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Salme/Ruete, koloniales und kolonialisiertes Subjekt zugleich

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Autorin

Tania Mancheno,

Emily Ruete, geboren als Sayyida Salme bint Said ibn Sultan, abgebildet in traditioneller omanischer Kleidung. Das Bild wurde vermutlich 1886 gemacht, um in ihrer Autobiografie «Memorien einer arabischen Prinzessin» abgedruckt zu werden. CC BY 4.0, Foto: Leiden University Libraries

Im Jahr 2019 wurde ein Platz in einem Hamburger Wohngebiet nach Emily Ruete benannt. Ursprünglich wurde diese Entscheidung im neu gebauten Finkenau-Quartier als Antwort auf die überwiegend nach Männern benannten Straßen getroffen (Grüne Hamburg-Nord 2019).  Denn in Hamburg waren im Jahr 2011 nur 310 der über 8.800 Straßen, also rund 12 Prozent, nach Frauen oder weiblich konnotierten Fantasiefiguren benannt (Bake 2011: 1–2). Eineinhalb Jahre später wird über die Platzbenennung diskutiert. Akteur*innen der Zivilgesellschaft kritisieren zu Recht Ruetes unreflektierte, eigene Privilegien und Betroffenheiten ausblendende Haltung zur Versklavung und den anti-Schwarzen Rassismus (Arndt et al. 2018), die sie in ihren Werken – den 1886 auf Deutsch veröffentlichten «Memoiren einer arabischen Prinzessin» und der erst 1999 herausgegebenen Sammlung «Briefe nach der Heimat» – reproduzierte.

Tania Mancheno ist Dozentin für politische Geografie und kritische Kriminologie an der Universität Hamburg. Im Jahr 2019 verteidigte sie ihren Doktortitel mit einer englischen Arbeit, betitelt «Multiculturalism and the Politics of Translation» (voraussichtlich 2022). Mancheno konzipiert seit 2014 dekoloniale Stadtrundgänge für die Stadt Hamburg und ist wissenschaftlich assoziiert an der Forschungsstelle «Hamburgs (post-)koloniales Erbe/Hamburg und die frühe Globalisierung». Dieses Jahr erscheint ihr Sammelband «Dekoloniale Perspektiven. Widerständige nicht-weiße Erinnerungskultur» (VSA, 2022).

Die lokale Diskussion, die inzwischen international rezipiert wird (siehe z. B.: Iken 2020; Neumann 2020; Schmoock 2022), lässt sich unter folgende Frage subsumieren: Ist Emily Ruete, geborene Sayyida Salme bint Said ibn Sultan, Prinzessin von Oman und Sansibar, eine erinnerungswürdige Frau, oder soll ihr Name aus dem öffentlichen Raum verbannt werden? Die Kontroverse beleuchtet den politischen Charakter der Erinnerungskultur und sucht nach einem moralischen Maßstab für die öffentliche Erinnerung an eine Person, die privilegiert und von Rassismus betroffen zugleich war.

Im vorliegenden Beitrag soll die Intersektion (Kelly 2019: 11) von Gender, Klasse und Race in Salmes/Ruetes Biografie analysiert werden. Gerade die Intersektion macht aus der kosmopolitischen Frau eine ambivalente historische Figur, die vielerlei gesellschaftliche Positionen innehatte. Sie war eine ausländische Prinzessin des Omani-Sansibarischen Reiches, die zur weltbekannten Schriftstellerin und zur Afrikanisch-Deutschen Sklavenbesitzerin wurde. Ausgehend von diesen geografischen und politischen Überkreuzungen werden die diasporischen Dimensionen in ihrem Leben und Werk rekonstruiert, um theoretische Anregungen für eine Erinnerungskultur zu formulieren, die informierte, inklusive und intersektionale Erinnerungslandschaften zu kreieren sucht.

