Nachricht | Partizipation / Bürgerrechte - Nordafrika - COP27 Slogans auf den Prüfstand stellen

Ägypten richtet die 27. Klimakonferenz der Vereinten Nationen (COP 27) aus, doch die Menschenrechtsverletzungen des Regimes dürfen dabei nicht unter den Tisch fallen.

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Bereitschaftspolizisten stehen Wache vor der Polizeiakademie in Kairo, Ägypten, März 2014. Foto: IMAGO/Xinhua/Pan Chaoyue

Die Parole «System Change, Not Climate Change» mag zwar in linksradikalen Kreisen entstanden sein, doch sie ist längst im Mainstream angekommen und von Klimaprotesten im globalen Norden nicht mehr wegzudenken. In Berlin begegnet mir der Spruch als Graffito, auf Transparenten und Stickern. Doch seine scheinbar kraftvollen Worte drohen zu leeren Worthülsen zu erstarren, jetzt da Diktaturen in aller Welt zunehmend versuchen, Klimapolitik zu missbrauchen, um ihre erbärmlichen Menschenrechtsbilanzen grün zu waschen.

Hossam el-Hamalawy ist ein Journalist und sozialistischer Aktivist aus Ägypten. Er lebt derzeit in Berlin und stellt dort seine Dissertation über die Rolle der ägyptischen Sicherheitskräfte in der Konterrevolution fertig.

Im November diesen Jahres werden Hunderte Regierungsbeamt*innen, Vertreter*innen von NGOs und andere Teilnehmer*innen in Scharm El-Scheich an der ägyptischen Rotmeerküste bei der 27. Klimakonferenz der Vereinten Nationen zusammenkommen, der COP27. Der Gastgeber, Ägyptens Präsident Abdel Fattah El-Sisi, wird auf der Homepage der Veranstaltung mit den Worten zitiert, die Konferenz sei «eine Gelegenheit, angesichts einer existenziellen Gefahr, die wir nur durch gemeinsames und effektives Handeln bewältigen können, Einigkeit zu demonstrieren».

Die Konferenz stellt Vertreter*innen von Demokratie und Menschenrechten vor ein ernsthaftes ethisches und politisches Dilemma. Nicht genug damit, dass die Veranstaltung von einem Regime ausgerichtet wird, das über eine miserable Menschenrechts- und Umweltbilanz verfügt. Die Tatsache, dass Coca-Cola der offizielle Sponsor des Events ist, grenzt an eine Farce.

Kürzlich traf ich in Berlin eine Person, die bei einer deutschen NGO arbeitet und sich für die Teilnahme an der Konferenz aussprach, da die Veranstaltung immerhin einigen Partner*innen aus dem globalen Süden eine Plattform für ihre Forderungen biete. In den sozialen Medien stieß ich auf europäische Aktivist*innen, die vorschlugen, am Rande der Konferenz eine Protestaktion zu organisieren und sich etwa durch «#FreeAlaa»-T-Shirts mit dem bekannten ägyptischen Dissidenten Alaa Abd El-Fattah zu solidarisieren, der sich aktuell in einem Hungerstreik befindet.

Doch gute Absichten ändern nichts an der Tatsache, dass das Abhalten der 27. Klimakonferenz der Vereinten Nationen in Scharm dem ägyptischen Volk unmissverständlich zu verstehen gibt, dass es in seinem Kampf für Demokratie und gegen die katastrophale Umweltzerstörung des Regimes allein ist.

Las Vegas am Roten Meer

Der Konferenzort Scharm liegt an der Südspitze der Sinai-Halbinsel. Die zersiedelte, mit Fünf-Sterne-Hotels und Kasinos gespickte Stadt war der Lieblingsferienort des früheren ägyptischen Tyrannen Hosni Mubarak, der hier später auch sein Exil verbrachte. Die Stadt ist hauptsächlich auf die wohlhabenden Eliten des Landes ausgerichtet, auf die obere Mittelschicht und ausländische Tourist*innen.

