Kommentar | Kapitalismusanalyse - Rassismus / Neonazismus - WM Katar 2022 Warum Entschädigungen mehr als notwendig sind

Hintergründe zur Kritik an der Fußball-WM sowie der FIFA

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Dutzende iranische Aktivisten versammeln sich, einige mit Gesichtsmasken des Scheichs von Katar, des Obersten Führers des Iran, Ali Khamenei, und des Präsidenten der FIFA, Gianni Infantino, und protestieren gegen Menschenrechtsverletzungen und die Fußballweltmeisterschaft 2022 vor der Botschaft von Katar in Bonn, Deutschland, am 21. November 2022
Iranische Aktivist*innen protestieren gegen Menschenrechtsverletzungen im Katar. November 2022, Bonn/Deutschland. Foto: IMAGO / NurPhoto

Der Fußball kann es sich leisten, das moralisch Richtige zu tun.

Das sagte der britische Chef von Amnesty International, Sacha Deshmukh. Wohlgemerkt schon im Mai 2022 und damit ein halbes Jahr vor Beginn der FIFA-Weltmeisterschaft, die uns bis zum 18. Dezember in Weihnachtsstimmung bringen soll. Die Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch und Amnesty International berichten nicht nur seit Jahren aus Katar und über die katastrophalen Lebensbedingungen vieler Arbeitsmigrant*innen, sie fordern die FIFA und nationale Fußballverbände auch dazu auf, einen Entschädigungsfond für die geschädigten Menschen und den hinterbliebenen Familien aufzusetzen. Rund 400 Millionen Euro, um das vom Fußball mitverursachte Leiden wenigstens finanziell zu entschädigen. Ehrlicherweise ist auch das nur ein Kompromissvorschlag: Die FIFA wird bei der WM in Katar Einnahmen von rund 5,7 Milliarden Euro verbuchen können, rund 1,3 Milliarden Euro besitzt der Weltfußballverband ohnehin als Vermögensreserven. Doch was tun angesichts der Wut und Ohnmacht, welche die Zustände in Katar auslösen?

Rassismen halten die aktuelle Weltordnung aufrecht – auch in Katar

Forderung nach Entschädigung, Boykott der Weltmeisterschaft: Die Proteste schreiten voran, erhöhen den Druck und verdeutlichen, dass es nicht so bleiben kann. Doch was bedeutet das? Trotz der Proteste und einem hohen Sensibilisierungsgrad der deutschen Gesellschaft (Zwei Drittel befürworten einen Boykott der deutschen Fußballnationalmannschaft laut einer Studie von infratest dimap) zeigen sich auch rassistische Aussagen in diesem Kontext.

Raphael Molter, Politikwissenschaftler und Autor, arbeitet unter anderem zu materialistischer Fußballkritik.

So birgt der Begriff Sportswashing, wodurch das katarische Interesse an Sportgroßveranstaltungen definiert wird, bereits eine rassistische Grundlage, um das intervenierende Verhalten Katars und anderer Staaten der arabischen Halbinsel im Vorhinein zu delegitimieren. Grundsätzlich kann daran nichts verwerflich sein, denn der Unterschied liegt nur darin, dass es diesmal keine westeuropäische Politiker*innen wie Angela Merkel oder Emmanuel Macron sind, die vom Sport profitieren, sondern der katarische Emir Tamim bin Hamad Al Thani. Sie alle handeln nach ähnlichen Mustern, und wenn zum wiederholten Male davon die Rede ist, dass die grundsätzlichen Verhältnisse des katarischen Staats und der konkrete Umgang mit über zwei Millionen Arbeitsmigrant*innen menschenfeindlich sind, dann sei daran erinnert, dass dahinter das Bild des Schurkenstaats Katar steckt, das sich nicht aufrechterhalten lässt.

Die Geschichte der menschenfeindlichen Staaten der arabischen Halbinsel, die Verbindung des Islams mit autoritär organisierten Staaten, Enthauptungen und Steinigungen gegenüber den rechtsstaatlichen Prinzipien des Westens. Schnell entsteht so das unbewusste Bild der zu zähmenden Wilden, die den Sport für höheren Einfluss nutzen.