Salme/Ruete: Zwei Biografien einer Frau

Kaum eine Biografie einer nicht-weißen deutschen Frau des 19. Jahrhunderts ist aus erster Hand so gut dokumentiert wie die von Salme/Ruete (1844–1924). Salme und Ruete sind Namen einer selbstbewussten, intelligenten, entscheidungsfähigen Frau, die innerhalb eines streng regulierten Palasts zusammen mit ihrer Mutter Jilfidan – einer versklavten kaukasischen Frau und einer der Ehefrauen des Sultans von Oman und Sansibar – lebte. Innerhalb eines Harems aus weiteren siebzig jungen und erwachsenen Frauen wuchs sie privilegiert auf. Sie überwand patriarchale und sexistische Grenzen, indem sie sich selbst Lesen und Schreiben beibrachte, in einer Zeit, in der Bildung für Frauen auf Sansibar wie in Deutschland sozial geächtet oder gar untersagt war (Vielreicher 2020). Die Prinzessin von Sansibar und Hamburgerin Ruete setzte ihre Fähigkeiten für palastinterne Verhandlungen ein, um ihre geheime Migration in Begleitung von Dienerinnen und mit Unterstützung einer verborgen bleibenden Helferin zu planen (ebd.). Sie gewann zwar an sozialer Mobilität, jedoch kann ihre Konversion auch als eine Strategie verstanden werden, der Diskriminierung von Muslima zu entkommen (Gelvin/Green 2014: 2). Ihre angenommene Religion bildete eine Übersetzung ihrer Identität, die, wie sie später beklagte, aber nie gelingen konnte.

Sie floh im Jahr 1866 nach Hamburg, dem Geburtsort ihres Ehemannes Rudolph Heinrich Ruete, der für die Firma Hansing & Co. arbeitete und im Kolonialhandel mit Muscheln als Währung aktiv war. Trotz der Privilegien von Europäer*innen auf Sansibar sowie ihrer eigenen war die Beziehung mit einem Christen in einer muslimischen Gesellschaft ein Skandal (Ruete 1886, Bd. 2: 141–142). Auf dem Weg nach Deutschland konvertierte sie und ließ sich umtaufen (Velde/Vrolijk 2018). 1872 erwarb sie die deutsche Staatsangehörigkeit und lebte bis zu diesem Jahr in Ruetes Villa in Hamburg (Kornes 2021).

Die dreimonatige Reise im Jahr 1866 war für Salme/Ruete traumatisierend, da sie währenddessen ihr erstes Kind verlor. Die Ruetes bekamen drei weitere Kinder: Antonie, Rudolph und Rosalie. Doch drei Jahre nach der Ankunft und kurze Zeit nach der Geburt des jüngsten Kindes starb der Ehemann. Salme/Ruetes Leben als verwitwete Frau war schwieriger als das einer zwar privilegierten, aber exotisierten Migrantin. Ohne ihren Mann wurde sie von der Hamburger Gesellschaft, die zuvor an ihr zunehmend interessiert war, nun gemieden (Ruete 1999: 24). Aufgrund der Entfremdung, der sie ausgesetzt war (Ruete 1886, Bd. 2, 144–145), zog sie weiter nach Dresden, Köln, Rudolstadt und Berlin. Im Jahr 1888 emigrierte sie nach Jaffa und Jerusalem und lebte von 1892 bis 1914 in Beirut. Später ging sie nach Deutschland zurück und starb im Beisein ihrer deutschen Kinder in Jena; im Familiengrab der Ruetes in Hamburg-Ohlsdorf wurde sie beerdigt. Heute wird an sie in mehreren dieser Städte erinnert.

Die Salme/Ruete gewidmeten Erinnerungsorte und ihre Migrationserfahrungen verbinden Asien, Afrika und Europa jenseits einer Nation(alität). Auf Sansibar wurde in Hurumzi vor einigen Jahren das Princess Salme Museumeröffnet.[1] Dort wird sie als lokale Prinzessin und weltbekannte Schriftstellerin gewürdigt. In Hamburg, einige Meter entfernt vom Familiengrab, befindet sich eine durch den Frauenverein Garten der Frauen im Jahr 2000 errichtete «Gedenkstätte».[2] Anlässlich des «Europäischen Jahres der Chancengleichheit für alle» 2007 wurde für Salme/Ruete dort ein Gedenkstein aufgestellt. Während andere Inschriften Titel oder Berufsbezeichnung der Frauen erwähnen, ist ihre Inschrift mit dem Wort «Zuwanderin» versehen. An der lebendigen Erinnerungskultur des Gartens beteiligen sich Tourist*innen aus anderen Ländern, die in einer Art Pilgerreise Salmes/Ruetes Grab besuchen, um ihrer Person zu gedenken.

