Am 14. Juni 2014 veröffentlichte der Staatsrat der Volksrepublik China das «Planungsvorhaben für den Aufbau eines sozialen Bonitäts-Systems» mit dem Ziel, «die Ehrlichkeit und Qualität der Nation» zu steigern sowie zu einer «harmonischen sozialistischen Gesellschaft» beizutragen (China State Council 2014). In einer einzigen Datenbank sollten fiskalische und Verwaltungsdaten, aber auch Verkehrsdelikte bis hin zu nachbarschaftlichem Verhalten und Social-Media-Aktivitäten gespeichert werden, um letztlich in einer einzigen Zahl zu resultieren: dem öffentlich einsehbaren sozialen Koeffizienten aller Chinesinnen und Chinesen.
Seitdem wird über Chinas Versuch, ein landesweites «Social Credit System» aufzubauen, ausführlich berichtet. Der Tenor lautet dabei, der Staat betreibe unter tätiger Mithilfe der Digitalkonzerne die Installierung einer landesweiten Totalüberwachung. Die FAZ schrieb 2018, das Projekt sei «der größte Versuch digitaler Sozialkontrolle aller Zeiten.» Eine Publikation der Bundeszentrale für politische Bildung aus dem vergangenen Jahr erklärt: «Chinas Kommunistische Partei strebt an, die Bürgerinnen und Bürger Chinas vollständig zu überwachen und jegliche Privatsphäre aufzuheben. Dies ist ein Charakteristikum faschistischer Staaten.» (Dieter, S. 139). Und anlässlich des XX. Parteitags der KP Chinas schreibt die Süddeutsche Zeitung kürzlich unter dem Titel «Kniet nieder»: «Xi [Jinping hat] den autoritären Staat als digitale Diktatur neu erfunden…. Die Kontrolle ist total.»
Timo Daum ist Physiker, Hochschullehrer und Sachbuchautor, sein Arbeitsschwerpunkt ist der digitale Kapitalismus.
Die Ziele sind vielschichtig…
Dabei zeichnet z. B. das renommierte Merics-Institut ein deutlich differenzierteres Bild: Ein solches landesweites Überwachungssystem sei schlicht inexistent, so das Fazit einer aktuellen Studie des Think-Tanks aus Berlin. Auch die Schwerpunkte bei der Zielsetzung des Projekts liegen woanders: Es geht nicht in erster Linie um die Überwachung von Einzelpersonen in ihrem Alltag, die Ziele des Projekts sind durchaus vielfältig: «Finanzielle Bonität, Durchsetzung von Gerichtsentscheidungen, kommerzielle Vertrauenswürdigkeit, gesellschaftliche Vertrauenswürdigkeit und Integrität der Regierung» – diese Punkte zählt der Historiker Chenchen Zhang von der Queen’s University in Belfast auf (Zhang 2020). Expert*innen unterschiedlicher Couleur weisen außerdem auf die konzeptionellen Schwierigkeiten, die Fragmentierung der Testläufe sowie deren begrenzte Anwendungsszenarien hin.
Vorgeschichte und Umsetzung
1999 tauchte die Idee zu einem solchen System erstmals auf: Der damalige Ministerpräsident Zhu Rongji beauftragte ein Forschungsteam am Institut für Weltwirtschaft und Politik der Chinesischen Akademie der Wissenschaften mit der Untersuchung von Lösungen für korruptes Marktverhalten. Als Reaktion darauf wurde das National Credit Management System, ein zentralisiertes System, das Daten aus ganz China zusammenführen sollte, vorgeschlagen. Im Jahr 2002 kündigte der chinesische Präsident Jiang Zemin dieses System nach ersten Experimenten in einer öffentlichen Rede an. 2014 begann dann die Implementierung, es wurde ein erster Hauptplan, gefolgt von Plänen für die einzelnen Provinzen verabschiedet.
Im gleichen Jahr wurde auch in der Tat angekündigt, dass jeder Bürger und jedes Unternehmen bis zum Jahr 2020 eine eindeutige und landesweit gültige ID sowie einen Score erhalten würde. Die Punktzahl würde die finanzielle und wirtschaftliche Vertrauenswürdigkeit des Inhabers anzeigen, aber auch Sozialverhalten und politische Loyalität sollten in die Kennzahl einfließen.
Nachholendes Trust building?