Kein rechtlicher Schutz von Menschen aus der LGBTQI* Community, ein restauratives Klima einer Gesellschaft, die stark religiös geprägt ist: Menschenrechte sind vielerorts nicht mehr als eine schöne Utopie, auch der globale Norden ist dort keineswegs in der moralischen Vorreiterrolle unterwegs, wie viele das gerne hätten. Zeigen wir mit dem Finger auf Katar, dann sollten wir auch von der nächsten FIFA-Weltmeisterschaft 2026 in Mexiko, den USA und Kanada nicht schweigen. Sowohl die USA als auch Kanada haben als Kernländer des vermeintlich aufgeklärten Westens so viel Dreck am Stecken, dass auch hier die Frage nach einem möglichen Boykott erlaubt sein sollte.

Klar – Vergleiche und Whataboutism machen die Sache nicht einfacher: Aber Staaten, die ihre territoriale Hoheit erst durch Auslöschung ihrer indigenen Bevölkerungen erreichten und bis heute neokoloniale, rassistische Politiken verfolgen, sind nicht gerade ein Vorbild universeller Moral- und Ethikvorstellungen.

Rassismus gegenüber den Menschen der arabischen Halbinsel ist dabei nichts, was unserem natürlichen Trieb entspringt, und nur durch Bildung und eine aktive Zivilgesellschaft bekämpft werden kann. Der Rassismusforscher Ibram X. Kendi erläuterte in seinem Buch Stamped From The Beginning, dass sich Rassismen als ideologische Herleitung für ökonomische Ausbeutung oder Machterhalt begreifen lassen. Rassismen lieferten die ideologische wie kulturelle Begründung, warum schwarz gelesene Menschen als Sklaven ausgebeutet werden konnten und sie liefern uns aktuell die Begründung, warum der katarische Staat nicht zu viel geopolitischen Einfluss erhalten dürfe. Dahinter steckt das Interesse, die uns umgebenen Verhältnisse, das globale System des Kapitalismus in seiner jetzigen Form aufrechtzuerhalten.

Sand in den Kopf stecken

Was also machen? Kopf in den Sand stecken, oder wie Lukas Podolski mal treffend falsch formulierte: Sand in den Kopf stecken? Oder nach eigenen Kriterien überlegen, ob Katar nicht schlimmer ist als USA und Kanada und man dadurch rechtfertigen kann, dass Katar der Schurkenstaat ist, während die westlichen Länder ja vermeintlich engagiert darin sind, Missstände zu bekämpfen. Eine solche Abwägung führt nicht in die moralische Überlegenheit, sie zeigt vielmehr die Verkorkstheit unserer Welt auf.

Einer Welt, die vom globalen Kapitalismus dominiert ist und dementsprechend in einem dauerhaften Widerspruch stattfindet: Zwischen dem Anspruch des politischen Liberalismus, der sich in gemäßigter Form nach Freiheit und Gleichheit ausrichtet und Demokratie als gesellschaftliches Ideal sieht, wohingegen der Wirtschaftsliberalismus mit seinem Imperativ der Profitmaximierung oftmals konträr dazu steht: hierarchische Ordnungen, Einschränkungen demokratischer Mitbestimmung in der wirtschaftlichen Sphäre und ein gemütlicher Sozialdarwinismus, der wenig mit Freiheit und Gleichheit zu tun hat. Die Sachzwänge schaffen Probleme, wo wir nur hingucken.

Anstelle sie an der einen Stelle moralisch zu kritisieren und zu Boykotten aufzurufen und bei weniger schlimmen Sachen wegzugucken, weil es sonst zu kompliziert wird, wäre eine andere Herangehensweise besser: Kritisieren was ist und nachvollziehen, welche Ursachen dahinterstecken. Dann bleibt Katar nicht einfach der eine böse Schurkenstaat von der arabischen Halbinsel, während uns die USA mal die Demokratie gebracht haben. Dann verdichten sich viele einzelne Probleme zu einer großen Kritik des Ist-Zustands unserer Welt. Und nur aus der Kritik heraus lässt sich etwas Besseres erschaffen: im Großen wie im Kleinen.