Gleichermaßen sind ihre «Memoiren», die zum globalen Bestseller wurden, zwischen Welten zu situieren: Salme/Ruete gilt mit diesem Werk als Pionierin in der arabischen (Reynolds 2001: 8) sowie ostafrikanischen Literatur (Mohamud 2019). Englische Übersetzungen dieser Autobiografie wurden 1989, 1998, 2007 und zuletzt 2013 herausgegeben.

Katherine Maxwell erklärt in ihrem Essay über Salme/Ruete, die Schriftstellerin habe durch ihre Autobiografie und ihre Briefe zum Wissensaustausch zwischen Sansibar und Deutschland beigetragen (Maxwell 2015: 37). So schrieb sie: «Ich will […] nur versuchen, den europäischen Leser für die wichtigeren Anschauungen und Sitten des Orients ein richtigeres Verständnis zu ermöglichen» (Ruete 1886, Bd. 1: 179). Durch das Zirkulieren von Wissen hinterfragt sie die koloniale Differenz zwischen einem vermeintlich gefährlichen Orient und einem zivilisierten Westen, und sie versucht die gewaltvolle Unterscheidung zwischen «dem Westen und dem Rest» (Hall 1994: 179) zu überbrücken. Mithilfe ihrer Kenntnisse des Arabischen und des Kisuahelis beteiligte sie sich an den damals sonst nur Männern vorbehaltenen kolonialwissenschaftlichen Debatten von Orientalisten und Kolonialgouverneuren.

Die «Frau der multiplen Identitäten» (Maxwell 2015: 37) stellt hinsichtlich der Mobilität von Frauen aus dem globalen Süden im 19. Jahrhundert eine Ausnahme dar. Salme/Ruete gilt als eine Stifterin der früheren Globalisierung, da sie Unvereinbarkeiten zwischen Zivilisationen zu überwinden versuchte. In ihren «Memoiren» (Ruete 1886, Bd. 1: 179) schrieb sie den relevanten Satz: «[E]s wird mir doch nicht gelingen, die schiefen und falschen Ansichten, welche in Europa und besonders in Deutschland über die Stellung einer arabischen Frau gegenüber ihrem Manne im Schwunge sind, gründlich auszurotten.»

Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Firat Oruc beschreibt Salme/Ruete als Einheimische und Fremde Europas und Afrikas, die eine «linguistische, kulturelle, religiöse und materielle» Übersetzung unternahm. Nach Oruc verkörperte sie sogar eine Übersetzung (Oruc 2019: 1), indem sie die unterschiedlichen kulturellen Kontexte, die sie bewohnte, einer transgenerationalen Leserschaft zugänglich machte.

In diesem Zusammenhang ist es schwierig, Salme/Ruete eine feministische Lesart abzusprechen, wie es die kritischen Stimmen suggerieren. Da Feminismus und Rassismus weder politisch noch diskursiv genug voneinander abgegrenzt sind (Lennox 1995: 136), kann Salme/Ruete zugleich als Feministin und als Rassistin eingestuft werden, also als eine von Rassismus und Sexismus betroffene und zugleich von Rassismus profitierende Person, ohne dass es sich um einen Widerspruch handelt. Das zeigt die Komplexität der Rollen von nicht-weißen Frauen während des deutschen Kolonialismus.

Der ursprüngliche Verrat der kulturellen Übersetzerin

Salmes/Ruetes Erzählungen aus dem feminisierten und verschleierten Harem sind einzigartig und zum Teil fantastisch. Bereits im 19. Jahrhundert galten ihre Schriften als «fairytale from A Thousand and One Nights made real» (Kersten 1869: xvi). Sie teilt «Details über das tägliche Leben in einem arabischen [hochprivilegierten, TM] Haus», allerdings erklärt sie, dass ihre Beschreibungen über «das Leben der Orientalen» nicht frei von europäischen Vorurteilen sind (Ruete 1886, Bd. 1: 63).

