Nachricht | Rassismus / Neonazismus - Parteien / Wahlanalysen - Westeuropa Giorgia Meloni ist das neue Gesicht des italienischen Politikchaos

Die rechtsradikale Parteichefin ist drauf und dran, die Wahl nächste Woche zu gewinnen, aber wie lange kann sie sich halten?

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Giorgia Meloni spricht auf einer Wahlkampfveranstaltung in Turin, Italien, September 2022. Foto: IMAGO/Mauro Ujetto

Italiens Demokratie ist notorisch gespalten, wobei Parteien im Vergleich zu seinen europäischen Nachbarn in einem verblüffenden Tempo entstehen, zerbrechen und sich reformieren. Vor allem seit dem Zusammenbruch des Parteiensystems der Nachkriegszeit Anfang der 1990er Jahre sind die Wahlen in Italien vom Aufstieg hitzköpfiger populistischer Führer gekennzeichnet, die die Wähler mit Anti-Establishment-Rhetorik in den Bann ziehen, aber nach ihrer Machtübernahme den politischen Status quo weitgehend beibehalten.

Diesmal scheint es jedoch etwas ernster zu sein. Eine Partei, deren Symbol das Erbe des italienischen Faschismus direkt widerspiegelt, hat beste Aussichten, die Parlamentswahl am 25. September zu gewinnen. Fratelli d’Italia (die „Brüder Italiens“, kurz FdI) wurde 2012 als Neustart der radikalen italienischen Rechten gegründet, nachdem die Koalition um den langjährigen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi zerbrochen war. Sowohl ihr Name als auch ihr Symbol kennzeichnen sie als formale wie geistige Erbin der Alleanza Nazionale (AN), die wiederum die mainstream-konservative Entwicklung des Movimento Sociale Italiano darstellte – der Partei, die zwischen 1946 und 1995 die neofaschistische Minderheit innerhalb des demokratischen Italiens vereinte. Nach 2 Prozent der Stimmen 2013 und 4,4 Prozent 2018 liegt die Partei unter Führung der 45-jährigen Giorgia Meloni nun zwischen 23 und 25 Prozent. Das bedeutet, dass jeder vierte Wähler wahrscheinlich eine Partei wählen wird, die der Tradition der Diktatur von Benito Mussolini so nahe wie möglich steht.

Lorenzo Zamponi ist Assistenzprofessor für Soziologie an der Scuola Normale Superiore in Florenz und Mitherausgeber bei Jacobin Italia.

Genau hundert Jahre nach dem Marsch auf Rom im Oktober 1922, der Mussolini an die Macht brachte, und 77 Jahre nach der Befreiung Italiens vom Faschismus wäre es leicht, Vergleiche mit der Vergangenheit zu ziehen. Ob es sinnvoll wäre, ist allerdings eine andere Frage. Schließlich hat Meloni nicht das Ende der italienischen Republik gefordert und die Millionen Menschen, die vorhaben, für sie zu stimmen, können nicht einfach als hoffnungslose Faschisten abgeschrieben werden. Aber wenn viele Millionen Italiener nicht über Nacht zum Faschismus konvertiert sind, was geschieht dann genau? Wie hat es eine rechtsradikale Partei geschafft, zur führenden Kraft der italienischen Politik zu werden, und welche Folgen könnte sie für die Zukunft des Landes haben?

Umstrukturierung der Rechten

Die von Silvio Berlusconi in den 1990er Jahren geschmiedete rechte Koalition bestand aus vier großen Parteien: Berlusconis eigene liberal-konservative Partei, Forza Italia, diente als Anker, flankiert von der postfaschistischen Alleanza Nazionale (der Vorgängerin von Fratelli d’Italia) auf der rechten Seite, der postchristlich-demokratischen Unione di Centro in der Mitte und der Lega Nord, die im nördlichen Teil des Landes die antizentrale Regierung und die einwanderungsfeindlichen Stimmen sicherte. Dieses Bündnis konnte in den 2000er Jahren weit über 45 Prozent der Wählerschaft erreichen und blieb bemerkenswert stabil.

