Nachricht | Demokratischer Sozialismus - Gesellschaftstheorie - Rosa-Luxemburg-Stiftung Klaus Steinitz: Immer wieder neu über Sozialismus nachdenken

Zum 90. Geburtstag eines nach wie vor aktiven Genossen Ökonom. Von Lutz Brangsch und Judith Dellheim

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Klaus Steinitz Foto: DIE LINKE. Bezirksverband Reinickendorf

Als überzeugter Sozialist und anerkannter Wissenschaftler geriet Klaus Steinitz in der «Wendezeit» in den politischen Trubel der sich überschlagenden Ereignisse. Er gehört zu jenen Aktiven, die die SED zur PDS transformierten, war Mitglied des Parteivorstandes der PDS, Leiter der damaligen Kommission für Wirtschafts- und Sozialpolitik und Exponent der AG Wirtschaftspolitik. So steht er für den Beginn einer völlig neuen Art und Weise, Sozial- und Wirtschaftspolitik aus der sozialistischen Opposition heraus zu betreiben (z. B. «Vom Umbruch zum Aufbruch? Wirtschaftspolitik: Bilanz, Fragen, Vorschläge für die PDS», 1991). In der PDS und dann in der Partei DIE LINKE prägte und begleitet er die Entwicklung alternativer wirtschaftspolitischer Auffassungen (z. B. «Chancen für eine alternative Entwicklung: linke Wirtschaftspolitik heute», 2005). Klaus Steinitz‘ Produktivität war und ist enorm und so ist die Liste seiner Aktivitäten lang: Mitwirkung an Anträgen an die Parteitage der PDS und der Partei DIE LINKE., Auseinandersetzung mit DDR Wirtschaftsgeschichte und SED-Wirtschaftspolitik, Alternativen für die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland, für die Bundesrepublik und die EU. Als Mitglied der Leibniz-Sozietät und der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik sorgte er engagiert dafür, dass die Themen DDR-Geschichte und gesellschaftliches Leben in Ostdeutschland nicht marginalisiert werden.

Doch weil es hier nicht um eine Würdigung des Lebenswerkes des langjährigen Aktivisten und Verantwortungsträgers des Vereins Helle Panke bzw. der Berliner Landesstiftung der RLS gehen kann, nehmen wir das ständig erneuerte Steinitzsche Angebot zum Gespräch über Sozialismusversuche und Sozialismus an. In diesem Kontext wird meist verwiesen auf «Das Scheitern des Realsozialismus» (2007), die Gemeinschaftsarbeit mit Dieter Walter «Plan – Markt – Demokratie. Prognose und langfristige Planung in der DDR – Schlussfolgerungen für morgen» (2014), die Flugschrift «Götterdämmerung des Kapitalismus?» (2016), die gemeinsam mit Joachim Bischoff entstanden ist, und die hier besonders interessierende Broschüre «Zukunftsfähiger Sozialismus im 21. Jahrhundert. Herausforderungen an eine sozial-ökologisch nachhaltige gesellschaftliche Produktionsweise» (2018). Und sicher überrascht es keinesfalls, dass sich Dieter Klein auch in seinem jüngsten Buch «Regulation in einer solidarischen Gesellschaft. Wie eine sozial-ökologische Transformation funktionieren könnte» von 2022 auf Analysen von Klaus Steinitz bezieht. Deren große Vorzüge bestehen in Folgendem:

  1. Sie erklären, wie in der DDR Wirtschaftspolitik betrieben wurde, warum sie sich entwickelte wie sie sich entwickelte und was die ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen waren;
  2. Sie zeigen die Reproduktionsbedingungen und Reproduktionserfordernisse der Betriebe und der Volkswirtschaft in der DDR auf;
  3. Sie helfen, sich offensiv mit vereinfachenden Vorstellungen von einer künftigen «sozialistischen Wirtschaft» auseinanderzusetzen, die die Ware-Geld-Beziehungen unterschätzen und davon ausgehen, dass eine zentrale Planung dank moderner Rechentechnik maximierbar und optimierbar sei;
  4. Sie liefern die Basis für weitere kritische Reflektionen von sozialistischen Akteuren, die sich mit Wirtschaft, Wirtschaftspolitik, wirtschaftswissenschaftlicher oder politökonomischer Arbeit beschäftigen.