Auch heute prägen eurozentrische Fantasien das weltweite Interesse an Salme/Ruete (Roy 2015: 17). Die von ihrem Leben inspirierten Romane wie: «Sansibar Blues oder wie ich Livingstone fand» (2008) von Hans Christoph Buch, «Sterne über Sansibar» (2010) von Nicole C. Vosseler, «From Sansibar with Love: Meine unmögliche Affäre in Afrika» von Andrea Tapper und Ahmed Ally (2015), aber auch der Dokumentarfilm «Die Prinzessin von Sansibar»(2007) von Tink Diaz bringen ein kolonialgeprägtes Begehren nach kultureller Differenz zum Ausdruck. Der einflussreiche Literaturtheoretiker und Mitbegründer Postkolonialer Theorien Edward Said bezeichnet diese epistemische Haltung als «Orientalismus» (Said 2012: 12).

Ebenso erfuhr Salme/Ruete im Leben Exotisierung. In ihren «Memoiren» und «Briefen» dokumentierte sie unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen. Sie bezeichnete ihre Zeit in Hamburg als «vom Unglück verfolgt», und obwohl sie von der Gastfreundschaft in anderen deutschen Städten berichtete, nannte sie sich «nur ein[en] Fremdling in Deutschland» (Ruete 1886, Bd. 2: 144–145, 187). Sie drückte mehrfach ihre Frustration über die deutsche Gesellschaft aus, die sich weigerte, ihr ihre Rechte und ihr Erbe zuzugestehen (Maxwell 2015: 42). Jedoch machte Salme/Ruete deutlich, dass ihre Empörung über ihre soziale Ausgrenzung auf ihr Klassenverständnis zurückzuführen war.

Als ernannte Tochter des Sultans (bint Sultan) profitierte Salme/Ruete von Menschenhandel und von Versklavungsarbeit auf den Plantagen, worauf der Reichtum des Sultans vor der Besatzung der Insel im Jahr 1888durch deutsche Truppen beruhte (Sheriff 1987). Sie wuchs in einem muslimischen Reich auf, das unterschiedliche Versklavungsverhältnisse tolerierte und, im Gegensatz zum europäischen Versklavungsmonopol, auch weiße Menschen entführte (Lohdi 1973: 5). Salmes/Ruetes Biografie ist von der damaligen Zwangsmigration von Frauen aus der Region Karatschai-Tscherkessien nach Sansibar geprägt. Jedoch stand sie nicht am Ende der Ausbeutungsverhältnisse.

Salme/Ruete stand ihrem Status, aus dem sie direkten Nutzen zog, kritiklos gegenüber. Stattdessen äußerte sie sich mehrfach unmenschlich und abscheulich über Schwarze Afrikaner*innen. In den Kapiteln «Auf einer Plantage»(Bd. 1) und «Die Sklaverei» (Bd. 2) aus den «Memoiren» beschrieb sie die Ausbeutung von Menschen unter Zwang, Bestrafung und widrigsten Lebensbedingungen als selbstverständlich und lehnte die Abschaffung der Versklavungsverhältnisse ab.

Salme/Ruete reproduzierte anti-Schwarzen Rassismus sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Ihr Weltbild war, wie bei vielen Hamburger*innen ihrer Zeit, von Kolonialrassismus und Klassismus geprägt.So reflektierte sie bespielweise nicht über die menschenfeindliche «Rassenlehre», die in ihrer Lebenszeit an deutschen Universitäten gelehrt und in den Kolonien propagiert wurde (El-Tayeb 2020; Vaagt 2021). Als Bürger*innen der Hansestadt profitierten die Ruetes zudem vom Handel mit Sansibar, der zwischen 1864 und 1865, 34,5 Prozent von Hamburgs Importen ausmachte (Maxwell 2015: 40).

