Nachricht | GK Geschichte Zur Konferenz „Strikes and Social Conflicts in the 20th Century“ in Lissabon im März 2011

Eine Globalgeschichte des Streiks im 20. Jahrhundert

von Ralf Hoffrogge
„Workers fight meltdown in Fukushima plant“ war Ende März dieses Jahres als Schlagzeile einer internationalen Tageszeitung zu lesen. Auf die Arbeiter kommt es an in Zeiten der Katastrophe – Sie sind Teil der Lösung, während Konzerne wie die japanische Reaktorbetreiberin TEPCO allzu deutlich als Teil des Problems dastehen.
In der Wirtschaftskrise ist es ähnlich, die Konflikte zwischen Belegschaft und Unternehmensführungen nehmen zu. In der Endphase des Neoliberalismus sind die von  Sozialwissenschaft und Feuilleton längst totgesagten Klassenkämpfe plötzlich wieder da - auch wenn dies in Deutschland immer wieder durch Scheindebatten um Managergehälter auf eine moralische Ebene verlagert wird. Was läge näher, als in dieser Situation eine Brücke zu schlagen zwischen historischer Arbeiterbewegung und aktuellen sozialen Konflikten?
Genau dies versuchten die Organisatoren der Konferenz „Strikes and Social Conflicts in the 20th century“. Sie versetzten die Geschichte der Arbeiterbewegung, die sozialwissenschaftliche Konfliktforschung und neue Ansätze aus den postcolonial studies in einen ertragreichen Dialog, der nicht nur das vergangene Jahrhundert abdeckte, sondern auch viel über die Gegenwart aussagte.

Die Konferenz fand statt im Instituto de História Contemporana der Universitdade Nova de Lisboa und versammelte etwa 150 Referenten und Referentinnen aus 20 Ländern, die in 46 Panels die verschiedensten Facetten von Arbeit und sozialen Konflikten ausleuchteten. Allein die Größe des Kongresses war ein Erfolg: Das Organisationsteam aus fünf verschiedenen Institutionen hatte mit 50 Antworten auf ihren call for papers gerechnet - und wurde mit 250 Vorschlägen überschwemmt.  Streikforschung und Labour History gewinnen international an Bedeutung.

Die Tagung wurde eröffnet von Marcel van der Linden (Amsterdam), der einen Rückblick auf die Geschichte des Faches warf und im wesentlichen drei Phasen der Arbeiterbewegungsgeschichte ausmachte: eine erste Phase der Organisationsgeschichte, teilweise begleitet von breiteren soziologischen Fragestellungen, aber meist konzentriert auf Parteien und Gewerkschaften als Organisationen der Arbeiterklasse. Dann die Phase der „new labour history“, ausgelöst durch die bahnbrechenden Werke der Historiker E.P. Thompson und Eric Hobsbawm. Sie beschäftigten sich mit der Klassenformation, die sie in eine breite kulturhistorische Gesellschaftsgeschichte einbetteten. Aber auch diese neue Geschichte der Arbeit hatte ihre Grenzen. Van der Linden konstatierte eine methodologische Verengung auf die Nation, weshalb transnationale Verbindungen wie etwa globale Produktionsketten immer nur in Teilen und als „externe“ Effekte sichtbar würden. Aktuell befinde sich die Disziplin daher im Übergang zu einem neuen Paradigma: der „global labor history“, die jeden Eurozentrismus vermeide und die transnationale Natur von Arbeit und Kapital möglichst vollständig und über lange Zeiträume hinweg in den Blick nehmen will.
Notwendig dafür sei eine Erweiterung des Arbeitsbegriffes, der nicht mehr nur den klassischen Lohnarbeiter, sondern auch Formen der Sklaverei, informeller Arbeit, Kleinselbständigkeit etc. als Teil Kapitalistischer Produktionsformen in den Blick nehme. Serge Wolikow (Paris) ergänzte Van der Lindens Programm um die Forderung nach einer umfassenderen Sozialgeschichte, die die ganze Welt der Arbeit umfasse und sich um eine Rekonstruktion von Kämpfen und Praktiken bemühen müsse, auch wo sie nicht organisiert stattfänden – etwa bei der Arbeitsmigration.