Der letztgenannte Vorzug zeigt sich besonders in dem bereits erwähnten Buch «Zukunftsfähiger Sozialismus im 21. Jahrhundert. Herausforderungen an eine sozial-ökologisch nachhaltige gesellschaftliche Produktionsweise» (die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Schrift). Es spricht für die Qualität und das Inspirierende einer Arbeit, wenn sie Fragen aufwirft, zum Weiterdenken einlädt und stimuliert und so nehmen wir das Diskussionsangebot von Klaus Steinitz dankend an.

«Systemkrise des Kapitalismus – Anforderungen an sozialistische Zukunftsvorstellungen», «Zusammenhänge und Probleme zur Bestimmung der Herausforderungen», «Herausforderungen für einen zukunftsfähigen Sozialismus des 21. Jahrhunderts», «Zusammenfassende Bewertung der Herausforderungen» und «Schlussfolgerungen für die weitere Arbeit» sind die Kapitelüberschriften. Sie sagen zum einen, dass hier «Anforderungen» und vor allem «Herausforderungen» Schlüsselworte sind. Zum anderen werfen sie die Frage nach dem Verständnis von «Systemkrise des Kapitalismus» und «zukunftsfähigem Sozialismus» auf. Der Autor versteht unter der «Systemkrise des Kapitalismus» die «Krise der gesellschaftlichen Reproduktion im Finanzmarktkapitalismus», die «eng und vielfältig mit den Fesseln und Blockierungen der Produktivkraftentwicklung im gegenwärtigen Kapitalismus verflochten [ist].» (S. 11) Vielleicht ist es hilfreich, für die Analyse und Diskussion zwischen kapitalistischer Produktionsweise und bürgerlicher Gesellschaft zu unterscheiden, um den Fokus auf die Akteure in der bürgerlichen Gesellschaft zu legen, die die kapitalistische Produktionsweise ideologisch, theoretisch und politisch-praktisch kritisieren. «Zukunftsfähiger Sozialismus» meint bei Steinitz eine sich dauerhaft behauptende sozialistische Gesellschaft. Es geht ihm «um die Realisierung der potenziellen Überlegenheit einer sozialistischen Gesellschaft» (S. 30) Diese sieht er in der Aufhebung der «Blockierungen und Fehlentwicklungen der Produktivkräfte im gegenwärtigen Finanzmarktkapitalismus» und der Ausrichtung ihrer «weiteren Entwicklung auf die bessere Befriedigung der Lebensbedürfnisse der Menschen, gute Arbeitsbedingungen und die Erfordernisse zur Erhaltung der natürlichen Umwelt» bei «Dominanz sozialistischer Eigentumsverhältnisse» (S. 39). In diesem Kontext diskutiert Steinitz Herausforderungen und Anforderungen. «Ich habe den Begriff Herausforderung bewusst gewählt, weil er geeignet ist, die vielfältige Problematik eines neuen Sozialismus des 21. Jahrhunderts in ihrer Komplexität und zugleich Differenziertheit darzustellen. Ich gehe davon aus, dass die Herausforderungen grundsätzlich jeweils notwendige, stabile Grundzusammenhänge einer sozialistischen Gesellschaft zum Ausdruck bringen. Ihr konkreter Inhalt entfaltet sich hingegen in spezifischen Beziehungen und Tendenzen und unterliegt ständigen Veränderungen. Die Herausforderungen betreffen sowohl notwendige Bedingungen und Voraussetzungen einer sozialistischen Gesellschaft als auch ihre grundlegenden Ziele. Bei ihrer Charakterisierung soll deutlich werden, dass die Beziehungen zwischen Bedingung und Ziel und damit auch die spezifischen Funktionen, die sie in einer sozialistischen Gesellschaft ausüben, beträchtliche Unterschiede aufweisen. Bei mehreren Herausforderungen stehen nicht die Ziele selbst, sondern die Schaffung der notwendigen Voraussetzungen und Bedingungen für deren Verwirklichung im Vordergrund.» (S. 29) Wir meinen, Steinitz‘ Gedanken weitertreibend, dass gegenwärtig die primäre Herausforderung darin besteht, die Bedingungen der Fortexistenz der Menschheit und des Menschseins zu erhalten und damit die Möglichkeit einer sozialistischen Entwicklung zu bewahren. Deren größte Bedrohungen sind die Vernichtung der natürlichen Lebensbedingungen, insbesondere des Klimas, und ein globaler Nuklearkrieg. Das spricht keinesfalls gegen eine gründliche Diskussion über Lehren aus gescheiterten Sozialismusversuchen – der Begriff scheint uns geeigneter als «Realsozialismus», der aus unserer heutigen Perspektive kein Sozialismus war – aber fokussiert mehr auf die Organisierung und Qualifizierung von Akteuren