Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - USA / Kanada Das solidarische Québec

Stefan Liebich über die Wahl in der kanadischen Provinz und die Linkspartei Québec solidaire

Information

Am 3. Oktober wählte die kanadische Provinz Québec ein neues Parlament. Der amtierende Ministerpräsident, François Legault, und seine Coalition Avenir Québec (CAQ) konnten die Wahl mit 41 Prozent der Stimmen für sich entscheiden. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts eroberte die Partei satte 90 von 125 Sitzen (plus 16) und verfügt damit über eine deutliche Mehrheit. Die erst 2011 gegründete CAQ wird damit eine weitere Legislaturperiode die französischsprachige Provinz regieren.

Die ebenfalls noch junge Partei Québec solidaire erzielte mit 15,4 Prozent der Stimmen in der rund achteinhalb Millionen Einwohner*innen zählenden Provinz das zweitbeste Ergebnis und wird künftig mit 11 Abgeordneten (plus 1) in der Assemblée nationale du Québec vertreten sein. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts errang Québec solidaire jedoch weniger Abgeordnetenmandate als die drittplatzierte Parti libéral du Québec (PLQ), die 21 Wahlkreise gewinnen konnte. Das ist auch der Grund dafür, dass dieser der Status der «offiziellen Opposition» (Oppositionsführerschaft) zufällt. Die einst mächtige Parti Québécois eroberte lediglich noch drei Mandate, die rechtsnationale Parti conservateur du Québec wird, trotz ihrer beachtlichen 12,9 Prozent, nicht im Parlament vertreten sein.

Stefan Liebich ist Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Von 2009 bis 2021 war er Bundestagsabgeordneter für DIE LINKE.

Kampf um die französische Sprache

Québec unterscheidet sich von den anderen kanadischen Provinzen durch die französischen Wurzeln, die auf die Kolonialzeit zurückgehen. Seit Paris in der Folge des Siebenjährigen Krieges (1756-63) die Kolonie Neufrankreich an Großbritannien abtreten musste, spielt der Schutz der französischen Sprache eine herausragende Rolle in Québec. Auch separatistische Forderungen nach Herauslösung der Provinz aus dem Bundesstaat Kanada erfahren traditionell großen Zuspruch quer durch alle politischen Lager, wenngleich die Zahl derer, die eine Abspaltung befürworten, zuletzt gesunken ist.

Zusammen mit der Frage der Einwanderung standen diese Themen auch diesmal im Mittelpunkt des Wahlkampfs. Besonders erfolgreich inszenierte sich die CAQ, die den Kampf für die französische Sprache und für mehr Autonomie auf ihre Fahnen schrieb. Dabei verband sie diese «Frankophilie» mit einer Kritik der Immigration – linke Beobachter sprachen davon, dass die Partei die Einwanderung als «Sündenbock» nutze. Indem sie ihr neoliberales Programm auf diese Weise mit einer Prise Xenophobie würzte, konnte die CAQ viele Wähler*innen überzeugen.

Offen separatistische Parteien haben die Politik Québecs jahrzehntelang dominiert. Dreißig Jahre lang regierte die separatistisch-sozialdemokratische Parti Québécois im Wechsel mit der PLQ die Provinz, eine Abstimmung über die Unabhängigkeit scheiterte 1995 mit 49,4 Prozent nur denkbar knapp. Der Niedergang der beiden Parteien begünstigte dann sowohl den Aufstieg der CAQ, die Nationalismus und Neoliberalismus programmatisch verschmolz, als auch jenen der 2006 gegründeten Partei Québec solidaire, die linkssozialdemokratische mit grünen und feministischen Ideen verbindet.

Identität oder Inklusion

Auch Québec solidaire tritt für die Unabhängigkeit Québecs ein. Im Unterschied zum identitätsbasierten Nationalismus der CAQ-Regierung plädiert sie jedoch für eine inklusive Volkssouveränität, die Indigene und Migrant*innen als Teil des französischsprachigen, souveränen Québecs begreift. Gemeinsam wolle man sich dem kanadischen (englischsprachigen) «Kolonialismus»     entgegenstellen. Im Wahlprogramm verlangt die Partei die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung, zu der auch Vertreter*innen der indigenen Völker eingeladen werden sollen. Die indigenen Einwohner*innen Québecs bemängeln ihrerseits die Weigerung des Ministerpräsidenten, den Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft anzuerkennen.