Zwar beschränkte sich die Konferenz auf das 20. Jahrhundert, folgte aber der in der räumlichen Dimension dem Programm der Eröffnungssitzung. Insbesondere, indem sie Stimmen des globalen Südens einen großen Raum gab – die Konferenzsprachen waren Englisch und Portugiesisch, was zahlreiche Brasilianische und Lateinamerikanische ForscherInnen zur Teilnahme ermunterte. Kaum vertreten waren jedoch Asien, Afrika und Osteuropa. Insbesondere in den ehemals sozialistischen Staaten, wo die Arbeiterbewegungsforschung in der Vergangenheit stark gefördert wurde, sind mittlerweile alle Ressourcen weggebrochen und die wenigen verbliebenen Forschenden haben kaum Mittel, sich an internationalen Konferenzen zu beteiligen.

Die Themenbreite der Referate war überwältigend, aufgrund paralleler Panels war es aber leider nicht möglich, alle Diskussionen zu verfolgen. Der titelgebende Schwerpunkt auf Streiks und den sozialen Konflikten, die vielfach unterhalb der schwelle institutioneller Politik verliefen, war im Programm allerdings deutlich erkennbar. Im Rückblick auf die Referate erscheint der Streik als geradezu universelles Phänomen überall da, wo Herrschaft über fremde Arbeitskraft ausgeübt wird. Neben Lohnstreiks kamen hier auch Bauernrevolten und Konflikte um Landreform in der Türkei in den Blick (z. B. im Referat von Yelda Kaya, Ankara).
Das Spektrum der Streiks reichte bis hin zum Phänomenen der Soldatenrevolte. Ein Beispiel dafür war die portugiesische Nelkenrevolution von 1974. Sie entstand aus einer Weigerung unterer Ränge, den Kolonialkrieg in Angola weiterzuführen und führte in Portugal zum Ende der Diktatur. Die Nelkenrevolution steht nicht nur für eine Verbindung von linken Parteien und Soldaten aus dem Arbeitermillieu, wie man sie auch aus der Russischen Revolution und der Novemberrevolution 1918 kennt. Sie ist vielmehr Paradebeispiel für eine transnationale Revolution: der Kampf um De-Kolonialisierung in Afrika brachte eine Demokratisierung in Europa. Das europäische Zentrum des Kapitalismus, auf dass sich die Bewegungsgeschichte bisher konzentrierte, wird hier zur Peripherie. Gleich mehrere Vorträge und ein Stadtrundgang durchs „revolutionäre Lissabon“ beschäftigten sich mit dieser Epoche, deren Historisierung in Portugal gerade erst beginnt.

Neben der ungewohnten Vorstellung von Soldaten und Bauern als Akteuren von Streiks ergab die zeitgeschichtliche Untersuchung jüngerer Konflikte auch neue Blicke auf „klassische“ Formen des ökonomischen Protestes. So etwa die Untersuchungen von Dave Lydden (Keele) und Terry Brotherstone (Aberdeen) über Streiks in der Kohle- und Öhlindustrie während  des Thatcherismus. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die Verhandlungsmacht der britischen Arbeiterbwegung keineswegs nur in jenem einen, heute schon legendären Bergarbeiterstreik von 1984 gebrochen wurde. Vielmehr gab es auch nach 1984 noch Streikbewegungen und Optimismus. Erst die komplette Abwicklung der gesamten britischen Kohleindustrie und der Umstieg auf Nordseeöl führten zur endgültigen Niederlage der Bergarbeiter, die dann Niederlagen in anderen Bereichen nach sich zog. Die Radikalität der Maßnahmen, zu denen sich Thatcher gezwungen sah, zeigt nicht nur die Stärke der Arbeiterbewegung - sie zeigt ebenso die eminent politische Qualität von Lohnstreiks. Denn mit der Ölwende war nicht nur der Sieg des Neoliberalismus in Großbritannien durchgesetzt, sondern  auch für eine Generation lang die Debatte um eine ökologische Wirtschaftsweise beendet.

In anderen Referaten wurde jedoch deutlich, dass Arbeit und Arbeiterbewegung keinesfalls automatisch auf der Seite von Fortschritt und Emanzipation stehen – etwas in einem Referat von Wessel Visser (Stellenbosch) über einen Bergarbeiterstreik im Südafrika des Jahres 1979, der sich gegen die Beförderung von Schwarzen auf höherqualifizierte Posten wendete. Ironischerweise verfehlte der Streik sein Ziel und erreichte das Gegenteil: der gescheiterte Protest wurde zum Katalysator für eine vermehrte Qualifizierung schwarzer Arbeiter. Die Isolierung der Bergarbeitergewerkschaft und das Ausbleiben noch größerer Konflikte wurde zum Auslöser für weitere Reformen des Arbeitsrechts, die langfristig Verhandlungen zum Ende der Apartheit vorbereiteten.

