Noch ist nichts entschieden. Wie erwartet hat Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva den ersten Wahlgang am vergangenen Sonntag mit klarem Vorsprung für sich entschieden. Da es nicht zur absoluten Mehrheit reichte, wird der Mitte-Links-Politiker am 30. Oktober im zweiten Wahlgang gegen den rechtsextremen Amtsinhaber Jair Bolsonaro antreten. Für Brasilien bedeutet dies weitere vier Wochen mit angespanntem Abwarten, mit Spekulationen über Wahlverhalten und Wirkung von Fakenews, mit Angst vor Unruhen oder gar einem Putsch im Fall eines Machtwechsels an den Urnen.
Die extreme Rechte baut ihren Einfluss im Parlament aus und zementiert die politische Polarisierung.
Knapp 48,5 Prozent für Lula ist ein deutlicher Wahlsieg. Dieses Ergebnis bestätigt die Umfragen, die den Kandidaten eines linken Parteienbündnisses seit vielen Monaten als klaren Favoriten einstufen. Überraschend hingegen ist das Abschneiden Bolsonaros mit 43,2 Prozent der gültigen Stimmen. Umfragen sahen ihn übereinstimmend bei rund 36 Prozent Stimmenanteil. Der Vorsprung von Lula beträgt damit nur gut fünf Prozent oder rund sechs Millionen Stimmen. Dennoch zeigte sich Lula am Wahlabend optimistisch: «Wir werden diese Wahl gewinnen, das heutige Ergebnis ist nichts weiter als eine Verlängerung.»
Die weiteren Kandidat*innen lagen alle im unteren einstelligen Bereich. Platz drei belegte die Kandidatin des sogenannten Dritten Wegs der traditionellen Rechtsparteien, die Senatorin Simone Tebet von der Zentrumspartei MDB mit 4,2 Prozent. Auf Platz vier mit 3,1 Prozent der Stimmen kam Ciro Gomes von der Mitte-Links-Partei PDT. Trotz inhaltlicher Nähe zu Lulas Arbeiterpartei PT – während Lulas erster Amtszeit ab 2003 hatte er einen Ministerposten inne – versuchte er vergeblich, sich mit heftigen Angriffen auf den PT-Politiker zu profilieren.
Andreas Behn leitet das Regionalbüro Brasilien/Paraguay der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo.
Für Bolsonaro, seine lautstarken Unterstützer*innen und die Parteien, die seine Regierung unterstützen, ist das Wahrergebnis insofern ein Erfolg, als dass der Amtsinhaber deutlich mehr Stimmen erringen konnte als in Umfragen vorhergesagt. Vor allem im bevölkerungsreichsten Bundesstaat São Paulo und auch im wichtigen Rio de Janeiro waren die Meinungsforschungsinstitute – wie auch in den USA und anderen Teilen der Welt – offenbar nicht in der Lage, die breite Zustimmung für den rechtspopulistischen Kandidaten in Gänze abzubilden.
Bei Lulas Anhänger*innen, die sich durchaus Hoffnung auf einen Sieg im ersten Wahlgang gemacht haben, schlug das gute Abschneiden Bolsonaros auf die Stimmung. Hinzu kam am Wahlabend, dass in Brasilien die Ergebnisse der Wahlurnen aus reicheren Stadtvierteln und Regionen schneller eingehen als die aus ärmeren und insbesondere aus Lulas Hochburgen im Nordosten. Dieser Umstand führte dazu, dass Bolsonaro bei der Auszählung stundenlang in Führung lag und Lula erst nach genau 70 Prozent der ausgezählten Urnen gleichzog. Die Freude über den doch noch deutlichen Wahlsieg wirkte dann eher nur wie eine Erleichterung.
Trotz der gemischten Gefühle kam es in zahlreichen Städten zu Siegesfeiern der PT. In São Paulo waren auf der Prachtstraße Avenida Paulista auch Lula und weitere PT-Größen dabei. Die für den Fall eines Lula-Sieges befürchteten Unruhen oder Übergriffe seitens Bolsonaro-Anhänger*innen blieben zumindest in Verlauf der Nacht aus. Auch der Wahltag war im ganzen Land laut Oberstem Wahlgericht ohne nennenswerte Zwischenfälle verlaufen.