Erwähnenswert ist jedoch, dass sie in ihren «Memoiren» eine moralisch motivierte Ablehnung der Versklavung kritisierte. Nach Salme/Reute braucht ein humanistischer Diskurs ein gesellschaftliches Projekt der Ent-Sklavung. Sie spricht von der Notwendigkeit, eine Integration aller Klassen zu konzipieren, um Arbeit ohne Ausbeutung zu sichern (Ruete 1886, Bd. 2: 79). Außerdem denunziert sie die illegale Fortsetzung der Versklavung auf Sansibar durch die Europäer*innen.

Es ist fraglich, ob ihr Publikum von damals (und heute) ihre Bücher gelesen hätte, wenn Salme/Ruete sich vom anti-Schwarzen Rassismus distanziert hätte. So wie er in ihren Schriften formuliert wird, verdeutlicht er meiner Lektüre nach vor allem ein Beharren darauf, der weißen christlichen Elite zuzugehören, jener also, die von der Versklavungsökonomie massiv profitierte. Sie agierte als kulturelle Übersetzerin, indem sie aus einer frauenzentrierten Perspektive für eine europäische Leser*innenschaft schrieb, um die koloniale Wahrnehmung Sansibars durch ihren aristokratischen Blick zu enthüllen. In ihren «Memoiren» legte sie ihre Motivation offen, dem europäischen Orientalismus eine eigene Beschreibung gegenüberzustellen, wodurch sie eine – wenn auch elitäre – Kommunikation zwischen den Weltregionen anstrebte (Ruete 1886, Bd. 1: 180). Und diese Position ist äußerst politisch.

Ambivalente Identitäten: Zum Verrat verurteilte Kolonialakteurinnen?

Salme/Ruete hatte in der deutsch-tansanischen Kolonialzeit eine zwiespältige Position inne, die sie wie folgt beschrieb: «Eine schlechte Christin und etwas mehr als eine halbe Deutsche!» (Ruete 1886, Bd. 2: 166). Zu den Rollen der Prinzessin, Kosmopolitin und Ausgegrenzten, Schriftstellerin, Mutter, anti-Schwarzer Rassistin, und – als die eigenen Rechte determinierendes Subjekt – der Feministin addieren sich ihre Migrationen. In den internationalen Kolonialbeziehungen (heute Nord-Süd-Beziehungen) sowie innerhalb der rassifizierten Schwarz-weiß-Hierarchie ist ihre Position ambivalent.

Der Philosophin und Mitbegründerin Postkolonialer Theorien Gayatri Chakravorty Spivak zufolge werden Indigene Frauen mit der Rolle der Verräterin assoziiert, weil die Vermittlungsfunktion zwischen Kolonialagent*innen und Kolonisierten historisch überwiegend von ihnen erfüllt wurde (Spivak 2009: 19). In der Geschichte des frühen europäischen Kolonialismus wird die Rolle der Verräterin von La Malinche personalisiert. Wie Salme/Ruete war die wahrscheinlich unter dem Namen Malintzin geborene Frau eine nicht-weiße Frau aus dem globalen Süden (Mexiko), die von einer verfeindeten Community versklavt und später zur Ehefrau des brutalen Kolonialisten Cortéz wurde. Heute wird an sie unkritisch als seine Übersetzerin und deshalb als Verräterin Mexikos erinnert (Lanyon 1999). Auch der Denker des Antikolonialismus Frantz Fanon situiert kolonialisierte Frauen, besonders Muslima, in einer Übersetzerinnenrolle (Fanon 1965). Er beschreibt die Kleidungsstrategien, die algerische Frauen verwendeten, um die Checkpoints der französischen Kolonialsoldaten zu überqueren und die von der Kolonialmacht als verräterische Praxen verurteilt wurden (Fanon 1965: 44-45).

In Salmes/Ruetes Biografie findet sich ein vergleichbares Urteil über feminisierte Identitäten in Kolonialkontexten wieder: Da sie als kulturelle Übersetzerin im Kolonialreich agierte, begleitet das Motiv des Verrats sie im Leben und nach dem Tod. Salme/Ruete war weder Akteurin des antikolonialen Widerstandes, noch genoss sie die gleichen Privilegien wie weiße Frauen in den Kolonien. Aufgrund ihrer Zwangsmigrationen aus ihrem Geburtsort und später aus einer ehemaligen deutschen Kolonie gilt sie sowohl als migrantisierte Frau als auch als Kolonialagentin.Sie litt am und profitierte vom Kolonialismus zugleich.