Vorrangig zielte das System darauf ab, für mehr Sicherheit und Verlässlichkeit im Geschäftsleben zu sorgen. Mangels entsprechender Traditionen in China kommt dem Social Credit Score die Qualität eines Indikators für die Vertrauenswürdigkeit einer Geschäftspartei zu. Denn in China gibt es zwar über 50 Millionen Unternehmen, vom Megakonzern bis zur Hinterhofgesellschaft, die alle – oft vermittelt über Plattformen wie Alibaba und Taobao – mit den 1,4 Milliarden Menschen in China Geschäfte machen wollen. Aber so gut wie keine Tradition von Institutionen, die für Trust-Building zuständig sind.
Zunächst ging es also um den Aufbau solcher Infrastrukturen und Institutionen, allen voran der «Internet + Supervision» Plattform. Sie stellt die technische Datenbasis für Chinas Sozialkreditsystem für Unternehmen (CSCS) dar. Es «greift Bewertungsergebnisse aus Datenbanken des Sozialkreditsystems für Unternehmen wie der nationalen Plattform für den Austausch von Kreditinformationen auf und verbindet sie mit regierungsexternen Daten über die Leistungsfähigkeit von Unternehmen» und stellt einen «wesentlichen Bestandteil von Chinas Bemühungen um den Aufbau einer ‹digitalen Regierung›», so die Einschätzung von Sinolytics, eines europäischen Beratungsunternehmens. Daraus wird z. B. berechnet, wer wie häufig mit Inspektionen zu rechnen hat.
Zudem fehlt in China eine Bankentradition, private Bankkonten waren lange Zeit nahezu unbekannt. Als in den letzten Jahren der Onlinehandel in China boomte, grassierten auch Betrugsfälle, Zahlungsausfälle und geplatzte Kredite. Laut People’s Bank of China gab es noch im Jahr 2006 500 Millionen Antragsteller*innen für Darlehen, über die keinerlei Bonitätsinformationen vorlagen. Dem sollte das neu gegründete Credit Reference Center Abhilfe schaffen, eine nach amerikanischem Vorbild eingerichtete Institution, die Kreditauskünfte auf der Grundlage von Informationen von Banken und staatlichen Institutionen liefern soll. Bis Juni 2019 hatte das System Daten zu 990 Millionen Menschen und fast 26 Millionen Unternehmen und anderen Institutionen gesammelt, berichtet die in Hongkong erscheinende South China Morning Post.
China ist nicht nur beim Banking Entwicklungsland, auch beim Thema Social Scoring versucht das Land mit dieser Inititive zunächst einmal zu institutionellen Vorbildern aus dem Westen aufzuschließen. Scoring gibt es nicht nur in China und nicht erst seit der Digitalisierung. Die Schufa (Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung) in Deutschland beispielsweise macht seit Jahrzehnten nichts Anderes: Sie berechnet für am Zahlungsverkehr in Deutschland Teilnehmende einen individuellen Koeffizienten, der den Grad der Bonität ausdrückt. Der sich daraus ergebende Score wird dann Banken, Vermietern oder Mobilfunkanbietern zur Verfügung gestellt. Ohne einen guten «SCHUFA-Score» (oder auch der ähnliche «FICO»-Score in den Vereinigten Staaten), ist es auch in Deutschland schwer ein Haus zu kaufen, eine Wohnung zu mieten, einen Kredit aufzunehmen oder einen Handy-Vertrag abzuschließen.
Die Schufa und ähnliche Bonitätsbewertungssysteme haben erhebliche Auswirkungen auf die individuellen Freiheiten und stehen seit Jahren in der Kritik, zumal die Verfahren zur Score-Bildung als Geschäftsgeheimnis gelten.
Hohe Akzeptanz
Aus westlicher Perspektive möglicherweise erstaunlich: Das System bzw. die Vielzahl an Systemen rund um social scoring werden eher im Kontext von Korruption und betrügerischen Geschäftsgebarens als begrüßenswerte Versuche wahrgenommen, Qualitätsstandards zu heben. Das Merics-Institut kommt in einer Analyse von 2018 zu dem Schluss, solche Systeme erfreuten sich hoher Akzeptanz in der Bevölkerung: «Gebildete und wohlhabende städtische Chinesen haben eine überwältigend positive Einstellung zu kommerziellen und staatlichen Systemen, die die ‹Vertrauenswürdigkeit› von Bürgern, Unternehmen und sozialen Organisationen bewerten. Anstatt sie als Überwachungsinstrumente wahrzunehmen, sehen sie darin eine Möglichkeit, Verbraucher vor Lebensmittelskandalen oder Finanzbetrug zu schützen – und in den Genuss von Vorteilen zu kommen, die mit einer hohen sozialen Kreditwürdigkeit verbunden sind.»