Die Zweifel an einem ruhigen Wahlverlauf hatte vor allem Bolsonaro geschürt. Zuletzt hatte er entgegen allen Vorhersagen behauptet, mit Sicherheit bereits im ersten Wahlgang zu gewinnen. Und immer wieder kritisierte er das Wahlsystem und vor allem die elektronischen Urnen, die angeblich ein Einfallstor für Wahlbetrug seien. Deswegen ließ er bis zuletzt – wie einst sein US-amerikanisches Vorbild Donald Trump – offen, ob er eine Niederlage an den Urnen akzeptieren würde. Eine Machtübergabe werde es «nur nach sauberen Wahlen» geben, erklärte der umstrittene Rechtspopulist mehrfach. Der Machterhalt werde notfalls auf der Straße und mit Waffen gesichert, verlautete mehrfach aus seinem politischen Umfeld.
Dass Bolsonaro am Wahlabend solche Drohungen nicht wiederholte, dürfte durchaus an seinem überraschenden Ergebnis und dem guten Abschneiden seiner Parteienkoalition liegen. Dennoch befürchten viele, dass Bolsonaro das gute Abschneiden Lulas in den kommenden Wochen in Frage stellen wird, um dann bei einem eventuellen Sieg seines Kontrahenten am 30. Oktober mit noch mehr Nachdruck behaupten zu können, es habe Wahlfälschung gegeben.
Was dann passieren wird, ist reine Spekulation. Einen Putsch im klassischen Sinne und mit Beteiligung des Militärs gilt als unwahrscheinlich, da es sowohl im Land wie international zu viel Widerstand geben würde. Doch handfeste, gewalttätige Unruhen oder gezielte Übergriffe gegen politische Gegner können nicht ausgeschlossen werden – zumal Bolsonaro in seinen vier Amtsjahren die Waffengesetze lockerte und Zehntausende seiner Anhänger*innen nun bewaffnet sind. Hinzu kommt, dass die Polizei und insbesondere die Militärpolizei, die ohnehin aufgrund ihres oft brutalen Vorgehens keinen guten Ruf genießt, zur engsten Klientel des Ex-Militärs Bolsonaro gehört.
Wenig Überraschungen gab es beim Ergebnis der Kongresswahlen. Der Senat und das Parlament, die beide in den vergangenen vier Jahren konservativ dominiert waren, werden dies auch in der kommenden Legislaturperiode bleiben. Allerdings konnten die rechtsextremen Parteien aus dem Bolsonaro-Spektrum ihren Einfluss ausbauen. So konnte Bolsonaros Liberale Partei PL ihre Senatssitze fast verdoppeln und stellt in Zukunft die stärkste Fraktion im Senat. Parteien aus dem linken Spektrum konnten ihre Sitze entweder halten oder leicht ausbauen. Guilherme Boulos von der linken PSOL – einer wichtigen politischen Partnerin der Rosa-Luxemburg-Stiftung – war besonders erfolgreich und wurde mit über einer Million Stimmen der meistvotierte Bundesabgeordnete des Staates São Paulo. Insgesamt zeichnet sich im Kongress eine Parallele zu dem polarisierten Zweikampf um die Präsidentschaft ab: Die Kräfte der Mitte und der traditionellen rechten Parteien verlieren zugunsten der radikalen Rechten, die immer mehr Zulauf verzeichnet. Und die Linke orientiert sich Richtung Mitte, um Einbußen vorzubeugen.
Auch die Gouverneure in den 26 Bundesstaaten und der Hauptstadt Brasilia wurden neu gewählt. Vor allem im eher armen Nordosten setzten sich erwartungsgemäß zumeist diejenigen durch, die zu Lulas linkem Spektrum gehören. Im reicheren Süden oder Westen haben eher Rechtskandidaten die Nase vorn. Oft ist eine genaue Einordnung nicht möglich, da in vielen Regionen andere Parteienkoalitionen zustande kommen als auf Bundesebene. Beispielsweise ist der deutliche Sieger im nördlichen Bundesstaat Pará, Helder Barbalho, Mitglied von Tebets Zentrumspartei MDB, machte aber im Wahlkampf keinen Hehl aus seiner Sympathie und Unterstützung für den Kandidaten Lula da Silva. Viele Gouverneure werden aber auch in den Bundesstaaten erst nach dem zweiten Wahlgang feststehen.
