Nachricht | WM Katar 2022 «Ohne Arbeitsmigrant:innen könnte Katar nicht überleben»

Katar und Arbeitsmigration: Politische Ursachen, politischer Widerstand. Interview mit Binda Pandey

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Binda Pandey ist eine Politikerin und Gewerkschafterin aus Nepal. Mit der nepalesischen Gewerkschaftsvereinigung GEFONT unterstützte sie nepalesische Arbeiter*innen in Katar und analysierte, was die Arbeitsmigration für die Herkunfstländer der Migrant*innen bedeutet.

Im Hintergrund migrantische Industriearbeiter in Doha, Katar. Mehr als 2,5 Millionen migrantische Arbeiterer:innen leben und arbeiten unter prekären Bedingungen in Katar. Mit ihren Einkommen unterstützen sie ihre Familien in ihren Heimatländern. Bild: Imago/Luis Davilla

Für Millionen Menschen in aller Welt ist Arbeitsmigration alltägliche Realität, die in der Linken jedoch allzu selten im Fokus einer kritischen Debatte steht: Die Heimat verlassen, um anderswo den Lebensunterhalt für sich und die oftmals zurückgebliebenen Familienmitglieder zu verdienen. Stattdessen ist man üblicherweise damit beschäftigt, das Recht auf Migration gegen den Widerstand von Rechts zu verteidigen. Für viele Menschen, die jährlich gezwungen sind, ins Ausland zu reisen, um dort für einen mickrigen Lohn Knochenarbeit zu leisten, ist Migration das unwürdige, unmenschliche Antlitz kapitalistischer «Freiheit», auf das sie lieber verzichten würden.

Im Jahr 2017 schätzte die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) die Zahl der weltweiten Arbeitsmigrant*innen auf 164 Millionen Menschen, womit diese knapp 59 Prozent aller Migrant*innen ausmachten. Fast die Hälfte von ihnen (40,8 %) arbeitete in den arabischen Staaten am Persischen Golf, während die Übrigen sich auf Nordamerika, Europa, Japan und Australien verteilten. Mit der Ausweitung globaler Lieferketten und einer größeren Mobilität aufgrund sinkender Reisekosten war auch ein Anstieg der Migration zu verzeichnen. Insbesondere im Globalen Norden ging diese Entwicklung mit einer weiter zunehmenden Verschärfung der Grenzüberwachung einher.

Binda Pandey ist eine nepalesische Politikerin, die von 2011 bis 2017 als stellvertretendes Mitglied in den Verwaltungsrat der Interntationalen Arbeitsorganiation (IAO) gewählt wurde. Für den nepalesischen Gewerkschaftsdachverband GEFONT (General Federation of Nepalese Trade Unions) war sie an den Verhandlungen mit der katarischen Regierung beteiligt.

Als Vertreterin der Kommunistischen Partei Nepals (Vereinigte Marxisten-Leninisten) war sie zuvor auch Teil der ersten Verfassunggebenden Versammlung in Nepal.

Diese Arbeiter*innen zu organisieren, hat sich als ausnehmend schwierig erwiesen. Weil Gewerkschaften in den Zielländern häufig unterdrückt werden, und weil die Bedingungen, die sich aus der Migration selbst ergeben es für die Arbeiter*innen schwierig machen, sich zu organisieren.

In den letzten Jahren sorgten Berichte über migrantische Arbeiter*innen, die unter sklavenähnlichen Bedingungen beim Aufbau der Infrastruktur für die Fußball-WM 2022 in Katar beschäftigt waren, dafür, dass dieses Problem auch in der Öffentlichkeit stärker in den Blickpunkt gerückt ist. Jetzt, da die Spiele beginnen, ist es von allergrößter Wichtigkeit, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf ihre Notlage gerichtet zu halten und sowohl während als auch nach der WM die dunkle Seite der Migration zu beleuchten.

Raphael Molter sprach mit der nepalesischen Gewerkschafterin Binda Pandey, die jahrelang mit migrantischen Arbeiter*innen in Katar zusammengearbeitet hat. Zu ihrem Arbeitsfeld gehörten die Herausforderungen der Gewerkschaftsbewegung bei der Verbesserung der Situation dieser Arbeiter*innen sowie die Frage, was Arbeitsmigration für die Länder bedeutet, aus denen die Migrant*innen stammen.
 

