Nachricht | Türkei Das Plastikmüllproblem der Türkei: kein Thema für die Linke

Die Türkei ist Europas Müllhalde, dennoch gibt es kaum Widerstand.

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Zozan Baran,

Syrische Flüchtlinge sichten Plastikmüll auf einer Müllkippe in Gaziantep, Türkei. Foto: IMAGO/Zakariya Yahya

Das Plastikmüllproblem in der Türkei geriet 2018 in den Fokus der Öffentlichkeit. Seitdem haben zahlreiche Untersuchungen das Ausmaß des Problems offenbart: Illegal entsorgter Plastikmüll ist lebensgefährlich und verseucht Böden und Wasser. Besonders gravierend ist die Verschmutzung in Hafenstädten wie Adana, Izmir und Istanbul, wo Plastikmüll hauptsächlich aus EU-Ländern und Großbritannien importiert wird. Nachdem China die Einfuhr von Plastikmüll verboten hatte, übernahm die Türkei diese Aufgabe. Berichte zeigen jedoch, dass der Umgang mit Kunststoffabfällen alles andere als zufriedenstellend ist: falsche Angaben über die Art der importierten Kunststoffe, fehlende Transparenz seitens der Kunststoffrecyclingunternehmen, kein ordnungsgemäßes Rückverfolgungssystem, Berichte über die Beteiligung der Mafia, Fotos von illegal verbranntem Plastikmüll.

Zozan Baran ist Aktivistin und unabhängige Wissenschaftlerin kurdischer Abstammung aus der Türkei. Sie erwarb ihren BA an der Boğaziçi-Universität im Fachbereich Politikwissenschaft und ihren MA in Soziologie an der Freien Universität Berlin. Derzeit lebt sie in Berlin und arbeitet aus vergleichender Perspektive zu politischen Regimen und Bewegungen.

Auf internationaler Ebene hat es in den letzten Jahren einige Verbesserungen beim Handel mit Kunststoff- und Sonderabfällen gegeben. 2019 wurde Plastikmüll in den Geltungsbereich des Basler Übereinkommens aufgenommen. Und die EU regulierte den Handel mit Kunststoffabfällen im Dezember 2020, indem sie ein vollständiges Verbot für die Ausfuhr bestimmter Arten von Kunststoffen in Nicht-OECD-Länder einführte und die Ausfuhr in OECD-Länder von einem Verfahren der vorherigen Zustimmung nach Inkenntnissetzung abhängig machte.

Obwohl die Ausfuhr von Kunststoffabfällen allgemein im Kontext von Recycling läuft, ist nur ein kleiner Teil des exportierten Kunststoffs recycelbar, und ein noch kleinerer Teil wird tatsächlich recycelt. Die Wahrheit ist, dass das Recycling von Kunststoffen wirtschaftlich und ökologisch sehr kostenintensiv ist. Daher gibt der Handel mit diesem Material Anlass zu ernsten Bedenken hinsichtlich der Rechte der Menschen in den Einfuhrländern. Die Türkei ist eines dieser Länder, in denen die unsachgemäße Abfallentsorgung zu ernsthaften Problemen für die betroffene Bevölkerung führt. Und als OECD-Land wird die Türkei auch nach dem jüngsten EU-Verbot weiterhin Kunststoffabfälle importieren.

Nach den Berichten versprachen die türkischen Behörden ein neues Gesetz zum Verbot der Einfuhr von Mischkunststoff und Polyethylen, das sich als Deckmantel für weitere gefährliche Kunststoffe erwies. Dieses Gesetz wurde im Juli 2021, nur wenige Tage nach seinem Inkrafttreten, für nichtig erklärt. Die Entscheidung fiel nach einem Treffen zwischen Industrievertreter*innen und der Regierung.

Im Gegensatz zu den Behauptungen von Regierung und Industrie, dass diese Anlagen streng überwacht würden und ihr betrieblicher Verhaltenskodex den Vorschriften entspreche, dokumentiert ein aktueller Bericht von Human Rights Watch (HRW) schwerwiegende Menschen- und Arbeitsrechtsverletzungen, die durch Kunststoffabfallanlagen verursacht werden. Dem Bericht zufolge arbeiten Kinder in den Anlagen, obwohl türkische Gesetze die Beschäftigung von Kindern in gefährlicher Umgebung verbieten. Auch die erwachsenen Arbeiter*innen gehören meist zu schutzbedürftigen Gruppen, wie Geflüchteten und Migrant*innen ohne Papiere. Darüber hinaus kommen die Unternehmen ihren Verpflichtungen in Bezug auf die Bereitstellung der erforderlichen Schutzausrüstung und der medizinischen Versorgung nicht nach. Da sich die Anlagen in gefährlicher Nähe zu Wohngebieten befinden, verursachen sie auch Gesundheitsprobleme bei den Anwohner*innen, darunter Atembeschwerden.

