei staatlichen Unternehmen einen 12-Monats-Vertrag zum Betrieb des Contact-Tracing-Systems, das auf 25.000 Informationsabfragen pro Sekunde ausgelegt ist.
Eroberung des digitalen Weltmarkts
Die chinesische Digitalwirtschaft ist gereift, ihre Apps etabliert. Enstanden deren Anwendungen zunächst oft als Kopien der kalifornischen Originale, gelang es ihnen doch, in China eine marktbeherrschende Stellung zu erreichen – nicht zuletzt durch eine Politik der Abschottung, die die US-amerikanische Konkurrenz früh dazu veranlasste, sich aus China zurückzuziehen. Mittlerweile haben sie sich auf dem größten digitalen Binnenmarkt der Welt konsolidiert. Nach einer Phase des Kopierens und der Abschottung des Binnenmarkts, gefolgt von einer Phase des Wachstums und der Etablierung auf dem heimischen Markt, folgt nun einen dritte Phase: Die Eroberung des digitalen Weltmarkts.
Bislang erfolgreichstes Beispiel für diese Internationalisierung ist TikTok. Seit September 2017 ist die auf den internationalen Markt zielende Variante von DouYin aus dem Hause ByteDance im Apple Store und im Google Play Store abrufbar. Ganze 3 Milliarden Male wurde TikTok seitdem weltweit heruntergeladen, keine andere App erreichte so schnell wie TikTok die Marke von einer Milliarde Nutzer*innen. Mit derzeit ca. 1,4 Milliarden aktiven Nutzer*innen pro Monat gehört sie zu den erfolgreichsten Apps aller Zeiten.
TikTok steht für eine dritte Phase in der Entwicklung der chinesischen Digitalwirtschaft. Neben WeChat ist TikTok ein weltweit bekanntes Beispiel für eine chinesische App, die sich von ihren Vorgängern und Vorläufern aus dem Silicon Valley emanzipiert hat. Der heute 37-jährige Gründer Yiming betonte kürzlich in einem Interview: «Wir sind kein Nachahmer eines US-Unternehmens, weder in Bezug auf das Produkt noch auf die Technologie.» Samm Sacks vom Center for Strategic and International Studies stellt in einer Analyse fest: «Erstens sind Chinas Internetunternehmen nicht länger bloße ‹Nachahmer› oder Klone westlicher Unternehmen. Zweitens unternehmen chinesische Internetunternehmen einen massiven Vorstoß, um auf globale Märkte zu expandieren.»
Mittlerweile versuchen wiederum internationale Firmen, Trends in China auszumachen und Konzepte chinesischer Startups zu übernehmen.
Quellen und Leseempfehlungen:
- Edward Tse, China's disruptors : how Alibaba, Xiaomi, Tencent and other companies are changing the rules of business. London: Portfolio Penguin, 2016.
- Graham Webster, "A brief history of the Chinese Internet", In: Logic magazine, Issue No. 7 "China, 2018, S. 25-36.
- Zak Dychtwald, Young China: wie eine neue Generation ihr Land und die ganze Welt verändert, Econ, 2020.
- Daniel Leisegang, TikTok oder: Der digitale Kalte Krieg, Blaetter, November 2020,