Binda, du warst beinahe 10 Jahre lang, von 2011 bis 2021, als Vertreterin des nepalesischen Gewerkschaftsdachverbands GEFONT (General Federation of Nepalese Trade Union) Teil des IAO-Verwaltungsrats. Wie kamst du mit dem Thema der Arbeitsmigration in Katar in Berührung?

GEFONT ist eine der Gewerkschaften, die die Organisierung migrantischer Arbeiter*innen in den Zielländern unterstützt, und zwar als GEFONT Support Group (GSG). Gleichzeitig unterstützt die Gewerkschaft diese Arbeiter*innen auch in ihrem Herkunftsland. Die GSG nahm 1995 ihre Aktivitäten in anderen Ländern auf und wurde in Katar 2011 als lokale Organisation gegründet. Von Beginn an war ich mit diesen Themen betraut und kam dadurch auch mit der GSG in Katar in Kontakt. Als ich verschiedene Arbeiter*innen im IAO-Verwaltungsrat vertrat, verlängerte ich meine Dienstreisen immer über Doha, um dort ein paar Tage zu verbringen und mit migrantischen Arbeiter*innen ins Gespräch zu kommen, mehr über ihre Situation zu erfahren und ihre Belange auf IAO-Konferenzen ansprechen zu können.
 

Wie schätzt du die Fortschritte ein, die Katar in Form von Arbeitsrechtsreformen den Medien und der Öffentlichkeit zu verkaufen versucht?

Wie vielleicht bekannt ist, reichten der Internationale Gewerkschaftsbund und die Bau- und Holzarbeiter-Internationale bereits 2011 eine Beschwerde bei der IAO ein und verlangten die Abschaffung des Kafala-Systems in Katar. Die Entscheidung der FIFA, die Fußball-WM 2022 an Katar zu vergeben, wurde entsprechend als Chance begriffen, unsere Stimmen für die Rechte migrantischer Arbeiter*innen zu erheben. Und auf Grundlage der Empfehlungen durch den IAO-Verwaltungsrat begann Katar tatsächlich damit, rechtliche Bestimmungen zu ändern und Unternehmen aufzufordern, diese auch umzusetzen. Manche der neuen Bestimmungen sind umgesetzt worden, etwa die Überweisung von Löhnen über das Bankensystem, die Abschaffung von «Unbedenklichkeitsbescheinigungen» als einer Bedingung, um Katar wieder verlassen zu können, die Abschaffung der Einbehaltung von Reisepässen, die Ausbildung von Arbeitsinspekteur*innen zur Überprüfung der Arbeitsbedingungen, die Ausweitung von Streitschlichtungsmechanismen und viele weitere Regelungen – vor allem in großen Unternehmen. Besonders in kleinen und mittleren Betrieben blieben viele der Probleme allerdings bestehen.

Auf welchen Bereich sollten sich IAO und andere Gewerkschaften in Katar fokussieren – die katarische Führung stärker unter Druck setzen oder die beginnende Selbstorganisation migrantischer Arbeiter*innen unterstützen?

Ich denke, dass beide Wege relevant sind. Als ersten Schritt zur Bildung von Gewerkschaften stimmte die katarische Regierung der Bildung gemeinsamer Ausschüsse von Vertreter*innen des Managements und der Beschäftigten zu, um auf diese Weise Streitigkeiten beilegen zu können. Von den Tausenden von Unternehmen, die migrantische Arbeiter*innen beschäftigen, haben dies meines Wissens nach bislang jedoch erst 50 Unternehmen umgesetzt. Darüber hinaus sind keine systematischen Informationen darüber verfügbar, wie diese gemeinsamen Ausschüsse die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter*innen beeinflusst haben. Daher bleibt es wichtig, die reale Arbeitsumgebung im Blick zu behalten, die Arbeiter*innen entsprechend zu befähigen und die katarische Führung dazu zu bringen, diesen Prozess zu beschleunigen.