Die wohl zweitwichtigste Wahl nach der Präsidentschaft fand im bevölkerungsreichen und industriell geprägten Bundesstaat São Paulo statt. Dort gab es die größte Enttäuschung für Lulas Partei. Der PT-Gouverneurskandidat Fernando Haddad kam mit knapp 36 Prozent nur auf Platz zwei, obwohl ihn Umfragen deutlich in Führung sahen. Sein Kontrahent im zweiten Wahlgang ist der Bolsonaro-Unterstützer Tarcísio de Freitas, der überraschend auf knapp 42 Prozent der Stimmen kam. Abgeschlagen auf Platz drei landete der Amtsinhaber Rodrigo Garcia, was zugleich bedeutet, dass die traditionelle, unternehmensnahe Rechte ihre Jahrzehnte währende Dominanz im Bundesstaat São Paulo verloren hat. Wichtig ist zudem das Ergebnis im Staat Rio de Janeiro, der Heimat des amtierenden Präsidenten. Dessen Vertrauter und bisheriger Gouverneur Cláudio Castro konnte dort entgegen der Vorhersagen seine Wiederwahl bereits im ersten Wahlgang mit 58,7 Prozent Stimmenanteil deutlich vor dem Linkspolitiker Marcelo Freixo mit 27,4 Prozent besiegeln.
Der Wahlsieg von Lula da Silva im ersten Wahlgang ist fraglos ein Erfolg – sowohl für die Linke wie für das demokratische Brasilien – und eine gute Ausgangsbasis für den zweiten Wahlgang am 30. Oktober. Doch waren schon die vorhergesagten 36 Prozent Stimmen für einen Rechtsextremen mit einem solch undemokratischen und herablassenden Regierungsstil eine Zumutung, so ist dessen Ergebnis von über 43 Prozent schlicht erschreckend. Unabhängig vom Namen des zukünftigen Präsidenten muss sich das größte Land Lateinamerikas auf raue Zeiten einstellen. Auch wenn Lula wie erwartet gewinnen sollte, der politische Gegenwind ist schon jetzt zu spüren. Bolsonaro und seine radikale Anhänger*innenschaft werden präsent bleiben, sowohl auf den Straßen, in der Auseinandersetzung um Werte und vor allem im Kongress. Dass dort die politische Mitte bzw. die frühere gemäßigte Rechte immer schwächer wird, zementiert die Polarisierung, die wiederum den Rechtsradikalen in die Hände spielt. Lulas PT und ihre Verbündeten wird es schwerfallen, nach einem eventuellen Wahlsieg Mehrheiten für ihre Politik zu finden. Das bedeutet zugleich, dass es Lula schwer fallen dürfte, die Fehler und fatalen Richtungsentscheidungen Bolsonaros im Bereich Umwelt, Wirtschaft und Soziales zu revidieren.
Lula war es im Vorfeld der Wahlen gelungen, eine breite Meinungskoalition von deutlich links bis weit ins rechte Spektrum und auch in Unternehmer*innenkreisen herzustellen. Dabei war und ist der Konsens keinesfalls eine Unterstützung Lulas, seiner PT oder dessen politischer Linie, sondern die explizite Ablehnung von Bolsonaro, seiner politischen Ziele, seiner abwertenden Sprüche gegen Minderheiten, seiner internationalen Isolierung und der Infragestellung demokratischer Institutionen. Diese Strategie einer breiten Opposition ist Lulas wichtigster Pfand im zweiten Wahlgang. Doch die ihm für den 30. Oktober vorhergesagten rund 54 Prozent sind kein sicherer Vorsprung gegenüber einem Kontrahenten, der hemmungslos den Regierungsapparat in seinen Wahlkampf einspannt und dem zugetraut wird, wie vor vier Jahren jederzeit manipulative Fakenews-Kampagnen in den sozialen Netzwerden loszutreten. Auch wenn rund ein Drittel der Wähler*innen der dritt- und viertplatzierten Kandidat*innen Tebet und Gomes in Befragungen angaben, im zweiten Wahlgang für Lula stimmen zu wollen, sind Bolsonaros Aussichten nach dem neuen Schwung durch das überraschend gute Abschneiden jetzt besser als noch vor dem 3. Oktober.