Die separatistische Forderung nach Herauslösung der Provinz aus dem kanadischen Bundesstaat kann also von rechts ebenso wie von links erhoben werden; sie wird inhaltlich jedoch sehr unterschiedlich gefüllt. Alejandra Zaga Mendez, die Ko-Vorsitzende von Québec solidaire, die ihren Wahlkreis im Stadtteil Verdun in Montreal gewinnen konnte, ist selbst Einwanderin, kam als Kind mit ihren Eltern aus Peru und wuchs in Québec auf. Heute vertritt sie selbst eine inklusive, antikoloniale Form der Souveränität. Sie sagt: «Das ist jetzt meine Kultur. Es gibt hier eine Bewegung, die sagt, dass Leute wie ich keine echten Québécois sind. Aber das bin ich! Und ein Teil der Kultur ist für mich der Wunsch, unsere Gesellschaft zu verändern. Für mich ist diese Veränderung mit der Unabhängigkeitsbewegung verbunden. Unsere Vorstellung von Souveränität ist nicht einfach nur eine gemeinsame Nation, weil wir Französisch sprechen – es ist eine antikoloniale Bewegung. Diese Sensibilität ist auch tief in meinem lateinamerikanischen Erbe verwurzelt. Wir sind hier immer noch Untertanen der britischen Krone. Das ist doch verrückt

Die Frage, wie weit man beim Schutz der Kultur und Sprache Québecs gehen sollte, führt innerhalb der Partei zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Für etliche Mitglieder steht inzwischen das linke, ökologische und feministische Profil im Vordergrund; für andere ist beides untrennbar miteinander verbunden.

Allerdings bietet diese Frage auch diverse Fallstricke. Ein aktuelles Beispiel: Als die Regierungspartei kurz vor der Wahl ein Gesetz ins Parlament einbrachte, bei dem es um den Schutz der französischen Sprache ging, stimmten auch die Abgeordneten von Québec solidaire zu. Viele in der Partei hielten das jedoch für einen Fehler, weil es aus ihrer Perspektive bei dieser Abstimmung um etwas Anderes gegangen sei. So kritisiert André Frappier, der lange der Parteiführung angehörte, dass die neue Regelung – die festschreibt, dass die Behörden mit Menschen, die aus anderen Ländern in die Provinz einreisen, nach sechs Monaten nur noch auf Französisch kommunizieren dürfen – in Wirklichkeit gegen Flüchtlinge gerichtet sei: «Niemand schafft es, in sechs Monaten die Sprache zu lernen. Das reiht sich in die Strategie ein, die schon beim Verbot religiöser Symbole in der Verwaltung genutzt wurde: Es geht darum, Migrant*innen zu Sündenböcken zu erklären und damit von den tatsächlichen Fragen unserer Zeit, den ökonomischen Auseinandersetzungen und der Klimafrage, abzulenken.» Allerdings vermied Québec solidaire während des Wahlkampfs eine offene Auseinandersetzung um das Abstimmungsverhalten.

Die Programmatik der Linkspartei

Insgesamt ist es Québec solidaire in den letzten Jahren indessen immer wieder gelungen, Allianzen mit außerparlamentarischen Bewegungen – von den Gewerkschaften bis zur Migrations- und Umweltbewegung – aufzubauen. Auch in ihrer Programmatik hat es die Linkspartei vermocht, Fragen, die in anderen linken Parteien zu erbitterten Auseinandersetzungen führen, konstruktiv zu lösen, anstatt sie bloß mit Formelkompromissen zu übertünchen. Alejandra Zaga Mendez erklärt das innerparteiliche Vorgehen so: «Wir gehen das durch partizipative Prozesse an. Das bedeutet, dass alle Beteiligten an einem ‹runden Tisch› sitzen. An unserem runden Tisch zur Energiewende saßen Vertreter verschiedener Interessengruppen: Arbeiter*innen, Verbraucher*innen und Jugendliche aus der Umweltbewegung. Sie alle kamen an den Tisch und versuchten, eine gemeinsame Basis zu finden. Die ökologische Bewegung hat selbst einen partizipatorischen Ansatz, es ist daher leicht, mit ihnen einen Dialog zu führen. Der Haken an der Sache ist, dass man aus der Diskussion dann eine Strategie machen muss, um Differenzen direkt anzugehen. Aber mit dieser Strategie konnten wir die Energiepolitik zu einem Thema machen, an dem wir nun gemeinsam arbeiten.» In ihrem Wahlprogramm verständigten sich die Parteimitglieder auf eine Senkung der CO2-Emissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber 1990 und auf die Verstaatlichung der Energieversorger für erneuerbare Energien unter regionaler Kontrolle.

