Nachricht | Kapitalismusanalyse - WM Katar 2022 «Wir können uns diesen Fußball nicht mehr leisten»

Zum Verhältnis von Fußball und Kapitalismus

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Fan-Aufstand nach dem apprupten Ende der Jahreshauptversammlung des FC Bayern in München 2021. Während der Versammlung wurde die Führungsetage von vielen Mitgliedern hart kritisiert. Nachdem ein Mitglied seinen Vortrag nicht mehr auf der Bühne halten durfte, hält er seine Rede spontan noch im Saal. Zahlreiche andere Mitglieder applaudieren ihn. Der Vorstand hatte da das Treffen bereits verlassen.
Fan-Aufstand nach dem apprupten Ende der Jahreshauptversammlung des FC Bayern in München 2021. Während der Versammlung wurde die Führungsetage von vielen Mitgliedern hart kritisiert. Nachdem ein Mitglied seinen Vortrag nicht mehr auf der Bühne halten durfte, setzte er seine Rede spontan im Saal fort. Bild: Imago/MIS

Menschliches Leiden existiert – und der Fußball trägt daran eine Mitschuld. Beispiel gefällig? Letzter Stopp der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierten «Reclaim The Game - Speakers Tour» in Berlin: Über eine Stunde Diskussion ist bereits um, als der Moderator eine Frage nach dem Umgang der Fußballspieler mit der WM in Katar bekommt. Sie profitieren als reiche Millionäre von der sogenannten «WM der Schande» (Sportschau), entziehen sich dem Hochglanzprodukt der Fédération Internationale de Football Association (FIFA) jedoch nicht und verheddern sich in einem Kauderwelsch, wonach der Boykott zu spät käme: «Generell bin ich der Meinung, dass wir für einen Boykott zehn Jahre zu spät dran sind» (Leon Goretzka). Aus dem Publikum erschallt die Forderung nach Umverteilung im Fußball. Womöglich um die betroffenen Menschen in Katar zu entschädigen, aber auch um dem Fußball ein anderes Antlitz zu geben. Und wie verhalten sich die Expert*innen auf dem Podium sowie die meisten Besucher*innen? Sie schütteln belustigt den Kopf. Allein die Vorstellung, dass der Fußball sich der Regulierung unterwirft, sorgt bei den meisten offensichtlich für ungläubiges Lachen.

Diese Anekdote beschreibt auf vielen Ebenen die aktuelle Qualität der Auseinandersetzung mit Katar, der Weltmeisterschaft und dem organisierten Fußball. Nicht viele Sportereignisse vermochten es in diesem Jahrhundert die Menschen so zahlreich zu mobilisieren und Auseinandersetzungen anzuregen. Ein Marktforschungsinstitut aus Hamburg erregte vor einigen Wochen mit einer Umfrage Aufmerksamkeit; ungefähr zwei Drittel der Befragten sprachen sich darin für einen Boykott der deutschen Nationalmannschaft aus. Eine etwa gleichgroße Menge an Befragten gibt aber zu: Das Turnier im TV verfolgen, das wollen sie trotzdem.

Der Widerspruch aus Ideal und Wirklichkeit erreicht dementsprechend die Aktionen, Initiativen und Bündnisse von Fans. Ein Boykott, also der Konsumboykott eines übertragenen Fußballturniers steht für die Rettung des marktkonformen Fußballs. Die größte, offensichtliche Wunde eines Fußballs, an dem sich ein Großteil aktiver Fans in den Stadien bereits vor langer Zeit satt gesehen hat und der in Deutschland eine erhebliche Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) gegen sich hat. Über 50 Prozent der Befragten einer Studie der Universität Würzburg und der Hochschule Ansbach sprachen sich gegen die These aus, wonach der DFB hilfreich sei für die Organisation des Fußballs in Deutschland. Der Rückhalt bröckelt, das gesellschaftliche Fundament schwindet. Stellt sich nur die Frage: Warum führt diese diffuse Ablehnung nicht zu einer konkreten Kritik der Strukturen des institutionalisierten Fußballs? Das Unbehagen der Fans ist spürbar, doch dreht sich der Protest endlos um sich selbst, ein «endloser Prozess der Proteste ohne Revolte« (Agnoli 2004: 197).