Normalsterbliche Ägypter*innen aus dem Niltal werden für gewöhnlich daran gehindert, den Suezkanal in Richtung Sinai zu überqueren. Sicherheitskräfte kontrollieren sie, überprüfen ihre Dokumente und gewähren nur wohlhabend aussehenden Bürger*innen Zutritt. Wer arm wirkt, keine Meldeadresse in einem gehobenen Viertel Kairos oder einen «anständigen» Beruf vorweisen kann, muss eine «Arbeitserlaubnis» bei sich führen, um weiterfahren zu dürfen. Wer damit nicht dienen kann, wird zurückgeschickt oder sogar an Ort und Stelle verhört.

Die im Sinai ansässigen Beduinen sind in der Stadt zumeist unerwünscht, obwohl ihre Ahnen sich hier über Generationen hinweg frei bewegten und niederließen. Der ägyptische Staat zog phasenweise sogar in Erwägung, Scharm durch eine Betonmauer vom Norden der Halbinsel abzutrennen, um die Mobilität der indigenen Beduinenstämme einzuschränken.

Sisi und seinesgleichen sind Teil des Systems und damit Teil des Problems, und nicht etwa Personen, mit denen man auf einer internationalen Klimakonferenz ‹Einigkeit demonstriert›.

Ein Gutteil der Hotels und Kongresszentren gehört Angehörigen der Streitkräfte und der Geheimdienste, oder wird von ihnen betrieben. Sicherheitskräfte durchkämmen die Stadt regelmäßig in Uniform und in Zivil. Überwachung ist in der Reise nach Scharm inbegriffen.

Von Scharm sind es drei Autostunden bis zum historischen Katharinenkloster, das mitsamt der angrenzenden Stadt zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde und als ältestes noch in Betrieb befindliches christliches Kloster der Welt gilt. Hier treibt der Gastgeber der 27. Klimakonferenz der Vereinten Nationen momentan eine Reihe verheerender «Entwicklungs»-Projekte voran, die das Gelände ökologisch verwüsten.

Etwa 400 Kilometer vom Konferenzort entfernt befinden sich heute die Ruinen der einstmals lebhaften Grenzstadt Rafah. Im Zuge von Sisis schmutzigem Krieg im Norden der Halbinsel begann das ägyptische Militär 2014 damit, die gesamte Stadt dem Erdboden gleichzumachen und ihre Einwohner*innen gewaltsam zu vertreiben.

Der «Krieg gegen den Terror» begann auf der Sinai-Halbinsel 2004 in Folge einer Anschlagswelle auf Touristenhotels in der Ressortstadt Saba. Er war zunächst als Polizeieinsatz in Reaktion auf sporadische Attacken angelegt. Später entsandte Mubarak seinen Ermittlungsdienst für Staatssicherheit, die ägyptische Geheimpolizei, um die örtliche Bevölkerung kollektiv zu bestrafen. Dabei wurden Tausende verhaftet und gefoltert.

Mehr Informationen zu Kampagnen der Ägypten-Solidarität:

Egypt Solidarity
COP Civic Space

Doch erst nach Sisis Putsch im Juli 2013 verschlechterte sich die Sicherheitslage soweit, dass die Situation den Charakter eines wirklichen Aufstands annahm. Ranghohe Militärs versprachen anfangs zwar eine Niederschlagung der Rebellion «binnen weniger Tage», verwickelten sich dann aber rasch in einen langwierigen Krieg, der beinahe ein Jahrzehnt andauerte. Dabei traten sie die Menschenrechte der ortsansässigen Bevölkerung permanent mit Füßen.

Kampfflugzeuge bombardierten mutmaßliche Terrornester mit Streumunition. An Militärcheckpoints eröffneten schießwütige Soldaten unterschiedslos das Feuer auf Zivilist*innen. Grauenerregende Schilderungen von Augenzeug*innen und dokumentierte Berichte belegen, dass in den Militärbaracken der Provinzhauptstadt Al-Arisch regelmäßig Häftlinge gefoltert werden, die dort auf Verdachtsbasis interniert sind. Häufig werden Inhaftierte entführt oder zum Verschwinden gebracht. Andere werden standrechtlich erschossen.