Doch die Finanzkrise von 2008 in Kombination mit rechtlichen Problemen Berlusconis und Vorwürfen gegen ihn, für Sex mit einer Minderjährigen bezahlt zu haben, löste am Ende des Jahrzehnts den Zerfall seiner Koalition aus, als sich ein großer Teil ihrer Anhänger aus dem Staub machte und sich der neuen populistischen und „weder linken noch rechten“ Formation Movimento Cinque Stelle („Fünf-Sterne-Bewegung“, kurz M5S) anschloss. 2018 wurde die Lega erstmals stärkste Kraft in der rechten Koalition, nachdem sie unter der Führung von Matteo Salvini in eine nationale rechtsradikale Partei nach dem Vorbild von Marine Le Pens Front National in Frankreich umgewandelt wurde. Nach dem Eintritt der Lega in eine parteiübergreifend populistische Koalitionsregierung mit der M5S ging Salvinis Stern weiter auf und gipfelte darin, dass die Partei bei den Europawahlen 2019 erstaunliche 34,3 Prozent der Stimmen gewann.

Salvinis Entscheidung, die Regierungskoalition im August desselben Jahres zu verlassen, in der Hoffnung, seine Popularität in einer vorgezogenen Wahl zu nutzen, die jedoch nie abgehalten wurde, ließ stattdessen die Umfragewerte der Lega abstürzen. Im Herbst 2019 begann die FdI diesen Raum zu füllen und stieg von 8 Prozent im Oktober 2019 auf 10 Prozent im Dezember, 12 Prozent im Februar 2020 und setzte ihren Höhenflug bis heute fort.

Tatsächlich ist die Partei von Giorgia Meloni vor allem auf Kosten ihrer eigenen Verbündeten gewachsen. Seit 2019 schrumpfte der alte rechte Block wieder auf die Unterstützung, die er vor der Krise genoss, also zwischen 45 und 49 Prozent der Wähler. Der einzige wesentliche Unterschied ist, dass die führende Kraft jetzt FdI heißt. In diesem Sinne erleben wir das Comeback desselben rechten Blocks, der Italien mehrfach regiert hat (Giorgia Meloni war tatsächlich von 2008 bis 2011 Jugendministerin im letzten Berlusconi-Kabinett), wenngleich von einer deutlichen Radikalisierung weiter rechts geprägt.

Meloni ist es weder gelungen, eine beträchtliche Zahl von Mitte-Links-Wählern davon zu überzeugen, in ihr Lager zu wechseln, noch den stetigen Rückgang der allgemeinen Wahlbeteiligung zu stoppen, der die italienischen Wahlen in den letzten zwei Jahrzehnten heimgesucht hat. Stattdessen gelang es ihr, sich im Kern der rechten Wählerschaft als glaubwürdige Persönlichkeit zu etablieren: Populistisch und radikal genug, um mit der Lega zu konkurrieren, aber glaubwürdig und mainstream genug, um ehemalige Forza-Italia-Wähler zu überzeugen.

Verantwortungsbewusste Populistin

Eines hebt die FdI in der politischen Landschaft Italiens heraus: Sie war die einzige Partei, die in der vergangenen Legislaturperiode konsequent in der Opposition blieb. Als Salvini 2018 der bisherigen rechten Koalition abtrünnig wurde und gemeinsam mit der M5S eine Regierung bildete, war Meloni in der Opposition. Als die von der Lega verlassene M5S ein Jahr später mit der Mitte-Links-Partei Demokratische Partei (PD) und weiteren kleineren linken Formationen eine neue Mehrheit aufbaute, blieb Meloni in der Opposition. Im Jahr 2021, als Mario Draghi zur Führung einer technokratischen Großen Koalition aufgerufen wurde, die von der größten Mehrheit der italienischen Geschichte unterstützt wurde (einschließlich der Lega und der Forza Italia), war Meloni noch immer in der Opposition. Sie vermied sorgfältig alle Gelegenheiten, in fadenscheinigen Bündnissen unter kompromittierenden Bedingungen zu regieren, und zog es vor, ihre Zeit abzuwarten und ihre Kräfte aus der Opposition heraus aufzubauen.