Ein weiterer wichtiger Punkt in der Programmatik ist bezahlbares Wohnen. Auch in Montreal vertreibt die Gentrifizierung viele Menschen mit geringen oder normalen Einkommen aus der Innenstadt. Deshalb fordert Québec solidaire beispielsweise den Schutz der Mieter*innen vor Renovierungen, die nur der Mieterhöhung dienen.

Im Wahlkampf kritisierte Québec solidaire darüber hinaus, dass die CAQ am Beton der Straßen- und Tunnelprojekten festhalte und über keine hinreichende Antwort auf den menschengemachten Klimawandel verfüge. Auf die Covid-Pandemie habe die Provinzregierung mit Missmanagement und Ignoranz reagiert, weshalb in Québec mehr Menschen gestorben seien als in den anderen Provinzen Kanadas. Die Pandemie habe zugleich den Mangel an Pflegepersonal und guter Gesundheitsinfrastruktur offengelegt. Ein angemessener Schutz des Personals in Schulen und Kindergärten sei erst nach Intervention der Gewerkschaften gewährleistet worden.

Zudem habe die Legault-Regierung die soziale Ungleichheit weiter verschärft. Tatsächlich verhallte der Ruf der linken Opposition nach einem gerechten Steuersystem ebenso ungehört wie jener nach Erhöhung des Mindestlohns auf 18 Kanadische Dollar (13,30 Euro). Der als Wahlkampfgeschenk empfundene, einmalige 370-Euro-Scheck für all jene, die weniger als 6170 Euro monatlich verdienen, sei zu wenig, um der wachsenden sozialen Polarisierung entgegenzuwirken.

Hochstimmung am Wahlabend

Tatsächlich ist Québec solidaire die einzige Kraft, die klare Alternativen zur Regierungspolitik formuliert. Nicht zufällig ist sie deshalb unter jungen Menschen in der Provinz die beliebteste Partei. Das konnte man am Wahlabend durchaus spüren, die Stimmung bei der Wahlparty im Kulturzentrum «Mtelus» war ausgelassen. Viele junge Leute feierten jeden gewonnenen Wahlkreis mit lautem Jubel und begrüßten die Spitzenkandidat*innen Gabriel Nadeau-Dubois und Manon Massé mit großem Beifall.

Massé, die im Jahr 2000 den ersten Weltfrauenmarsch initiierte, hatte bereits fünfmal erfolglos in ihrem Wahlkreis in Montreal kandidiert, bis sie ihn schließlich 2014 gewann. Nachdem sie ihn nun zum dritten Mal verteidigen konnte, sagte sie: «Unser Wahlergebnis haben wir nicht den Medien zu verdanken, sondern dem Einsatz vor Ort. Vor allem junge Menschen haben uns unterstützt. Die 20- bis 25-jährigen als Kandidat*innen und noch jüngere beim Aufhängen von Plakaten. Wir hatten sechs indigene Kandidat*innen. Darauf bin ich sehr stolz! Und wir werden mit der neuen Fraktion für alle Menschen kämpfen, die hier auf dem Territorium Québecs leben, unabhängig davon, woher sie kommen. Wir werden eine machtvolle progressive, ökologische und feministische Opposition sein. Wir kämpfen für die einfachen Leute, für die 95 Prozent!»

«Der Kampf gegen den Klimawandel kann nicht vier weitere Jahre warten», rief Nadeau-Dubois, ein populärer früherer Anführer der Studierendenbewegung, später in den Saal. Er wies darauf hin, dass Québec solidaire als einzige Oppositionspartei keinen Sitz an die Regierungspartei verloren habe, und wandte sich an den alten und neuen Ministerpräsidenten: «Hören Sie auf die Jugend von Québec! Unabhängig von unseren Wahlergebnissen heute Abend haben wir alle die Verantwortung, auf die Generation zu hören, die mit unseren Entscheidungen leben muss. Es ist noch nicht zu spät. Jedes Mal, wenn die Regierung einen Schritt in Richtung Klimaschutz macht, werde ich ihr Partner sein – und jedes Mal, wenn sie in Sachen Umwelt einen Schritt zurück macht, werde ich ihr Gegner sein», erklärte er unter tosendem Beifall.

Fest steht, dass Québec solidaire gestärkt aus der Wahl hervorgeht. Fest steht aber auch, dass noch ein weiter Weg vor der Linkspartei liegt, will sie die Politik in Québec nachhaltig verändern.