Die extreme Brutalität der Armee spielte den Rekrutierungsversuchen der Aufständischen in die Hände. Das ägyptische Militär brauchte beinahe zehn Jahre, um mit den bewaffneten Kräften fertig zu werden, deren Einheiten Sicherheitsexpert*innen zufolge lediglich 800 bis 1.200 Personen stark waren.

Als Menschenrechtsaktivist*innen dazu aufriefen, die Probleme der indigenen Bevölkerung der Sinai-Halbinsel auf der bevorstehenden Konferenz zu thematisieren, stießen sie auf taube Ohren. Wie könnte es auch anders sein in einem Land, das Kritik an offiziellen Darstellungen des Kriegs gegen den Terror und damit verbundenen Ereignissen untersagt. Davon kann etwa der inhaftierte Journalist Ismail Al-Iskandarani ein Lied singen, den ein Militärgericht zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilte, da seine unabhängige Berichterstattung über den Sinai das offizielle Narrativ hinterfragte.

Das perfekte Militärlager

Ägyptens Bevölkerung zählt 102 Millionen Menschen, von denen etwa 95 Prozent im Niltal leben, einem Gebiet, das nur 5 Prozent der Landfläche ausmacht. Dieser Landstrich gehört damit zu den am dichtesten besiedelten Gegenden der Erde, und insbesondere seit dem Putsch von 2013 auch zu den am stärksten überwachten.

Nachdem der damalige Verteidigungsminister Sisi den ersten demokratisch gewählten Präsidenten des Landes am 3. Juli 2013 abgesetzt hatte, dauerte es nicht lange, bis er den staatlichen Repressionsorganen den Befehl erteilte, die 2011 begonnene Revolution niederzuschlagen. In den Monaten nach seinem Machtantritt veranstalteten Armee und Polizei eine Reihe von Massakern unter friedlichen Demonstrant*innen, darunter das größte Blutbad der modernen ägyptischen Geschichte auf dem Rābiʿa-Platz in Kairo und dem Nahda-Platz in Gizeh.

Sicherheitskräfte stürmten Universitätsgelände und töteten Student*innen am helllichten Tag, andere wurden festgenommen und vor Scheingerichte gezerrt. Die fortwährende Unterdrückung jeglicher abweichenden Meinung ließ das Strafvollzugssystem anschwellen und es entstanden weitläufige Gefängnisanlagen, in denen Tausende politische Gefangene unter miserablen Bedingungen einsitzen.

Wir können die 27. Klimakonferenz der Vereinten Nationen nicht verhindern, aber wir können Sisi daran hindern, mit dieser Veranstaltung seine Schandtaten grün zu waschen.

Die Geheimdienste des Regimes haben auch die gesamte Medienlandschaft unter ihre Kontrolle gebracht. Journalist*innen, Künstler*innen und Schriftsteller*innen werden beobachtet und zum Schweigen gebracht. Massenverhaftungen von Menschen aus der LGBTQ-Community sind an der Tagesordnung.

Im Internet sind hunderte Seiten von Menschenrechtsorganisationen und Nachrichtenportalen gesperrt, die Benutzung von VPNs ist verboten. Das Regime wendet gegen Internetnutzer*innen Techniken der Massenüberwachung an. Ende 2021 veröffentlichte die NGO Komitee zum Schutz von Journalisten eine Liste der weltweit führenden Kerkermeister*innen für Journalist*innen, auf der Ägypten den dritten Platz belegt.

Parallel zur Unterdrückung abweichender Meinungen hat Sisi Kritiker*innen zufolge in den Städten einen «Krieg gegen die Grünflächen» ausgerufen, indem er im ganzen Land Bäume fällen und öffentliche Parkanlagen planieren lässt, während in der Wüste Milliarden US-Dollar in nutzlose Großprojekte versenkt werden. Die Situation in Kairo und anderen urbanen Zentren des Landes ähnelt mittlerweile Michel Foucaults Beschreibung der modernen Stadt als einer Art Militärlager in ihren dystopischsten Zügen.