In der Opposition feilte Meloni an ihrem politischen Profil als rechter Führerin des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Gegenüber der Mitte-Links-Regierung M5S-PD, die mit der Bewältigung des Höhepunkts der COVID-19-Pandemie beauftragt war, gelang es Meloni, den Unzufriedenen eine politische Heimat zu bieten, ohne sich explizit gegen Lockdowns, Maßnahmen zur Verhinderung von Ansteckungen oder Impfstoffe zu wenden. Dieser politische Spagat wurzelt in ihrer eigenen politischen Biografie als rechtsradikaler Politikerin, die einst den Jugendflügel der postfaschistischen Alleanza Nazionale anführte, aber auch als ehemaliger Ministerin mit Mainstream-Glaubwürdigkeit, was ihr ermöglichte, stärker als je zuvor aus der Pandemie hervorzugehen.

Ihre wahre Chance zu glänzen ergab sich jedoch während Draghis 17-monatiger Amtszeit als Regierungschef. Als einzige ernstzunehmende Opposition zum Kabinett unter Leitung des ehemaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank erhielt Meloni eine äußerst mächtige Position in der öffentlichen Debatte. Dabei konnte sie einmal mehr das politische Arsenal des heutigen Rechtspopulismus (Anti-Gender-Rhetorik, Fremdenfeindlichkeit, Homophobie, Fake News usw.) einsetzen und sich gleichzeitig als seriöser und glaubwürdiger als Salvini positionieren. Bei Kriegsbeginn in der Ukraine sprach sich Meloni uneingeschränkt für die EU und die NATO aus.

In den Wochen vor der Wahl hat sie sich als engagierter für die Beruhigung internationaler Verbündeter und Finanzmärkte erwiesen als für die italienischen Wähler. Schließlich genießt Meloni bereits eine breite klassenübergreifende Unterstützung in der Bevölkerung – wenn sie Salvinis Schicksal vermeiden will, braucht sie institutionelle Deckung. Nachdem sie jahrelang gleichgeschlechtliche Paare attackiert oder eine „Seeblockade“ im Mittelmeer gefordert hatte, um die Einwanderung zu stoppen, konzentriert sie sich nun vor allem auf das im Wesentlichen berlusconische Versprechen, die Unternehmenssteuern zu senken (sie deutet sogar eine „Einheitssteuer“ an) und schwört den USA unverbrüchliche Loyalität in der Außenpolitik. In diesem Sinne hat sich ihre Kampagne als eine eher eigenartige Mischung aus Post-2008-Rechtspopulismus erwiesen, der im Konsens des freien Markts der 1990er Jahre verankert ist.

Technokratie wird uns nicht retten

Angesichts dessen, wie politisch lukrativ sich die Opposition zu Draghi erwiesen hat, ist es klar, dass die „Regierung der Besten“, wie die etablierte Presse seine technokratische Regierung nannte, nicht annähernd so beliebt war, wie die Medien behaupteten. Die großen Versprechen im Zusammenhang mit der Umsetzung des Konjunkturprogramms „Next Generation EU“ enttäuschten viele Wähler, da es keinen wirklichen Plan zur sozialen und ökologischen Umgestaltung der italienischen Wirtschaft gab. Vor allem die Energiekrise trifft das Land hart und die Erwartungen für die nächsten Monate sind ziemlich düster.

Meloni hat versucht, sowohl die Rolle der einzigen kohärenten Gegnerin von Draghis Politik als auch der verantwortungsvollen und gemäßigten liberal-konservativen europäischen Führerin zu spielen. Dass sie keinen echten Gegenkandidaten hat, macht es einfacher. Die PD, die bereits durch ein ganzes Jahrzehnt der Beteiligung an fast jeder Regierungskoalition (insbesondere der technokratischen) geschwächt ist, ohne jemals eine Wahl zu gewinnen, ist heute kaum mehr als der Vertreter der EU in Italien und die Partei der institutionellen Verantwortung, ohne eine glaubwürdige Botschaft in Bezug auf Veränderungen zu haben.

Die meisten etablierten Medien und das politische Establishment betrachten Melonis Sieg seit einiger Zeit als etwas Unvermeidliches. Die einzige Formation, die überhaupt eine Chance zu haben schien, sich ihrem Aufstieg entgegenzustellen, war die von Giuseppe Conte geführte M5S-PD-Koalition zwischen 2019 und 2021. Obwohl es keineswegs ein radikales oder gar linkes Bündnis war, gewährte es der Mittel- und Arbeiterklasse während der Pandemie zumindest einige kleinere Zugeständnisse. Die Entscheidung der PD, das Bündnis aufzulösen, nachdem sich die M5S im Juli 2022 geweigert hatte, Draghi weiterhin zu unterstützen, war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Die Mitte-Links-Partei entschied sich im Wesentlichen, die Rechte nicht ernsthaft in Frage zu stellen und ihr in den meisten Wahlkreisen einfache Siege zu gewähren.

