Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Staat / Demokratie Dakar 2011: Zwischen Erfolg und Enttäuschung

Notwendig ist ein stärkeres Engagement im «Dazwischen». Auswertung des diesjährigen Weltsozialforums und neue strategische Bestimmung der Rolle der Stiftung.

Information

Autorin

Silke Veth,

Am 29. März 2011 lud die Rosa-Luxemburg-Stiftung zu einer Diskussion zur weiteren Zukunft des Weltsozialforumsprozesses ein. VertreterInnen von NRO, sozialen Bewegungen, TeilnehmerInnen der Dakar-Delegation der RLS sowie weitere interessierte MitarbeiterInnen der RLS werteten ihre Erfahrungen aus und einigten sich auf eine stärkere Fokussierung des «Dazwischen».

Für NetzwerkerInnen war das WSF ein wichtiger und produktiver Ort. So äußerten sich z.B. die AktivistInnen, die international  gegen die Privatisierung des Wassers kämpfen und die VertreterInnen von Habitat-Netzwerken sehr zufrieden über den Verlauf ihrer Diskussionen. Für die auch zwischen den Foren arbeitenden Netzwerke ist eine verunglückte Organisation zwar auch anstrengend, aber kein Zusammenbruch jeglicher Arbeitsfähigkeit. Dem entgegen war es in Dakar für Menschen, die schnuppern und erstmal zuhören wollten, schier unmöglich, sich zu orientieren. Ein Grund für die sehr unterschiedlichen Einschätzungen, die man zum WSF lesen und hören kann.

Die Zahl der Teilnehmenden war mit rund 80.000 überraschend hoch. Die TeilnehmerInnen aus der Region erreichten Dakar teilweise in mehreren Karawanen. Corinna Genschel, Mitarbeiterin der Kontaktstelle Soziale Bewegungen der Bundestagsfraktion DIE LINKE, berichtete von zwölf verschiedenen Karawanen. Die kraftvollen Demos waren eines der Markenzeichen von Dakar 2011, insbesondere die Auftaktdemo, in die viele westafrikanische Bewegungen «ihre» Themen wie Landgrabbing, Überfischung, Klimafragen, Migration etc. einbrachten. Bemerkenswert war auch der hohe Anteil von Frauen.

Die Katalysator- und Unterstützungswirkungen des Forums für linke soziale Bewegungen im Senegal und in der Region sind schwer zu erfassen. Ein Anhaltspunkt für die «Wirksamkeit» könnte aber sein, dass es in den letzten zwei Jahren allein in Nordafrika zwölf regionale und thematische Foren zur Vorbereitung von Dakar gab.

Die Beteiligung aus Deutschland ist einmal mehr zurückgegangen. Insgesamt waren nur noch ein gutes Dutzend deutsche Organisationen vertreten. Neben den großen Institutionen fehlten vor allem auch die kleinen zivilgesellschaftlichen Organisationen. Diesen VertreterInnen die Teilnahme zu ermöglichen, so Andreas Bohne von SODI, ist ein großes Verdienst der RLS. Besonders auch die Gewerkschaften ziehen sich aus dem Prozess zurück. Dies hat natürlich auch stark mit dem faktisch kaum noch existierenden deutschen und der Schwäche des europäischen Sozialforumsprozesses zu tun.

Auch insgesamt haben gewerkschaftliche Themen kaum eine Rolle gespielt, was vermutlich mit dem Austragungsort und seinen hoch informalisierten Ökonomien zusammenhängt. Das WSF war ein afrikanisches Forum, bestimmt durch lokale Themen, zu dem organisierte Linke der sozialen Bewegungen und NRO der westlichen Industriestaaten (vergleichsweise viele aus Frankreich) hinzu kamen. Die bestimmenden Themen waren Ressourcenpolitik, Migration, das Verhältnis Afrika und EU und ein linker Entwicklungsbegriff, der ökologische Fragen nicht ignoriert.