Symbolhafte Marketingaktionen ohne Auswirkungen auf das Leiden in Katar

Die Kritik verharrt im idealistischen Streben nach Einhaltung der universellen Menschenrechte. Die Weltmeisterschaft in Katar verdeutlicht diese subversive Grenze der gesellschaftlichen Auseinandersetzung im Fußball. Über 2,4 Millionen Menschen leben in Katar, ohne hiesige Staatsbürgerschaft oder andere Form offizieller Anerkennung. Sie sind Arbeitsmigrant*innen, Wanderarbeiter*innen im Neoliberalismus. Diese Menschen kommen aus verschiedenen Staaten der kapitalistischen Peripherie: Aus Kenia und Uganda, Nepal und Indien. Gemeinsam haben sie das Pech, in einem Land geboren zu sein, das kaum Zukunftsperspektiven bietet. Krishna Shrestna, einer der Speaker auf der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierten Reclaim The Game – Speakers Tour, erzählte von den Verhältnissen in seiner Heimat Nepal, die ihn überhaupt erst als Arbeitsmigranten nach Katar brachten: Nach einem Studium in der Hauptstadt Kathmandu bewarb er sich monatelang auf Arbeitsplätze in Nepal, doch Aussichten gab es nie. Nepal leidet, wie viele andere Länder der Peripherie, unter einem nationalen Arbeitsmarkt, der kaum Perspektiven und Chancen bietet, aber vor allem eben kaum Stellen mit Vollbeschäftigung und finanziell absichernder Entlohnung. Dazu kommt in den vergangenen zehn Jahren ein stetes Bevölkerungswachstum, wodurch aktuell jährlich knapp 400.000 Menschen in das erwerbsfähige Alter kommen. Und dann meist auswandern müssen. Aber statt die Kritik bereits an diesem Punkt laut werden zu lassen, verharrt die globale Fußballgemeinde in Schweigen. Laut wird es erst, als die ersten Arbeitsmigranten auf den WM-Baustellen in Katar sterben und erste Berichte an die gesellschaftliche Oberfläche treiben, die von strukturell unzureichenden Arbeitsschutzbedingungen und Lohnraub sprechen.

Die Kritik an diesen Verhältnissen sorgte unter anderem dafür, dass sich sogar die deutsche Herrenfußballnationalmannschaft zu dem Schritt bemüßigt sah, in einem Länderspiel gegen Island schwarze Hemden mit der in weiß gehaltenen Aufschrift «HUMAN RIGHTS» zu tragen. Reine Symbolaktion, etwas Aufmerksamkeit und vor allem: gutes Marketing, ohne Auswirkungen auf menschliches Leiden in Katar. Der Anschein wird erweckt, wonach in der Verteidigung der Menschenrechte das Kriterium für die Ausrichtung einer Sportgroßveranstaltung versteckt ist. In einem nächsten Schritt erklingt dann die Forderung nach klima-konformer Austragung und Sünden wider die Nachhaltigkeit lassen sich anprangern, wie die Air-Conditioning-Anlagen in Katars Stadien. Aber daraus erwächst keine alternative Zukunftsperspektive oder handlungsorientierte Kritik, stattdessen bleiben wir bei der unzulänglichen Beschreibung dessen, was ist.

Wir brauchen eine Kritik am kapitalistischen System hinter dem Fußball

Nur wie könnte sich die Kritik sonst fassen lassen? Beginnen wir dafür mit einem Erklärungsansatz, wie der Fußball in seinen aktuellen Verhältnissen funktioniert. Der Journalist Christian Bartlau schlug vor einigen Jahren vor, das Spiel mit dem runden Leder analog zur Merkelschen «marktkonformen Demokratie» zum «marktkonformen Fußball» zu erklären (Bartlau 2019: 115f.). Aus der expansiven Dynamik des Kapitalismus heraus lässt sich erklären, dass der Fußball die kapitalistischen Logiken angenommen hat und nach ihnen funktioniert. In der Sphäre des Fußballs kann keine Entscheidung getroffen werden, die nicht kapital-konform ist und so theoretisiert das Konzept des marktkonformen Fußballs einerseits die wahrgenommene Entfremdung vieler Fußballfans zu dem Spiel, die insbesondere durch die Geisterspiele während der Covid-Pandemie aufbrach und andererseits die ökonomische Verwertungslogik des Fußballs, der seine Fans in den Stadien wie auf der Couch braucht, um Profite zu akkumulieren und diese dementsprechend einhegen muss. Der Fußball ist also in kapitalistische Verhältnisse eingebunden und zählt als Teil der Unterhaltungsindustrie, wo der Mehrwert - durch die Spielenden und die Fans als unmittelbare und notwendige Akteure des Produkts Fußball erzeugt - umverteilt wird: zugunsten der Mächtigen im Fußball.