Trotz dieser schwerwiegenden Folgen und der internationalen und nationalen Berichterstattung wurde dem Plastikmüllproblem in der Türkei politisch bislang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die HDP (Demokratische Partei der Völker) brachte zwar einen parlamentarischen Antrag zu deponiertem Plastikmüll ein, in dem sie eine Untersuchung der möglichen Umwelt- und Gesundheitsschäden durch Plastikmüll in der Region Adana forderte, dieser wurde jedoch von Abgeordneten der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) und der MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) abgelehnt. Auch die CHP (Republikanische Volkspartei) hat das Problem durch ihren Vertreter in Adana mehrmals angesprochen. Darüber hinaus gaben andere linke Parteien wie der Adana-Zweig der TIP (Arbeiterpartei der Türkei) und die TKP (Kommunistische Partei der Türkei) Erklärungen ab, in denen sie die Schließung von Anlagen und ein Verbot der Einfuhr von Plastikmüll forderten. Bisher hat jedoch keine dieser Erklärungen zu einer breiteren Mobilisierung geführt. Der bislang einzige Protest wurde in Adana von lokalen Bürgerinitiativen, Berufsverbänden und Umweltgruppen organisiert.

Diese Situation verwundert aus mehreren Gründen: Eine ähnliche umweltgefährdende Praxis löste vor kurzem große Proteste und Mobilisierungen aus, dank derer die Abwrackung eines mit Gift beladenen Kriegsschiffs in Izmir verhindert werden konnte. Auch in der Türkei nimmt die Mobilisierung zu Umweltfragen in den letzten Jahren zu. Die Einfuhr von Plastikmüll steht zudem im Spannungsfeld zwischen staatlicher Misswirtschaft, Antikapitalismus und Antiimperialismus. Dies sind linke Themen. Bisher haben jedoch weder linke Parteien noch die breite Öffentlichkeit gegen diese Praktiken protestiert.

Für das Schweigen gibt es mehrere Erklärungen. Erstens ist Gegenprotest in der Türkei als Folge der zunehmenden staatlichen Unterdrückung generell nur schwach ausgeprägt. Außerdem sind die betroffenen Bevölkerungsgruppen (Kinder, Migrant*innen ohne Papiere, Dorfbewohner*innen, Geflüchtete) weitgehend entrechtet, und obwohl sich einige linke Organisationen mehr als andere um den Aufbau von Beziehungen bemühen,[1] ist ihre Verbindung zur Linken schwach. Daher verspürt die Linke keinen akuten Handlungsbedarf in dieser Frage. Überdies ist das Recycling von Kunststoffen in der Türkei nicht vorgeschrieben, und die Öffentlichkeit schenkt diesem Thema kaum Aufmerksamkeit. Ein weiterer Faktor ist sicherlich, dass die Einfuhr von Kunststoffabfällen sehr vielschichtig ist. Anders als bei einem einzelnen Kriegsschiff würde dieses Thema anhaltende Aufmerksamkeit und Mobilisierung erfordern. Dafür ist die Linke derzeit nicht ausreichend organisiert, vor allem nicht in den Bevölkerungsgruppen, die von der Kunststoffverschmutzung betroffen sind. Und schließlich beschränkt die Opposition rund um das «Bündnis der Nation»[2] ihre Agenda auf die Wahlen und puffert jede Unzufriedenheit ab, die normalerweise zu einer Mobilisierung führt. In diesem Kontext ist auch die Agenda der Linken sehr stark auf «politische» Themen beschränkt.

All diese Einschränkungen begründen die kaum ausgeprägte Mobilisierung und die begrenzte Aufmerksamkeit für die Plastikverschmutzung und die Einfuhr von Plastikmüll in der Türkei. Das ist nicht nur bedauerlich, weil es einer antikapitalistischen Umweltagenda Auftrieb geben könnte, wenn die Linke sich des Themas annehmen würde. Es führt auch zu einem gefährlichen Schweigen, das es den wohlhabenden Nationen erlaubt, ungeachtet der vielen Reden über Umweltgerechtigkeit und die Bekämpfung des Klimawandels, ihren Plastikmüll weiter zu exportieren. Diese Versäumnisse begünstigen ein «weiter wie bisher» und verhindern die Möglichkeit, eine gerechte Lösung für die immer drängenderen Umweltprobleme von heute zu finden.

Übersetzung von Camilla Elle und Margarete Gerber für Gegensatz Translation Collective.


[1] Die HDP hat solche Verbindungen zum Beispiel mehr als andere linke Gruppen in ihrer kurdischen Anhängerschaft.

[2] Wahlbündnis, das sich aus CHP und weiteren türkischen Oppositionsparteien zusammensetzt und nach dem Verfassungsreferendum von 2017 gegründet wurde, um bei den allgemeinen Präsidentschaftswahlen 2018, später bei den Kommunalwahlen 2019 und derzeit bei den anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni 2023 gemeinsam anzutreten. (Anm. d. Ü.)