In der Einschätzung wird das System eher als eine Mischung aus TÜV, Bewertungssystemen, wie wir sie aus der Plattformökonomie kennen und als vertrauensbildende Maßnahmen gegenüber Unternehmen und Institutionen wahrgenommen, durchaus auch in einem Atemzug mit der Kampagne, Nutzerrechte im Digitalen zu stärken (siehe vorangegangener Artikel). Die meisten Chinesinnen und Chinesen und insbesondere die jungen, tech-affinen Leute, die Englisch sprechen, ausländische Medien und Kulturprodukte konsumieren, wissen sehr wohl – das hat Zak Dychtwald eindrücklich beschrieben – dass sie überwacht werden, dass Medien zensiert werden und dass kritische Debatten unterdrückt werden (Zak Dychtwald, Young China). Auch hier zeigt sich anscheinend, dass den Chinesinnen und Chinesen andere Sorgen haben, als überwacht und gegängelt zu werden. Wichtiger ist ihnen – so könnte das Fazit der Studie lauten – der nach wie vor vertrauenswürdigen Zentralregierung übereinzustimmen in ihrem Kampf gegen (regionale und lokale) Korruption und Betrug.
Technologischer Soluzionismus
Auch wenn es in China zweifellos Überwachung, Zensur und Unterdrückung oppositioneller Meinungen gibt – das Sozialkreditsystem hat vorrangig andere Ziele als die Kontrolle oder gar Umerziehung der chinesischen Bevölkerung. Im Vordergrund stehen eher die Steigerung der Zuverlässigkeit im Geschäftsleben, die Durchsetzung von Marktregulierung und Schritte hin zu einer Digitalisierung der Verwaltung. Es handelt sich also um einen weiteren Versuch nachholender Institutionalisierung, dessen stärkste Treiber der historische Kontext fehlender Trust-Institutionen und schwacher Rechtsstaatlichkeit bei gleichzeitig explosionsartig angestiegenen Geschäftstätigkeit darstellen.
Das Besondere an Chinas System ist seine schiere Größe und Breite sowie eine allgemeine Regierungsstrategie und -richtung in Bezug auf die Erfassung und Nutzung von Big Data, so das Fazit des australischen Juristen und Spezialisten für Regulierung Drew Donnelly. Fraglos ist China weltweit führend sowohl bei der ökonomischen Ausbeutung von Big Data in erster Linie durch die Digitalkonzerne, als auch in ihrer Nutzung zur gesellschaftlichen Kontrolle und Organisation. Die Beherrschung der Corona-Pandemie und die Organisation der Null-Covid-Strategie mit ihren massenhaften Lockdowns durch die Hilfe digitaler Systeme hat nochmals eindrücklich gezeigt, wie wichtig digitale Technologien für die Alltags-Goverance geworden sind.
Mitte November legten chinesische Stellen auch einen gemeinsamen Gesetzentwurf vor, der zum Ziel hat, bestehende vormals isolierte Punktesysteme zu vereinigen. Ausdrücklich ist von einem zentralisierten Kreditauskunftssystem und einheitlichen Sozialkreditnummern die Rede.
Konturen eines spezifisch chinesischen technologischen Soluzionismus zeichnen sich ab; also die Überzeugung, mit Hilfe digitaler Technologien gesellschaftliche Probleme bewältigen zu können. Diese Ansicht vertritt jedenfalls Bandurski, Ko-Direktor des China Media Projects, das an der Universität Hongkong angesiedelt ist: «Mit Big Data versucht China derzeit alle möglichen Probleme zu lösen – und verrät damit einen gefährlichen Glauben an die befreiende Kraft von Technik.» Ein technologischer Soluzionismus in seiner chinesischen Variante wird beim Sozialkreditsystem sichtbar, was China auch in Zukunft noch Kopfzerbrechen bereiten könnte. Vor allem, wenn eine öffentliche Debatte über Big-Data-Experimente und Politiken weitgehend fehlt.
Quellen:
- China State Council (2014): Planning Outline for the construction of a social credit system, 14.06.2014.
- Bandurski, David (2019): «Das Tausend-Meilen-Auge». In: Atlas der Globalisierung, 2019, S. 148-151
- Zhang, Chenchen (2020): Governing (through) trustworthiness: technologies of power and subjectification in China’s social credit system, Critical Asian Studies, 52:4, 565-588.
- Dychtwald, Zak (2020): Young China: wie eine neue Generation ihr Land und die ganze Welt verändert. Econ.
- Dieter, Heribert (2021): Chinas Neuer Langer Marsch: Zwischen Selbstisolation Und Offensiver Außenpolitik. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, 2021.
- Drinhausen, Brussee (2021): China's Social Credit System in 2021, from Fragmentation to Integration
- Donnelly, Drew (2022): China Social Credit System Explained – What is it & How Does it Work? 22.9.2022