Salme/Ruete war den Prinzipien der sansibarischen Gesellschaft «untreu», indem sie sich selbst Lesen und Schreiben beibrachte und mit einem weißen Deutschen Kinder hatte. Ihre Konversion galt als Verrat am Islam. Als konvertierte Christin wurde ihr zugleich misstraut. Sie selbst bezeichnete sich als «Renegatin» (Ruete 1886, Bd. 2: 81).Darüber hinaus wurde sie von Machtinstanzen erniedrigt: Einerseits nutzte Reichskanzler Otto von Bismarck ihre Reiserlaubnis nach Deutsch-Ost-Afrika im Jahr 1885 aus, um deutsche Kolonialinteressen zu sichern (Neumann 2020). Andererseits wurde ihr Versuch, ihren zum Sultan ernannten Bruder in London zu treffen, von den Behörden boykottiert. In Erinnerung an diese Zeit beschrieb sie, wie Nationalgrenzen jenseits von Passkontrollen wirken und sogar den Körpern nicht-weißer Menschen in Europa innewohnen. In ihren Worten (Ruete 1886, Bd. 2: 154–155): «Hat die englische Regierung […] nicht gewusst, daß […] ich die deutsche Staatsangehörigkeit besitze? […] [U]nd habe ich […] mein Versprechen nicht ebenso peinlich erfüllt, als wenn ich […] Mrs. Brown hieße? […] [A]ls ich in der Lage war, mich meinem Bruder […] zu nahen, da war ich nicht die Deutsche, […] sondern die Schwester des Sultans, die englischem Interesse hätte schaden können.» Da ihr die Anerkennung als Bürgerin gleichermaßen in Deutschland versperrt blieb, verließ sie das Land.

Die umstrittene Erinnerungskultur zu Salme/Ruete behandelt die Platzbenennung wie eine unmoralische Tat, die sofortiger Wiedergutmachung bedarf. In diesem Zusammenhang spielt das Motiv des Verrats erneut eine Rolle: Ihre Identität wird auf einen Aspekt reduziert. Sie ist die «Exotin», «Zuwanderin» oder «Sklavenhalterin». Dabei setzt sich die selektive Aneignung ihrer Geschichte, die sie in ihren Schriften beklagt, fort. Doch anstatt sie als eine «halbe Deutsche» oder als eine erinnerungsunwürdige Persona abzustempeln, kann an sie als eine Frau erinnert werden, die gegen den anti-muslimischen Rassismus argumentierte, doch den deutschen Kolonialismus und die Versklavung befürwortete. Sie könnte als eine nicht-weiße Schriftstellerin aus Hamburg erinnert werden, die sich von der Entmenschlichung Schwarzer Menschen nicht distanzierte. Eine feministische Erinnerungskultur setzt Salmes/Ruetes Rolle als kulturelle Übersetzerin nicht mit der einer Verräterin des Humanismus gleich.

Salme/Ruete, die den Bruch mit ihrer Heimat als notwendig für ihre Integration bezeichnete, wenn sie im Vorwort ihrer «Memoiren» schrieb, dass ihre Kinder «bis dahin von meiner Herkunft weiter nichts wussten, als daß ich eine Araberin sei und aus Zanzibar stamme» (Ruete 1886, Bd. 1), ist eine außergewöhnliche Hamburgerin, die einige patriarchale Grenzen überwand und andere markierte. Sie beschrieb, verkörperte und reproduzierte Rassismus. Ihre Schriften sind aber auch historische Quelle des deutschen Kolonialismus und eine Zeugenschaft des Rassismus im 19. Jahrhundert. Sie liefert einen Bericht über die schwierige, gar unmögliche Integration in die deutsche Gesellschaft. Ihreauf Herkunft und Religion zurückzuführenden Diskriminierungserfahrungen sowie ihr sozialer Abstieg erzählen eine lange Rassismusgeschichte in Deutschland: Weder Namensänderung noch religiöse und kulturelle Konversion waren ausreichend. Trotz ihrer Sprachkenntnisse und der finanziellen und intellektuellen Beiträge, die sie leistete, wurde sie nicht als zum Land gehörend behandelt.