Schade nur, dass uns der Begriff des marktkonformen Fußballs kaum erklären kann, wer diese «Mächtigen» sein sollen, und darin zeigt sich die Unzulänglichkeit vorherrschender linksliberaler Fußballkritik, die ja auf den ersten Blick mithilfe kritischer Theorien und Begriffe arbeitet, aber ungenügende Antworten liefert. Die Analyse der Zusammenhänge im marktkonformen Fußball bleibt unzulänglich, weil sie zwar den inhärenten Widerspruch zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit des Sports herausstellt, aber diesen Widerspruch im gleichen Atemzug reduziert. Wenn die komplexen Probleme, die uns im Fußball begegnen, nur auf schlechte oder bessere Funktionär*innen reduziert werden, wo ist dann der Kern dieser Kritik? Das Problem liegt in der Unfähigkeit, die vollständige Zusammensetzung des Gegenstands zu erkennen: Die hochgehaltenen Ideale des Fußballs sind längst Teil der kommerziellen Wirklichkeit, umgesetzt durch die Regeln der Fußballverbände.

Wollen wir den Fußball wirksam kritisieren, um ihn zu verändern, müssen wir ihn als Sphäre dekonstruieren. Das Fundament jeder Kritik muss das Verlangen nach einer Veränderung der Wirklichkeit sein und diese Kritik beginnt dort, wo das Verhältnis zwischen Fußball und Gesellschaft gestört ist: An dessen institutioneller Verfasstheit. Wollen wir andere Verhältnisse schaffen und nicht bloß verbesserte Zustände der Fußballverbände durch bessere Funktionär*innen, dann kann der Zugang kein normativ-moralischer, sondern muss ein materialer sein. Dann verharrt die Kritik nicht an der bloßen Verteidigung der Menschenrechte, die ja intrinsisch Herrschaft zur Durchsetzung bedingt, sondern setzt auf die Abschaffung des Prinzips Herrschaft. Aus der kritischen Betrachtung des marktkonformen Fußballs muss folglich eine Kritik am kapitalistischen Fußball entstehen.

Die Fans sind nur Mittel zum Zweck

Begreifen wir Fußball als Feld, wo Gesellschaft aufeinandertrifft, so sollten wir konkreter von einer »materiellen Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse« sprechen. Womit der marxistische Staatstheoretiker Nicos Poulantzas eigentlich den bürgerlichen Staat beschrieb, trifft auch auf das Spiel mit dem runden Leder zu. «Auch das Stadion presst links und rechts, oben und unten an einem Ort zusammen. So nah wie hier kommen sich VIP-Lounge-Besucher:innen und Ultras, linke und rechte Fans sonst nie» (Stork/Wollenhaupt 2022: 10f.). Das Fußballstadion als Kleinstkosmos unserer Gesellschaft mit der Abbildung ihrer bürgerlich dominierten Kräfte- und Machtverhältnisse. Die gesellschaftlichen Kämpfe bahnen sich den Weg in den Fußball und nirgends sonst kann man viele der Probleme kapitalistischer Gesellschaften so praktisch bewundern. Die Rezeption der Weltmeisterschaft in Katar bekräftigt das.