Die Loyalität zu Draghi über jede Hoffnung auf eine nicht rechtsgerichtete Regierung zu stellen und Draghis Vermächtnis als Grundlage ihrer eigenen Politik zu identifizieren, hat der PD nicht geholfen, die Stimmen der Arbeiterklasse zurückzuerlangen, die sie im letzten Jahrzehnt verloren hat. Derweil ist die richtige Linke wieder gespalten: Sinistra Italiana („Italienische Linke“) und Europa Verde („Grünes Europa“) haben in Koalition mit der PD eine gemeinsame Liste aufgebaut, während der ehemalige Bürgermeister von Neapel, Luigi De Magistris, seine Unione Popolare gemeinsam mit den weiter links stehenden Parteien Potere al Popolo und Rifondazione Comunista ins Leben gerufen hat.

M5S wiederum führt eine Kampagne, die sich vor allem auf den Mindestlohn und die Umweltpolitik konzentriert und versucht, die PD von links herauszufordern und möglichst viele der progressiven Stimmen zu ergattern, vor allem im Süden und in den Wahlkreisen der Arbeiterklasse und der unteren Mittelschicht. Unterdessen fordern der ehemalige Ministerpräsident Matteo Renzi und sein Minister für wirtschaftliche Entwicklung Carlo Calenda mit ihrer Macron-esken Liste namens Azione–Italia Viva („Aktion – Italien lebt“) ihre ehemalige Partei von der Mitte aus heraus.

Was in Italien geschieht, ähnelt in vielerlei Hinsicht dem, was in westlichen Demokratien zu beobachten ist: Der neoliberale Wandel der Sozialdemokratie und die strukturelle Krise der Linken haben der populistischen radikalen Rechten gestattet, sich innerhalb bestimmter sozialer Schichten ein Standbein zu sichern, und das mit Unterstützung von „Kulturkrieg“-Themen und der Nutzung einer umfassenderen Entfremdung zwischen Klasse und Politik infolge der Erosion des Nachkriegsparteiensystems seit 1989.

Doch in diesem allgemeinen Kontext gibt es einige besondere italienische Merkmale: Der Zusammenbruch des Parteiensystems in den frühen 1990er Jahren und die darauffolgende Ära Berlusconi haben ein Erbe schwacher und vergänglicher Parteiorganisationen hinterlassen, in denen der Populismus die wichtigste politische Logik ist und führende Politiker, die im Stil politischer Unternehmer handeln, eine überdimensionale Rolle für eine parlamentarische Demokratie spielen. Gleichzeitig lassen Italiens massive Staatsverschuldung und die strengen fiskalischen Kriterien der EU nur wenig Spielraum für politische Initiativen. Diese Spannung erklärt am besten den rasanten Aufstieg und Fall so vieler politischer Formationen in den letzten Jahren. Ob Matteo Renzi, die Fünf-Sterne-Bewegung, Salvinis Lega oder jetzt Meloni – die italienische Politik neigt zu rasanten Aufstiegen und ebenso rasanten Abstürzen, wenn neue Populisten auf einer Anti-Establishment-Plattform auftauchen, nur um nach einem Wahlzyklus von desillusionierten Anhängern abserviert zu werden.

Der Schlüssel zur Zukunft Italiens wird in den Händen der sozialen Opposition liegen, der Meloni nach den Wahlen gegenüberstehen wird: Wird es eine bloße Reaktion gegen den Rechtspopulismus im Namen von Respektabilität und Kompetenz sein und den Weg für eine weitere technokratische Regierung ebnen oder wird sie eine echte Massenbewegung für Freiheit und Gleichheit verkörpern, die in der Arbeiter-, Klima- und Frauenbewegung verankert ist? Ohne letzteres wäre jede Hoffnung auf eine glaubwürdige progressive Alternative in Italien vergebens.