Im Kapitel über die «Stellung der Frau im Orient» (Ruete 1886, Bd. 1) beschrieb Salme/Ruete die deutsch-sansibarischen kolonialgeprägten Beziehungen anhand der Involvierung von drei Generationen von Frauen ihrer Familie. Ihre Einblicke in eine subalterne und privilegierte frauenzentrierte Geschichtsschreibung sind zu der Zeit (aber auch heute) selten zu finden. Eine kritische Erinnerungskultur könnte diese Aspekte ihrer Biografie hervorheben und trotzdem nicht vergessen, dass ihre Schriften eine Quelle des globalen anti-Schwarzen Rassismus darstellen.

Eine reflektierte Würdigung der ambivalenten Akteurin des deutschen Kolonialismus kann keine der vorhandenen Erinnerungsformen in Hamburg leisten. Jedoch könnte die Platzumbenennung den Eindruck erwecken, dass die Anzahl von würdigungswerten Frauen dramatisch gering ist: Darf nur an diejenigen Schriftstellerinnen des globalen Südens und nicht-weißen Bürgerinnen erinnert werden, für die eine kohärente Widerstandsvision und -praxis nachweisbar sind? Die Umbenennung verbannt eine Frau aus den männlich und kolonial geprägten Erinnerungslandschaften und erhebt einen moralischen Anspruch, der mit den widersprüchlichen Handlungen von Menschen inkompatibel ist.

Seit der offiziellen Position seitens des Senates über die Aufarbeitung des kolonialen Erbes der Stadt im Jahr 2014 wurde kein kolonialgeprägter Straßenname umbenannt. Es entstehen sogar neue Plätze nach bereits im Stadtbild vorhandenen Kolonialverbrechern wie Amerigo Vespucci. Dagegen droht Salme/Ruete nach nur zwei Jahren wieder zu verschwinden. Die gesetzten Prioritäten für eine Beschönigung der Erinnerungslandschaften sind schwer nachzuvollziehen. Jedoch kann nach der Acht-Millionen-Euro-Restaurierung des Bismarckklotzes in Hamburg nichts mehr schockieren.

Falls es zu der Umbenennung kommt, könnten die Straßenschilder des Emily-Ruete-Platzes im Museum für Hamburgische Geschichte untergebracht werden, anstatt sie im Mülldepot der Stadt zu entsorgen, wo die ausgetauschten Straßenschilder landen, die für die postkolonialen Landschaften Hamburgs zu schmutzig geworden sind.

Der Beitrag basiert auf dem von der Autorin für das Staatsarchiv Hamburg 2019 verfassten Gutachten zur Einordnung der Person Emily Ruete / Sayyidah Salme im kolonialen Kontext ihrer Zeit; siehe: Tania Mancheno: Ambivalente Identitäten – Salme/Ruete, koloniales und kolonialisiertes Subjekt zugleich, Transparenzportal Hamburg, 9.5.2022, unter: https://suche.transparenz.hamburg.de/dataset/gutachten-sayyidah-salme-bint-said-ibn-sultan-emily-ruete?forceWeb=true.

Literatur

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Bezirksversammlung Hamburg-Nord, Protokoll zur Umbenennung des Emily-Ruete-Platzes. Gemeinsamer Antrag von GRÜNE- und SPD-Fraktion, Auszug, 21.9.2020, unter: https://sitzungsdienst-hamburg-nord.hamburg.de/bi/to020.asp?TOLFDNR=1023607#allrisWP.

El-Tayeb, Fatima (2020): Schwarze Deutsche. Der Diskurs um «Rasse» und nationale Identität 1890–1933, Frankfurt am Main.

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[1] Princess Salme Museum at Emerson on Hurumzi, unter: www.facebook.com/Princess-Salme-Museum-at-Emerson-on-Hurumzi-623236327819898/.

[2] Garten der Frauen e. V.: Rede zum 6. Geburtstag des Gartens der Frauen, 8.7.2007, unter: www.garten-der-frauen.de/rede_6geb.html.