Das WSF fand aufgrund der politischen Lage in Tunesien und Ägypten zu einem perfekten Zeitpunkt statt. Das sog. Maghreb-Zelt war ein wichtiger Treffpunkt und Ausgangspunkt für tägliche Demos und Live-Schaltungen nach Kairo. Auf der Abschlussversammlung, der «Versammlung der Versammlungen» wurde der Abgang Mubaraks frenetisch bejubelt. Ägypten wurde zum Bindeglied des Forums.

Dakar zeigte auch, dass die gängigen Seminarformen internationaler Großveranstaltungen nicht mehr funktionieren. Die Zeiten sind vorbei, in denen alte weiße Männer vom Podium aus die Welt erklären. «Die 'alte Linke' ist immer noch eines der Rückgrate des Sozialforumsprozesses, aber sie ist – wenn nach innen gerichtet – zugleich eine der größten Hindernisse für die Überwindung ihrer Defizite», so Francine Mestrum (Universität Brüssel, Aktivistin in globalisierungskritischen Netzwerken) treffend in einem ihrer Texte. Aber alternative und damit auch oft anspruchsvolle Formen des Lernens funktionieren wegen der Notwendigkeit der Sprachmittlung und den oft prekären räumlichen Bedingungen auch schlecht. Ein Dilemma. Der Widerspruch, dass ein solches Treffen wegen seiner Horizontalität einen enormen Vorbereitungsaufwand bei gleichzeitig knappem Budget braucht, ist in Dakar sehr offensichtlich geworden.

Auch dieses WSF hat die Diskussion im Internationalen Rat, in dem mehr als 130 Organisationen (die RLS über das europäische Netzwerk Transform) vertreten sind, über die zukünftige Ausrichtung des Treffens nicht vorangebracht. Zum einen plädieren die HorizontalistInnen weiterhin für die Ausweitung des Prozesshaften, des offenen Raums, während andere die engere Anbindung an progressive Regierungen und konkrete Aktionspläne fordern. Aber wer will schon riskieren, dass die mühsam entwickelte Sichtbarkeit von Alternativen wieder mal in der Geschichte von orthodoxen, oft eurozentristischen und links-etatistischen Bewegungen kaputt gespielt wird? Das blockiert. Das WSF ist weniger als früher imstande, Diskussionen so zu entwickeln und zu organisieren, dass globale Bezugspunkte entstehen. Die großen Debatten fehlen und gleichzeitig wird durch die Kleinteiligkeit genauer und die einzelnen Kämpfe anerkennend agiert. Vielleicht ist der Gegensatz von Raum und Akteur, der die Auseinandersetzungen bestimmt, auch zu schlicht gedacht und müsste zugunsten einer Vorstellung, in der der Raum WSF zum Akteur WSF wird, aufgelöst werden.

Internationale Blicke auf das WSF

Nicht überraschend ist es, dass es auf den Mailinglisten des deutschen wie auch des europäischen Sozialforums kaum Diskussionen über das diesjährige WSF gab und gibt. Ganz anders in Lateinamerika. Achim Wahl, von 2002-2004 Büroleiter der RLS in Sao Paulo, zeichnete ein durchwegs positives Bild, das lateinamerikanische Intellektuelle und AktivistInnen vom jüngsten Weltsozialforum haben. Dakar war weniger eine Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsgipfel in Davos, sondern das Forum war vielmehr ein eigenständiger Akteur, der die großen Fragen wie Klima, Entkolonialisierung, Rassismus, die Zivilisationskrise, das Buen Vivir (Das Gute Leben - eine hochaktuelle Diskussion in Lateinamerika) thematisierte. Zwischen dem WSF in Belem im Januar 2009 und dem WSF in Dakar fanden 55 Sozialforen statt, u.a. das sehr erfolgreiche zweite US-amerikanische Sozialforum im Sommer 2010. Keine schlechte Bilanz und durchaus Beweis eines lebendigen Prozesses. Aber auch Kritik ist aus dem Süden zu hören: Die europäische Linke verschläft ihre Chancen und hat es nicht vermocht, die gemeinsamen Themen mit Afrika und Asien zu formulieren, da sie sich lediglich um Fragen der Regierungsbeteiligung kümmert. Die lateinamerikanische Linke dagegen setzt auf mehr Partizipation, so z.B. durch die Etablierung eines Rates der sozialen Bewegungen beim Staatenbündnis ALBA und beim Mercosur.

