Viele Entwicklungsländer sind nach einer Phase des wirtschaftlichen Aufstiegs in der «middle-income trap» gelandet: Sie produzieren mit niedrigen Löhnen Massenware für den Weltmarkt und stecken in dieser Rolle fest. Lange Zeit galt auch China als «verlängerte Werkbank der Welt». Firmen wie Foxconn, die z. B. iPhones für Apple produzierten, waren berüchtigt für ihre schlechten Arbeitsbedingungen. Foxconns Slogan «Verwurzelt in China, global wirkmächtig» drückt der Historikerin Rebecca Karl zufolge nicht nur die eigenen, sondern gleichzeitig auch die Strategie Chinas zu deren Hochzeit aus: «Wurzeln in China beruhen auf der politischen Fähigkeit des Staates, einen gefügig gemachten Pool an Arbeitskräften bereitzustellen; die globale Präsenz wird durch Partnerschaften mit einigen der größten Hersteller der Welt erreicht, mit dem Ziel, Markthegemonie über mikroelektronische Verarbeitung und Beschaffung zu erobern und aufrechtzuerhalten» (Karl, S. 200).
Die chinesische Führung versucht jedoch zu korrigieren. Ausdruck davon ist das schon seit 2004 ausgegebene Staatsziel einer «harmonischen Gesellschaft» (hexie shehui); dahinter steckt der Versuch, der «middle-income trap» der ökonomischen Entwicklungsfalle von Schwellenländern zu entgehen. Der China-Experte Tobias ten Brink schreibt, um die «Auswirkungen der kapitalistischen Modernisierung und der extremen Exportabhängigkeit abzumildern […] drängt die chinesische Zentralregierung dabei auf eine umfangreiche Restrukturierung der Wirtschaft» (ten Brink, S. 30). Ein auf niedrigen Löhnen basierendes, exportorientiertes Akkumulationsmodell wird Schritt für Schritt abgelöst durch ein neues. China hat enorme Lohnsteigerungen erlebt und den Binnenmarkt entwickelt. Laut Nationalem Statistikamt Chinas haben sich die Löhne seit 2012 verdreifacht.
Timo Daum ist Physiker, Hochschullehrer und Sachbuchautor, sein Arbeitsschwerpunkt ist der digitale Kapitalismus.
Seit einigen Jahren steuert die Führung des bevölkerungsreichsten Landes der Erde um in Richtung digitale Dienstleistungswirtschaft, in der Informations- und Kommunikationstechnologien eine entscheidende Rolle spielen sollen. Qunhui Huang, Senior Research Fellow am Institut für Industrieökonomie der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, betont: «Chinas Industrialisierung wird eine von der Informatisierung angeführte sein, d. h. eine neue Form der Industrialisierung sein, die gründlich mit der Informatisierung durchwirkt ist» (Huang, S. 86). Die Führung verfolge das Ziel, China zu einer modernen «Netzwerkökonomie» zu machen «Informationstechnologien wurden zur Schlüsselindustrie erklärt» (Hong 2017, 3).
Das gilt auch für die chinesische Wirtschaftspolitik nach Corona: Der für die Jahre 2021 bis 2025 gültige Plan strebt ein verändertes Entwicklungsmodell an, genannt «innerer Kreislauf», dessen wichtigste Charakteristika eine verstärkte Binnenmarktorientierung, die Förderung des privaten Konsums und ein fortlaufender Ausbau von digitalen Service-Industrien sind.
Planwirtschaft im 21. Jahrhundert
Die Reform- und Öffnungspolitik seit den späten 1970er Jahren brachte Marktwirtschaft und Privateigentum nach China, Unternehmen wurden gegründet, ein Kapitalismus mit chinesischen Charakteristika bildete sich heraus. Doch die Rolle des Staates und auch die von staatlichen Unternehmen ist – vor allem in Schlüsselindustrien – nach wie vor dominierend. Der Digitalsektor bildet da eine wichtige Ausnahme: hier wird die Landschaft dominiert von mächtigen privaten Digitalkonzernen.
Entgegen dem Credo, die Marktwirtschaft habe gesiegt, liegt Chinas wirtschaftlicher Aufschwung nicht nur an den Marktreformen, oft sind auch staatliche Vorgaben entscheidend. Im Gegensatz zum Westen hat der Staat einen strategischen Plan für die infrastrukturelle und technologische Entwicklung, dem Wissenschaftler Tobias ten Brink gilt er nach wie vor als «zentraler Akteur im chinesischen Kapitalismus» (ten Brink, S. 27). Auch die Wirtschaftswissenschaftler Philipp Staab und Florian Butollo konstatieren China eine «investive Staatlichkeit», die ihrer Ansicht nach das technologische Engagement des Pentagon für das Silicon Valley bei Weitem übertrifft: Sie sehen darin einen entscheidenden Vorteil des chinesischen Modells gegenüber dem US-amerikanischen Original.