Eine Brücke in die Gegenwart schlug das Referat von Florian Butollo (Frankfurt a. M.), der die Streikwelle chinesischer Arbeiter und Arbeiterinnen im Sommer 2010 analysierte. Butollo sah hier eine neue Qualität von Streiks, weg von sogenannten „zellulären Bewegungen“, die nur lokale Mißstände einzelner Produktionsstätten anklagten hin zu Bewegungen mit offensiven Lohnforderungen. Dies deute auf die Entstehung einer unabhängigen chinesischen Arbeiterbewegung hin – über eine mögliche Politisierung dieser Bewegung und die Auswirkungen auf das Regierungssystem könne man jedoch heute nur spekulieren.

Beverly Silver (Baltimore), eine der bekanntesten Forscherinnen auf dem Gebiet der Global Labor History, beschäftigte sich in ihrem Referat mit dem Thema „Crisis of Labor, Crisis of Capital: A Global View from the End of the `American Century´“. Silver hatte in früheren Veröffentlichungen ebenfalls China als Zentrum zukünftiger Arbeiterunruhen ausgemacht. Theoretischer Hintergrund dafür war ihr Buch „Forces of Labor“  in dem sie empirisch darstellte, wie seit 1870 Arbeiterproteste und der gestiegene Preis der Ware Arbeitskraft das Kapital zur Expansion in immer entferntere Peripherien drängten. Das Ergebnis war nicht die von Marx erwartete Weltrevolution, jedoch entstanden in den neu industrialisierten Billiglohnländern wie etwa Korea starke Arbeiterbewegungen, die nicht nur den Preis der Arbeitskraft erfolgreich hochtrieben, sondern durchaus revolutionär wirkten. Ein Beispiel dafür ist die durch Proteste erzwungene Demokratisierung des koreanischen Militärregimes in den achtziger Jahren.

In diesem Sinne ist auch für die Zukunft das Thema Arbeiterunruhe nicht erledigt – die auf der Konferenz gegebenen empirischen Beispiele zeigen, dass das Studium der Arbeiterbewegung, sofern man sie nicht als Parteiengeschichte, sondern als angewandte Konfliktforschung betreibt, alles andere als am „Ende der Geschichte“ angelangt ist. Gleichzeitig wurde deutlich, dass es so etwas wie eine unpolitische Arbeiterbewegung nicht gibt: überall da, wo Arbeitende ihre Rechte in sozialen Konflikten verteidigten, hatte dies unmittelbare Auswirkungen auf das politische System, und zwar nicht nur national, sondern meist auch länderübergreifend.

Nicht nur die Beteiligung, sondern auch die Inhalte der Konferenz demonstrierten also die Relevanz einer sozialwissenschaftlichen-historischen Konfliktforschung der Arbeitswelt. Dazu gibt es international bereits zahlreiche Ansätze – etwa Diskussionen in der Migrationsforschung, die sich mehr und mehr den Arbeitsbeziehungen als Ursache von Wanderungsbewegungen zuwenden, anstatt beim Kulturparadigma stehenzubleiben. Die Organisatiorinnen der Lissaboner Konferenz planen deshalb, die Debatten fortzuführen und eine Folgekonferenz auszurichten, eventuell soll sogar eine internationale Zeitschrift zur Streikforschung und Globalgeschichte der Arbeit gestartet werden.

Während sich international also einiges tut, hat die Geschichte der Arbeit an den deutschen Universitäten bestenfalls ein Nischendasein. Dies liegt an einem zunehmend stromlinienförmigen, durch Drittmittel geprägten akademischen Umfeld, in der die Erforschung sozialer Konflikte keine Priorität genießt. Eine Geschichte der Arbeit auf aktuellem Stand ist jedoch nicht zu haben ohne  akademische Freiheit und Vielfalt, welche auch eine Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse und die Diskussion von Alternativen einschließt. Eine andere Ursache für den schwachen Stand der Geschichte der Arbeiterbewegung hierzulande ist allerdings selbstverschuldet: gemeint ist die Tatsache, dass durch die Mehrheit der Forschenden viel zu lange eine klassische Organisationsgeschichte betrieben wurde, die oft nicht einmal die Sozialgeschichte integrierte, geschweige denn Antworten auf transnationale und globale Fragestellungen hatte.

Unter dem Link ist das Programmheft als PDF einsehhbar.