Menschen litten für die Weltmeisterschaft

Der Kapitalismus zwingt alle unvermögenden Menschen in Arbeitsverhältnisse: Die untersten 99,9 Prozent der weltweiten Bevölkerung, also über 6 Milliarden Menschen, teilen sich nur 19 Prozent des weltweiten Vermögens. Sie sind demnach gezwungen, für Lohn zu arbeiten. Die vermeintliche Freiheit der Arbeitswahl ist mehr eine doppelte Freiheit, denn wir dürfen unsere Arbeitskraft nicht nur verkaufen, weil wir frei sind. Wir sind gezwungen, unsere Arbeitskraft zu verkaufen, um über die Runden zu kommen. Was also machen, wenn es dort keine Arbeit gibt, wo man lebt oder wenn einem ein deutlich besserer Lohn woanders angeboten wird? Die neoliberale Spielart moderner Arbeitsmigration fällt vor allem durch seine neue Form auf: Hervorgerufen durch globale Lieferketten und insgesamt höhere Mobilität werden auch Menschen, die auf den Verkauf der Verfügung über ihre Arbeitskraft angewiesen sind, mobiler.

Blicken wir dafür nach Nepal: Dort leben rund 29 Millionen Menschen, rund eine Million sind arbeitslos gemeldet und jedes Jahr kommen circa 400.000 junge Menschen in ein arbeitsfähiges Alter. Da so viele junge Menschen auf den nationalen Arbeitsmarkt drängen, es aber nicht genügend Arbeitsplätze gibt, migrieren seit einigen Jahren die Jungen immer mehr ins Ausland zum Arbeiten, was sich sogar im nepalesischen Bruttoinlandsprodukt bemerkbar macht. Rund ein Viertel des gesamten BIPs von Nepal existiert durch Geldeingänge aus dem Ausland. Sie verdienen ihr Geld zumeist in Stellen für Geringqualifizierte und gehen – neben Malysia und Kuwait – vor allem auf die arabische Halbinsel. Ob Katar, Saudi- Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate: Arbeitsmigrant*innen sind ein wesentlicher Teil der dortigen Märkte.

Eine Zahl macht das besonders deutlich: In Katar leben rund 2,7 Millionen Menschen, aber nur knapp 300.000 davon sind wirkliche Kataris mit staatsbürgerlichen Rechten. Etwa 2,4 Millionen Menschen integrierten nach Katar, weil sie angeworben wurden und ihnen Arbeit versprochen wurde. Von diesen 2,4 Millionen Menschen sind rund 400.000 aus Nepal und arbeiten hauptsächlich als Ungelernte. Damit stehen sie nach einer Beschreibung der nepalesischen Gewerkschaftlerin Smritee Lama auf der «untersten Stufe in der sozialen Hierarchie der mehr als zwei Millionen Arbeitsmigrant*innen». Die Arbeitsmigration nach Katar konzentriert sich übrigens auf zwei wesentliche Wirtschaftszweige, die katastrophal bezahlt sind, unter schrecklichen Arbeitsbedingungen und unzureichendem Arbeitsschutz stattfinden: Es sind der Bausektor sowie der Dienstleistungssektor.

Zwischen Lohnraub und Ausweglosigkeit

Einmal in Katar angekommen, eröffnet sich für die immigrierten Menschen kein erträgliches Leben oder wenigstens ein so hoher Lohn, dass damit auch etwaige Familienmitglieder in der Heimat gut durchkommen. Stattdessen erleben wir in vielen Golfstaaten systematischen Lohnraub. Vereinbarte Löhne werden nicht ausgezahlt, auf darauffolgende Streiks nicht reagiert: Das ist kein Problem einzelner Staaten, die ein schlechtes moralisches Bild abgeben. Es wird ausgeübt, weil es möglich ist und weil der Kapitalismus systemisch so eben funktionieren muss: Kapitalakkumulation. Da ist ein höherer Lohn für die Arbeitszeit immer ein Problem. Arbeitsstellenabbau und Rationalisierung kennen wir auch von deutschen Unternehmen und es beschreibt das Grundproblem im Kapitalismus. Arbeit wird und muss abgewertet werden.

Deshalb sind die Arbeitsbedingungen in Katar und anderswo nicht gänzlich anders, denn sie funktionieren unter den gleichen Grundbedingungen im Kapitalismus: Ein Unternehmen erwirbt von einem arbeitenden Menschen die Verfügung über dessen Arbeitskraft für eine gewisse Zeit für einen bestimmten Lohn als Gegenleistung. Dies passiert unter stärkerer oder weniger starker Regulation des Staats, das hängt von dem Organisierungsgrad und der Konfliktbereitschaft der arbeitenden Menschen ab, die für ihre Rechte eintreten und kämpfen müssen (und das meint der Begriff Klassenkampf). So ist in Deutschland eine Vollzeitstelle um die 40 Stunden pro Woche strukturiert und gesetzlich geregelt. In Katar existieren dafür kaum gesetzliche Vorgaben, ergo kann der Eigentümer den arbeitenden Menschen effektiver erpressen, indem er mehr Arbeitszeit für einen bestimmten Lohn verlangt, und der Staat kontrolliert kaum. Hervorragende Bedingungen für Kapitalisten und das ist keine moralische Wertung, die Gesetze des Marktes verlangen diese Profitorientierung mit ihren konkreten Folgen für die Arbeitnehmer*innen. Sich einfach gegen diese Grundregeln auszusprechen ist keine Option, so gerne das manche glauben wollen. Lohnarbeit, die Notwendigkeit von Geld zur Finanzierung notwendiger Dinge wie Miete, Essen usw. ist keine Sache, die wir uns aussuchen können.