sozialistischer Politik. Damit sind politische Akteure gemeint, die sich orientieren am Ideal einer Gesellschaft der Freien und Gleichen, die solidarisch und ökologisch handeln und daher engagiert jene Akteure und Tendenzen bekämpfen, die Menschen töten und bedrohen und die Realisierung dieses Ideals verstellen. Das wirft dann die Fragen auf, wie die Ursachen und Hauptverursacher der globalen Reproduktionskrise genau benannt und wirksam bekämpft werden können; wie die Reproduktion der Bedingungen für das menschheitliche Überleben und zunehmend für ein selbstbestimmtes Leben aller in Würde, solidarischem Miteinander und gesunder Natur organisiert werden können. Dieser Weg würde mit neuen sozialistischen Projekten und Versuchen einhergehen, die nur erfolgreich verteidigt und weitergetrieben werden können, wenn es eine wachsende kritische globale sozialistische Macht gibt. Bei diesen Projekten würde es dann selbstverständlich gehen um Produktivkräfte, Eigentumsverhältnisse, eine neue sozial und ökologisch nachhaltige Produktions- und Betriebsweise, Demokratisierung der Gesellschaft, gesellschaftliche Regulierung der Wirtschaft und anderer Bereiche, ein sozial gerechtes Steuer- und Abgabensystem, individuelle Entfaltung bei Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, fortschreitenden Abbau sozialer Ungleichheit und fortschreitende Teilhabe am gesellschaftlichen Fortschritt, gleichberechtigte und solidarische internationale Beziehungen (S. 5-6 bzw. 31-75). Allerdings ist die Reihenfolge zu bedenken, denn die Demokratisierung ist der Ausgangspunkt und ihre Permanenz ist die Realisierung von gesellschaftlichem Fortschritt. Der muss definiert werden, wofür Steinitz wichtige Elemente liefert, die in der Aussage zusammengefasst werden können: Fortschritt ist eine Vergesellschaftung, die gesellschaftliche, ökologische und globale Probleme nachhaltig und gerecht löst und dabei dem genannten Gesellschaftsideal zunehmend näherkommt. Daher kann eine solche Art und Weise von Vergesellschaftung weder ein Produkt der Kapitalakkumulation sein, noch kann sie mit Konzentrations- und Zentralisierungsprozessen in der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion einhergehen, die Gewalt gegen Menschen hervorbringen und die Stoff- und Energieumsätze und damit den globalen Verbrauch der Natur, die Verschmutzung der Luft, des Wassers und der Böden steigern, beibehalten, aber nicht drastisch reduzieren. Damit ist die Frage nach einem neuen Industriemodell gestellt, was Steinitz mit einer «neuen sozial-ökologisch nachhaltigen gesellschaftlichen Produktions- und Betriebsweise» (S. 29) meint. Ferner sind damit die Art und Weise des Zusammenwirkens der Arbeitskräfte mit den Produktionsmitteln und Technologien thematisiert. Und unter den «wichtigen Tendenzen der Entwicklung der Produktivkräfte in einer sozialistischen Gesellschaft» (S. 31) heißt es insbesondere: «Entwicklung und umfassende Anwendung neuer revolutionierender Technologien, insbesondere der Digitalisierung, die große Potenziale enthalten, um die Produktivität der Arbeit zu erhöhen und die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen zu verbessern, zugleich aber auch viele Gefahren aufweisen. Hiermit ist auch eine qualitativ neue Rolle der Information als Element der Produktivkräfte verbunden.» (S. 32) Die beiden interessanten Sätze weisen auf eine komplizierte Problematik hin, die mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise verbunden und dem Scheitern der sozialistischen Versuche verbunden ist: eine an Profitmaximierung und entsprechender Produktivitätssteigerung ausgerichtete Konkurrenz und zu militärischer Hochrüstung getriebene Gesellschaft kann keinen «zukunftsfähigen Sozialismus» errichten: Sie wäre fremdbestimmt, würde Ressourcen vergeuden, könnte sich nicht primär an ihrem Gesellschaftsideal und den demokratischen nachhaltigen und gerechten und somit solidarischen Problemlösungen orientieren. Sie wäre gezwungen, der Logik einer Vergesellschaftungsweise zu entsprechen, die verknüpft ist mit der Zurichtung der Arbeitskräfte, vermarktbaren Arbeitsmitteln, Technologien und Waffen, Innovationen in der