Anfang März 2021 verabschiedete der Nationale Volkskongress den mittlerweile 14. Fünfjahresplan seit der Staatsgründung, der die Marschrichtung für das Land vorgibt. Der China-Experte Gerhard Stahl ist überzeugt, China hätte die «Fünfjahresplanung zu einem modernen Instrument des politischen Managements weiterentwickelt» (Stahl, S. 39). Entscheidungsfindung entspräche auf allen Ebenen keinesfalls dem Klischee eines starren Apparats mit einem Herrscher an der Spitze. Der Asien-Experte Parag Khanna spricht in diesem Zusammenhang von einer technokratischen Regierung, die «basiert auf einer fachkundigen Analyse und langfristiger Planung und nicht auf beschränkten und kurzfristigen Launen oder privaten Interessen.» (Khanna, S. 354). Die alten Herren (Frauen sind in den obersten Führungsebenen rar) müssten sich 40 Jahre lang bewährt haben, bevor sie für höhere Aufgaben in Frage kämen.
China ist seinem Selbstverständnis nach ein sozialistisches Land. Schlüsselindustrien sowie sämtlicher Grund und Boden befinden sich nach wie vor in Staatseigentum. «China befindet sich jetzt im Anfangsstadium des Sozialismus und wird sich über eine längere Zeit in diesem Stadium befinden.» So steht es unverändert seit 1992 im Programm der KPC. Und die KPC denkt in langen Zeiträumen: Ganze einhundert Jahre soll die gegenwärtige Etappe des Wegs zum Sozialismus dauern. Doch nicht nur die Zentrale in Peking macht Pläne, auch Chinas Provinzen und lokale Verwaltungen spielen eine wichtige Rolle für die Innovationsdynamik in dem Land, so die These von Yukong Huang, dem ehemaligen Direktor der Weltbank für China (Huang, S. 2).
Auch Elisabeth C. Economy, eine hervorragende Analystin der chinesischen Wirtschaftspolitik, betont bei ihrer Einschätzung des Erfolgsfalls des Telekommunikationskonzerns Huawei die Bedeutung planerischer Institutionen und Vorgehens. Chinas «playbook» schließe ein: «langfristige Planung; intensives Engagement mit den dynamischen Unternehmern des Landes, erhebliche gezielte Investitionen in Forschung und Entwicklung, Schutz des chinesischen Marktes vor ausländischer Konkurrenz sowie den Erwerb internationaler Talente und Technologien» (Economy, S. 136).
«Experiment first, regulate second»
Wenn in China so viel planerische Tradition fortbesteht, warum ist dem Land dann nicht das Schicksal der Sowjetunion gefolgt, die mit ihrer Planwirtschaft bekanntlich untergegangen ist? Großen Anteil daran hat sicherlich die chinesische Experimentierkultur, die als Gegengewicht fungiert. Zudem kann China auf eine lange Tradition im Experimentieren und Reformieren zurückgreifen; die Geschichte des modernen Chinas ist reich an gesellschaftlichen und ökonomischen Experimenten. Die Kulturrevolution oder die Politik des «Großen Sprungs nach vorn» unter Mao Tse-tung sind Beispiele, die jedoch Misserfolge waren und katastrophal endeten. Auch die unter Deng Xiaoping versuchte pragmatische Liberalisierung war geprägt durch einen try-and-error-Ansatz. Gerade die riesigen Sonderwirtschaftszonen, die im Zuge von Dengs Reform- und Öffnungspolitik entstanden, hatten durchaus den Charakter von Experimentierräumen, in denen gesellschaftspolitische Experimente auf großem Maßstab stattfanden und immer noch stattfinden.
Das Wettbewerbsumfeld umfasst auch staatliche Institutionen, was die Wissenschaftlerin Hyekung Cho als «National Competition State» bezeichnet (Cho, S. 22). Provinzen, Verwaltung und Städte treten miteinander in Wettbewerb, auch Beamte und staatliche Stellen konkurrieren untereinander.
Die Kultur des Ausprobierens ist für die digitale Ökonomie essenziell: Ständige Verbesserungen, das Einholen von Kundenfeedback und schnelle Reaktion auf technische Fortschritte, Marktentwicklungen und Kundenwünsche sind in digitalen Ökonomien unerlässlich, um erfolgreich zu sein – das gilt für Chinas Perlfluss-Delta mit seiner «Hauptstadt» Shenzhen genauso wie für das amerikanische Original in Kalifornien.