In Katar gibt es mehr als zwei Millionen Menschen, die als Arbeitsmigrant*innen auf die Arabische Halbinsel kamen und dort mit sehr wenigen Rechten leben – aber vor allem arbeiten müssen. Wie steht es um sie im internationalen Vergleich?

Der Lebensstandard und die Wirtschaft in Katar hängen von migrantischen Arbeiter*innen ab. Ohne sie könnte das Land nicht überleben. Das ist die Realität. Entsprechend bedeutet das, dass nicht nur die Menschen aus den Herkunftsländern eine Anstellung benötigen, auch Katar selbst braucht migrantische Arbeiter*innen. Der allergrößte Teil dieser Arbeiter*innen ist vom Verlust ihrer Arbeits- und Menschenrechte betroffen. Das muss sich ändern. Migrantische Arbeiter*innen sollten bei Verletzungen ihrer Grundrechte und der gesetzlichen Bestimmungen einen einfachen Zugang zu Rechtsmitteln haben.

Welchen Einfluss hat das Phänomen der Arbeitsmigration auf Herkunftsländer wie etwa Nepal in Bezug auf den dortigen Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Entwicklung?

Rücküberweisungen sind eine der wirtschaftlichen Hauptstützen des Landes. Mehr als 50 Prozent der Haushalte sind von Rücküberweisungen abhängig. Dadurch, dass ein derart großer Anteil der heimischen Arbeitskräfte das Land verlässt, wird unsere Landwirtschaft immer stärker vernachlässigt. Das Land wird zwar moderner, aber die vorhandenen Produktionsmittel schwinden. Sollte der Staat nicht rechtzeitig mit verlässlichen Maßnahmen und Programmen gegensteuern, wird das langfristig in eine wirtschaftliche Krise münden.

Gibt es sinnvolle Maßnahmen, die Entwicklungsländer ergreifen können, um den Aderlass junger, arbeitsfähiger Menschen zu stoppen – oder ist Arbeitsmigration ein notwendiger Teil des Entwicklungsprozesses?

Verstärkte Migration ist eng mit heutigen Welt verbunden und kann nicht einfach so beendet werden. Wir können und sollten jedoch eingreifen, wo es um erzwungene Migration geht. Das betrifft hauptsächlich Länder, deren Wirtschaft schwach ist und die nur spärliche Arbeitsperspektiven bieten. Um dem Phänomen der erzwungenen Migration zu begegnen, sollten Staaten jene Faktoren effektiv in den Blick nehmen, die die Menschen zum Weggehen veranlassen. Faire Arbeit sollte respektiert werden und jede Form von Arbeit sollte menschenwürdig sein. Die Moral der Arbeiterklasse muss gestärkt werden.

Du bist auch Mitglied des nepalesischen Parlaments und deine Partei, die Kommunistische Partei Nepals (Vereinigte Marxisten-Leninisten) (CPN-UML) führt eine linke Regierung an. Wo siehst du da deine Aufgaben und welche Maßnahmen wurden bereits ergriffen, um die Arbeitsmigration einzudämmen?

Die CPN-UML war einige Jahre lang an der Regierung, von 2018 bis Mitte 2021, nach den ersten Wahlen unter der neuen Verfassung. In der Regierung hatten wir gerade damit begonnen, einige Maßnahmen und Programme aufzusetzen, bei denen es um Arbeiter*innen und ihre Problemlagen ging. Beispielsweise wollten wir ein auf Beitragsleistungen beruhendes Sozialversicherungssystem einführen und Kleindarlehen an migrantische Rückkehrer*innen auszahlen, als Grundlage für die Gründung eines Geschäfts im Inland. Zudem hatten wir die Etablierung eines verpflichtenden MOU (Memorandum of Understanding) zwischen zwei Staaten zum Schutz grundlegender Arbeitsrechte angestoßen. Wir hatten manche Bestimmungen im Sinne weitreichenderer Arbeitsrechte geändert, doch dann kam es zu einem Regierungswechsel. Danach sind einige unserer Initiativen ausgebremst oder nach hinten geschoben worden. Wir sind gespannt auf die nächste Wahl, die am 20. November 2022 ansteht und die über viele mögliche Entwicklungen entscheiden könnte.

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