Arbeitsorganisation und in der Organisation des Militärs, prinzipieller Produktivitätssteigerung, expandierenden Märkten, Eroberung bzw. Imperialität, Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Dabei wächst die Zerstörungskraft der Waffen, werden immer größere Infrastruktur- und Militärprojekte hervorgebracht, steigen tendenziell die für konkrete Unternehmungen erforderlichen Ressourcen und begründen die dominierenden Unternehmenstypen. Aber von ihren Zielen her müssten die Akteure der neuen Gesellschaft unentwegt demokratische Suchprozesse führen, um ein effektives kollektives Handeln der Beschäftigten in den Unternehmen und Institutionen so zu organisieren, dass die sozialen und ökologischen Kosten im gesellschaftlichen Wirtschaftsleben minimiert werden und einer Gesellschaft der Freien und Gleichen nähergekommen wird; um eine Vergesellschaftungs- und Produktionsweise und einen neuen Typ von Industrie und Wirtschaft zu gestalten, die die Bedürfnisbefriedigung und Partizipation der Beschäftigten, Verbraucherinnen und Verbraucher an wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Entscheidungen maximieren, aber die Energie- und Stoffumsätze, die Verschmutzung der Luft, des Wassers und der Böden, die Beanspruchung der Ökosysteme minimieren. Die neue Gesellschaft kann sich also nur bei wirksamer globaler Solidarität herausbilden und entwickeln. Diese müsste vor allem in der Lage sein, das Militärische und die internationalen Grenzen für die tatsächliche Vergesellschaftung – d.h. die Wahrnahme der Eigentümerfunktion durch die unmittelbaren Arbeitskräfte selbst – strukturell zurückzudrängen und zu überwinden. Wirksame globale Solidarität ist die elementare Voraussetzung dafür, dass sich die neue Gesellschaft progressiv reproduzieren kann; dass sie also die Bedingungen dafür schaffen und erneuern kann, dass die Gesellschaftsmitglieder ihre Gesundheit erhalten und verbessern, zunehmend selbstbestimmt, solidarisch und ökologisch handeln und daher zugleich die gesellschaftliche Entwicklung (mit)bestimmen. Das geht über die Orientierung hinaus, «in einem längeren Prozess den Kapitalismus im Niveau der Produktivität zu übertreffen» (S. 45). Schließlich hat die kapitalistische Produktionsweise die globale Reproduktionskrise hervorgebracht. Allerdings hatte sie bereits vor mehr als 100 Jahren die Produktion derart vergesellschaftet, dass die gesellschaftliche Reproduktion ohne Kapitalisten erfolgen kann. Diese werden für die weitere Vergesellschaftung nicht mehr gebraucht und die gesellschaftlichen Produktivkräfte sind zu Destruktivkräften geworden. Das begründet, warum sich Steinitz intensiv mit Eigentumsverhältnissen befasst und sich konstruktiv-kritisch mit den Erfahrungen des Staatssozialismus auseinandersetzt. Er sieht «die Herausbildung und umfassende Nutzung der neuen, auf der Vergesellschaftung des kapitalistischen Privateigentums beruhenden sozialistischen Eigentumsverhältnisse» als ein konstitutives Element für die Herausbildung einer neuen dem Sozialismus eigenen gesellschaftlichen Produktions- und Betriebsweise» (S. 44).

Wir müssen also daran arbeiten, dass die Sozialistinnen und Sozialisten fähig werden, gemeinsam mit anderen demokratischen und humanistischen Akteuren, die Richtung und die Art und Weise, in der sich die Gesellschaft entwickelt, zu verändern. Das aber kann nur gelingen und weitergetrieben werden, wenn sie eine Wirtschaftspolitik konzipieren, die auf sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung zielt. Dabei geht es um fortschreitende Demokratisierung der wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Entscheidungen, der Eigentumsverhältnisse, um Konversion der Produktions- und Reproduktionsstrukturen, um den Umbau der gesellschaftlichen Produktions-, Reproduktions- und Betriebsweise, der zugleich einen emanzipativ-solidarischen Umbau der gesellschaftlichen Lebensweise bewirkt und begleitet. Bei der Arbeit daran soll über Sozialismus diskutiert werden und es soll entwickelt werden, wie der thematisierte komplexe und komplizierte Prozess in eine sozialistische Produktionsweise und Gesellschaft mündet. Dafür steht Klaus Steinitz.