Es ist logische Konsequenz unserer kapitalistisch strukturierten Welt. Die Geschichten unregulierter Arbeitsbedingungen und von strukturellem Lohnraub durch die Nicht-Einhaltung vorherig abgeschlossener Arbeitsverträge sorgen dennoch für Empörung. Schon vor einigen Jahren haben sich die ILO – die international labour organization – und einige andere Gewerkschaften lautstark über die Bedingungen und Katar beschwert und Druck gemacht. Dieser Druck führte bereits zu einigen Reformen und leichten Verbesserungen: So wurde ein Mindestlohn eingeführt, das bereits vorhandene Wage Protection System (Lohnschutzsystem) wurde verbessert – jedoch nur auf dem Papier. All das kann den Unternehmen völlig egal sein, wenn es genug rechtliche Schlupflöcher gibt und einfach keine Lohnabrechnungen für die Arbeiter*innen erstellt werden müssen. Das Migrant Forum in Asia hatte deshalb vor etwas mehr als zwei Jahren eine Kampagne unter dem Slogan Justice for Wage Theft gestartet, bei der eine internationale Anspruchskommission, einen Entschädigungsfond und die Stärkung des Rechtsstaats gefordert werden. Und trotzdem kam es während der Covid-Pandemie erneut und verstärkt zu zahlreichen Verstößen.

Und: Katar hat fünf der acht Kernarbeitsnormen der ILO ratifiziert. Wurde deshalb auf einmal der Lohnraub unterbunden? Natürlich nicht.

Entschädigungen sind kein Allheilmittel, aber notwendig!

Kann das Migrant Forum in Asia trotzdem Abhilfe schaffen? Der Forderungskatalog macht deutlich, dass sie die politische Fürsprache aus dem globalen Norden brauchen, und zwar der Staaten, die zwar ideologisch auf ihrer Seite sein müssten, aber im Zweifelsfall das kapitalistische System genauso absichern wie Katar. Der globale Norden braucht zudem neue Wachstumsmärkte wie in Katar, damit hiesige Unternehmen – im Falle Katars ja eben vor allem deutsche und französische Unternehmen – auch weiterhin Profite einfahren. Und die Grundsatzentscheidung zwischen gerechter Arbeit überall auf der Welt und der kapitalistischen Notwendigkeit von Kapitalakkumulation ist schon entschieden. Sie wird immer gleich entschieden – das System ist eben relevanter als ein paar Einzelschicksale. Und seien es Einzelschicksale von über 300.000 nepalesischen Menschen, die in Katar arbeiten.

Das aber darf und kann nicht heißen, dass gewerkschaftliche Arbeit von Anfang an dazu verdammt ist, zu scheitern. Ganz im Gegenteil: All die Arbeitsschutzreformen, die Mindestlöhne, die Tarifbindung – all das ist von Arbeiter*innen erkämpft worden. Wollen wir wirklich, dass sich in Katar etwas ändert, dann muss die nahende FIFA-Weltmeisterschaft auch dazu genutzt werden, den gewerkschaftlichen und migrantischen Bündnissen in Katar den Rücken zu stärken, sie auch praktisch zu unterstützen und uns mit ihnen zu verbünden. Ein arbeitender Mensch in Deutschland hat mit einem Arbeitsmigranten in Katar mehr gemeinsam als mit einem Leon Goretzka. Deshalb müssen Fußballfans in Deutschland auf Veränderung drängen, auf Entschädigungen drängen, damit der erste Schritt getan ist: Das menschliche Leid sehen und anerkennen. Auch die Fußballverbände müssen dazu gezwungen werden. Ein Entschädigungsfond kann der richtige Weg sein.