Startups und Maker-Kultur genießen im gegenwärtigen China hohes Ansehen und üppige staatliche Förderung. Yuan Yang, Technologie-Korrespondentin für China der Financial Times bringt den Geist auf die Formel: «experiment first, regulate second».
Die in wenigen Jahren zu Riesenkonzernen gewachsenen Startups der chinesischen Digitalökonomie durchlebten schnelle Lernprozesse, bewegten sie sich doch in einem «komplexen, sich schnell ändernden und oft mehrdeutigen Geschäftsumfeld» in China (Tse, 2016: 21).
Regulatorische Randbedingen verändern sich oft über Nacht und die großen Unterschiede zwischen Stadt und Land stellen die Unternehmen zusätzlich vor Herausforderungen.
Die Anthropologin Silvia Lindtner beschreibt China als eine «prototype nation», die sich der ständigen Schaffung technologischer und gesellschaftlicher Prototypen, als schnell erstellte Vorlagen, deren Erfolg ad-hoc-Überprüfung folgt, verschrieben habe. Um das Jahr 2015 wurde die Regierung auf das Phänomen der Maker-Szene in Shenzhen aufmerksam, Chinas Ministerpräsident Li Keqiang stattete einem Maker-Space einen Besuch ab. Der «maker approach», so Lindtner, sei ideal geeignet, um eine Haltung des Selbst-Unternehmertums zu kultivieren bzw. zu fördern, die wiederum innovatives Denken zu einem regelrechten Massenphänomen machen könne. Im gleichen Jahr erläuterte der Minister für Wissenschaft und Technologie, Wan Gang: «Wir ermutigen Massenunternehmertum in der Gesellschaft, damit Ressourcen besser verteilt werden. Es ist die Chance der Mehrheit und nicht nur das Privileg einiger weniger, einen Lebenstraum zu verwirklichen.» (Silvia Lindtner, Living in Shenzhen). Lindtner zufolge gelte nunmehr prototyping in China nicht nur als Innovationsmethode für Tech-Startups, sondern auch als «vielversprechender Weg, um in fest verwurzelte Strukturen von Ungleichheit, Ausbeutung und Ungerechtigkeit einzugreifen» (Lindtner, S. 1).
China – ein planwirtschaftlicher Experimentierraum
Chinas rasante digitale Industrialisierung weist starke planwirtschaftliche Aspekte auf, die weit über Wirtschaftsförderung und Infrastrukturpolitik hinausgehen. In China spielte und spielt eine weitgehende und langfristige staatliche Planung eine erhebliche Rolle für die Entwicklung des Landes – mit einem auf Dauer gestellten Marshallplan vergleichbar.
Zusammen mit einer gelebten Experimentierkultur auf allen Ebenen, insbesondere in der digitalen Sphäre, ergibt sich eine hochdynamische Entwicklung, die auch der breiten Bevölkerung zu Gute kommt: China ist der middle-income-trap vermutlich entkommen, die Löhne sind gestiegen, der private Konsum auf dem Binnenmarkt ebenfalls.
In China kommen so auf den ersten Blick gegensätzliche Elemente zusammen – eine staatlich gelenkte Politik, die eine digital-industrielle Modernisierungsagenda vorantreibt auf der einen und ein dynamischer privatkapitalistischer Digitalsektor auf der anderen Seite – dabei geleitet von Deng Xiaopings Credo des schrittweisen Ausprobierens, von trial and error auf allen Ebenen.
Quellen:
- Rebecca E. Karl, China's Revolutions in the Modern World: A Brief Interpretive History. London 2020.
- Tobias ten Brink: Chinas Kapitalismus: Entstehung, Verlauf, Paradoxien. Frankfurt am Main 2013.
- Qunhui Huang: China’s Industrialization Process and its Influence on Globalization.In: Shao Binhong (Hrsg): Political Economy of Globalisation and China’s Options, Boston 2018, S. 86- 96.
- Yu Hong: Networking China. The Digital Transformation of the Chinese Economy, Urbana 2017
- Parag Khanna, Unsere asiatische Zukunft. Berlin 2019.
- Hyekyung Cho, Chinas langer Marsch in den Kapitalismus. Münster 2005.
- Silvia Lindtner, Living in Shenzhen, Women's Studies Quarterly, Volume 45, Numbers 3 & 4, Fall/Winter 2017, pp. 287-305
- Silvia Lindtner, Prototype Nation. China and the Contested Promise of Innovation, Princeton 2020
- Elizabeth C. Economy, The World According to China. Cambridge 2022.