An dieser Stelle trifft die Kategorie der Kritik auf die der Emanzipation. Bereits Immanuel Kant beschreibt mit dem kategorischen Imperativ den Anspruch, wonach «der Mensch nie Mittel, sondern Zweck ist.» Betrachten wir unter Zuhilfenahme dieser Kategorie die Logik des kapitalistischen Fußballs, dann sind Vereinsmitglieder, die die Basis aller Fußballvereine und -verbände ausmachen, nur rationalisierte Teilsummen mit dem Mittel der Legitimation dieser vor sich hergetragenen gesellschaftlichen Relevanz. Der Fußball trägt seinen demokratischen Schein vor sich wie einen Schild, bereit zu jeder Verteidigung. Nur sind die Menschen, die den Sport per Definition erst zu dem machen, was er ist, nicht Mittelpunkt, sondern nur Mittel zum Zweck der Machtverteilung und des Machtgewinnes der Funktionär*innen als bürokratische Eliten des Fußballs.

Die Vision: Das emanzipierte Stadion

Eine marxistische Kritik am Fußball greift demnach nicht nur die einfache Form der unmittelbaren Organisation seiner Wertschöpfung an. Es geht nicht nur um die Frage, wie und unter welchen Bedingungen im Fußball Kapital akkumuliert wird. Vielmehr richtet sich der Blick auf die Gesellschaft und ihre Prozesse, mit dem Fokus auf die Gesamtheit der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen der Fußball existiert. Die Emanzipation von Herrschaftsverhältnissen braucht das Verständnis über die spezifischen, historischen Bedingungen der Entstehung des institutionalisierten Fußballs und eine Ablehnung jeglicher Zuschreibung eines natürlichen oder absoluten Charakters des Sports. Diese Methode des dialektischen Materialismus zeigt die Veränderbarkeit der Verhältnisse auf. Deshalb funktioniert Marxismus nicht einfach als Theoriezugang der akademisierten Wissenschaft, Marxismus leitet sich aus der Realität ab und diese Realität zeigt gesellschaftliche Bewegungen auf: die Klimabewegung um Fridays for Future, antirassistische Bewegungen, selbstorganisierte, gewerkschaftliche Versuche migrantischer Arbeiter*innen, aber eben auch kommerzfeindliche Ultras. Sie alle finden sich in ihrer Rolle als «Teilmomente der Dialektik von Kapitalismus und Widerstand» (Mendívil/Sarbo 2022: 19) wieder.

Wenn also der Fußball als gesellschaftliches Feld begriffen wird, das den Herrschaft- und Zwangscharakter reproduziert, dann wird das Stadion zu einem Raum mit dem Ziel der Emanzipation hin zu einer gewaltlosen und herrschaftsfreien Gesellschaft. In der Demokratisierung der Sphäre Fußball steckt somit nicht nur die Frage der gleichen Teilhabe Aller, sondern auch die Demokratisierung des als Fans produzierten Reichtums, die Auflösung des Privateigentums in Form von Vereinen und Stadien, Nachwuchsleistungszentren und Stadien und aller ökonomischen Entscheidungen, die uns immanent zwingen, über den Tellerrand des Fußballs zu blicken. Die Empörung über die Weltmeisterschaft in Katar ist zu groß, die gesellschaftlichen Verhältnisse in Bezug auf migrantische Arbeiter*innen zu schlimm, die Rolle des Fußballs zu gewichtig, um die Kritik im normativ-moralischen Nebel verhaftet bleiben zu lassen. Das Fußball-UFO kehrt nicht durch bessere Entscheidungsträger*innen auf die Erde zurück, ihm muss der Treibstoff entzogen werden. Nur so verbinden sich die diffusen Kritikpunkte zu einer verdichteten, ganzheitlichen Kritik mit dem Ziel der Emanzipation von den Zwangsverhältnissen des kapitalistischen Fußballs.

Literaturverweise:

Agnoli, Johannes: Von der kritischen Politologie zur Kritik der Politik. In: Ders.: Die Transformation der Demokratie und verwandte Schriften. Konkret Literatur Verlag: Hamburg 2004. S. 193-202.

Bartlau, Christian: Ballverlust. Gegen den marktkonformen Fußball. PapyRossa Verlag: Köln 2019.

Mendívil, Eleonora Roldán/Sarbo, Bafta: Warum Marxismus? In: Dies. (Hg.): Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus. Karl Dietz Verlag: Berlin 2022. S. 17-36.

Stork, Klaus-Dieter/Wollenhaupt, Jonas: Links kickt besser. Der Mythos vom unpolitischen Fussball. Westend Verlag: Frankfurt/Main 2022.