Auch für afrikanische AktivistInnen ist, so Corinna Genschel, das WSF durchaus ein Erfolg. Die Logistik und Infrastruktur waren «ein Drama». Für die Lösung entstandener Konflikte, wie z.B. dem zwischen MarockanerInnen und Sahrauis, wurde keine kollektive Verantwortung übernommen. Mit dem existierenden Raumproblem sind weder der Internationale Rat noch das lokale Organisationskomitee transparent umgegangen. Der daraus entstandene Open Space wurde, wie ein südafrikanischer Aktivist es formulierte, zum Grabbed Space, in dem jeder und jede die entstandenen Räume an sich riss. Trotzdem dominiert das gute Gefühl aufgrund der Fülle und Interdisziplinarität der Themen, besonders der Land,- Migrations- und Genderthematik. Auch der geringe Prozentsatz von Wortblasen und Phrasen werden immer wieder auf der Positivseite des WSF verbucht. Allerdings muss der Erfolg auch daran gemessen werden, ob die Verabredungen, die in den verschiedenen thematischen Versammlungen getroffen wurden, wie z.B. zum UN-Klimagipfel im November/Dezember 2011 in Durban, auch eingehalten werden.

Medienprojekte sorgen für mehr Partizipation

Andrea Plöger, Ethnologin, Sozialforums- und Videoaktivistin, die u.a. auch die Karawane von Bamako nach Dakar filmisch und publizistisch begleitete setzte sich nochmals massiv dafür ein, die Interkommunikation im Prozess zu unterstützen. Die Kluft, die zwischen der WSF-Medienstrategie und der Wirklichkeit besteht, muss überbrückt werden. Nach 2006 hat das Medieninteresse massiv abgenommen. Es wurden in den vergangenen Jahren Strukturen wie WSF-TV,  Open ESF/WSF und die Communication Commission (ComCom) geschaffen. Ein weiteres Projekt, das die Kommunikation befördern sollte, war Dakar Extended. Es hatte zum Ziel, Menschen in aller Welt durch Live-Übertragungen per Skype von Ton und Bild und der Möglichkeit, via Chat Fragen und Kommentare live zurückzusenden, am WSF-Geschehen zu beteiligen. Vorbereitet waren insgesamt 100 Fern-Begegnungen und 40 Erweiterungen, darunter die RLS-Seminare «Resources, Enclosure and Migration» und «Growth–Degrowth-Transition». Trotz der teilweise recht eingeschränkten Qualität der Live-Übertragungen, so Torsten Trotzki, Koordinator des Projektes in Deutschland und Mitarbeiter der RLS, war das Projekt wichtig, weil es Menschen integriert hat, die niemals zu einem WSF hätten kommen können und wollen. Damit wurde das WSF horizontalisiert und egalisiert, die Dokumentation und so auch die Nachhaltigkeit verbessert. In diese konkreten Orten müsste stärker investiert werden: sowohl in finanzieller Hinsicht wie auch durch die Bereitschaft, dort mitzuarbeiten.

Wo soll es hingehen?