Solidarisch gegen Sisis Regime

In Anbetracht all dieser Verbrechen sollte das Sisi-Regime als Paria behandelt werden. Man sollte seine Funktionär*innen boykottieren. Seine Generäle, die direkt für die ägyptische Foltermaschinerie verantwortlich sind, sollte man auf Beobachtungslisten setzen, verhaften und für ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit juristisch zur Rechenschaft ziehen. Die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den ägyptischen Streitkräften und Sicherheitsorganen muss ein Ende haben, genauso wie der Verkauf von Überwachungstechnologien und Waffen.

Leider ist bislang das Gegenteil der Fall. Seit seiner Machtübernahme hat Sisi in Fragen wie dem «Krieg gegen den Terror» und der Bekämpfung der «illegalen Einwanderung» eng mit dem Westen kooperiert. Er hat umfangreiche Waffendeals abgeschlossen und internationale Zusammenkünfte wie die 27. Klimakonferenz der Vereinten Nationen ausgerichtet. Die europäischen Regierungen erwiesen sich als weitgehend gleichgültig gegenüber der Menschenrechtssituation in Ägypten. Politiker*innen aller Couleur führen zwar regelmäßig Demokratie und Bürgerrechte als Inbegriff «europäischer Werte» ins Feld, doch angesichts lukrativer Wirtschaftsabkommen und Sisis Versprechen, afrikanische Migrant*innen von den Küsten Europas fernzuhalten, scheinen diese Werte kaum zu zählen.

Ägyptischen Dissident*innen und Exilant*innen steht es nicht frei, wegzusehen. Sie setzen ihren Kampf gegen Sisi fort und halten sich dabei an solidarische Freund*innen und Verbündete im globalen Norden und Süden – nicht an Regierungen. Wir fordern euch in den Gewerkschaften, NGOs, Studierendenvereinigungen, ökologischen Initiativen und politischen Parteien dazu auf, lautstark gegen die politische Situation in Ägypten zu protestieren und eure Stimmen dagegen zu erheben, dass eure Regierungen mit diesem Verbrecherregime zusammenarbeiten.

Wenn wir es mit der Parole «System Change, not Climate Change» ernst meinen, müssen wir verstehen, mit was für einem System wir es zu tun haben. Das System, das wir verändern müssen, ist kein abstraktes Modell des Kapitalismus, wie es nur in Büchern existiert, sondern ein komplexes Geflecht aus Regierungen, Konzernen und gesellschaftlichen Eliten, dessen zerstörerische Art und Weise Reichtum zu schaffen und zu verteilen das Leben auf unserem Planeten bedroht. Sisi und seinesgleichen sind Teil des Systems und damit Teil des Problems, und nicht etwa Personen, mit denen man auf einer internationalen Klimakonferenz «Einigkeit demonstriert».

Wir können die 27. Klimakonferenz der Vereinten Nationen nicht verhindern, aber wir können Sisi daran hindern, mit dieser Veranstaltung seine Schandtaten grün zu waschen. Jetzt, da die bevorstehende Konferenz Ägypten ins Licht der Weltöffentlichkeit rückt, braucht die ägyptische Opposition eure Hilfe. Setzt euch bei euren parlamentarischen Vertreter*innen dafür ein, dass sie den Waffenhandel mit Sisis Militärdiktatur beenden. Übt Druck auf eure Regierungen aus, damit in der Außenpolitik Menschenrechte über ökonomische Profitinteressen gestellt werden. Protestiert vor den ägyptischen Botschaften und Konsulaten in euren Ländern und zeigt auf diese Weise eure Solidarität mit den politischen Gefangenen und allen Ägypter*innen, deren Existenzen Sisis Unrechtsregime zerstört hat.

Übersetzung von Maximilian Hauer und Max Henninger für Gegensatz Translation Collective.