Würde es das WSF nicht mehr geben, wäre das, so Ulrich Brand, WSF-Aktivist der ersten Stunde und Politikprofessor an der Uni Wien, ein «weltgeschichtliches Desaster». Es sei zwar eine völlige Überschätzung zu glauben, dort träfe sich die Welt, aber heute mehr denn je brauche die Welt diese Treffen. Auch in Europa nimmt die Wichtigkeit eines starken ESF aufgrund der Austeritätspolitik der EU stark zu. Immer wieder muss die Brücke zwischen Analyse und Erfahrungswissen geschlagen werden. Dafür kann der methodologische Aufwand gar nicht zu groß sein. Es geht um die (Weiter-) Entwicklung hierarchiearmen Lernens. Der Rosa-Luxemburg-Stiftung kommt dabei ein katalytisches Moment zu, in dem wir als Stiftung unsere Erfahrungen als eine linke Akteurin, unsere eigene imperiale Lebensweise zur Diskussion stellen. Das Denken in Themen, wenn wir über das WSF resümieren, führt oft zu falschen Schlüssen.

Alexander King, entwicklungspolitischer Referent der Fraktion DIE LINKE, betonte, dass es jetzt Aufgabe derer ist, die sich mit Internationalen Fragen und Entwicklungspolitik beschäftigen, die Themen aus Dakar wie Landgrabbing, Nahrungsmittelspekulation zu Schwerpunktthemen der eigenen Arbeit zu machen. Eine Konsequenz aus dem WSF 2007 in Nairobi war z.B. die bis heute andauernde Fraktionsarbeit zu den European Partnership Agreements (EPAs).

Die früher prägenden Debatten zwischen den Intellektuellen und RepräsentantInnen des Prozesses sind unwichtiger geworden. Wenn aber praktische Kritik und lokale Alternativen mehr das WSF bestimmen, wird natürlicher auch die Frage, wie diese transnationalisiert und «verallgemeinert» werden können, virulenter. «Bei transnationalen Strategien könnte es in den kommenden Jahren eine zunehmende Süd-Süd-Vernetzung von Intellektuellen und Aktivisten mit teilweise gutem Zugang zu progressiven Regierungen geben. Die Frage wird sein, wie progressive Kräfte damit umgehen, dass heute Süd-Süd-Kooperationen oft genug subimperial imprägniert sind. Massiv zunehmende westafrikanische Lebensmittelimporte aus Brasilien stellen für die Landwirtschaft ebenso eine Gefahr dar wie die Einfuhren aus Europa», so die Argumentation von Ulrich Brand.  

Achim Wahl plädierte – ähnlich wie in den drei Stunden des Treffens immer wieder auch andere TeilnehmerInnen – dafür, dass die RLS stärker zu einer unterstützenden Kraft des Prozesses wird. Einig waren sich die meisten, dass das «Dazwischen» wichtiger geworden ist. Das heißt: Die Netzwerke, die Aktivitäten zwischen den Events müssen eine höhere Bedeutung bekommen und wir damit mehr Ressourcen in die Arbeit zwischen den Weltsozialforen investieren. Die konkreten Treffen haben schon lange nicht mehr die Ausstrahlung der 2000er Jahre. So waren die «Report-back»-Veranstaltungen der Jahre 2001-2005 beinahe noch Selbstläuferinnen, wie einige der anwesenden ZeitzeugInnen berichteten. Eine Strategie wäre es, Menschen, die am Sozialforumsprozess interessiert sind, wieder stärker über ihre Themen zu involvieren. Dazu müssten die großen thematischen Treffen der nächsten Jahre, wie zum Beispiel die am 1. November 2011 in London stattfindende Konferenz gegen Austeritätspolitik, stärker zu Orten gemacht werden, die den Geist der Sozialforen atmen. 

Der Prozess geht weiter. Einen konkreten Zeit- und Aktionsplan bis zum nächsten WSF 2013 auf den Weg zu bringen, der mehr die Unterstützung des Gesamtprozesses als das Event im Auge hat, haben wir uns an diesem 29. März zur Aufgabe gemacht.

Silke Veth, Referentin Internationale Politik und Soziale Bewegungen; veth@rosalux.de  

Mehr Informationen im WSF-Blog der Stiftung:
Dakar 2011 - RLS auf dem Weltsozialforum
Berichte, Videos, Bilder, Resümees von DelegationsteilnemerInnen