Nachricht | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Parteien / Wahlanalysen - Europa Deutschland: Neue Regierung, neue Probleme

Nach einem Jahr im Amt stolpert die Bundesregierung von einer Krise in die nächste. Ihre größte Leistung dürfte sein, dass die Koalition (noch) hält.

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Olaf Scholz und seine Kabinettsmitglieder Christian Lindner, Robert Habeck und Annalena Baerbock auf dem Weg zum Gruppenfoto während einer Klausursitzung des Bundeskabinetts, 30. August 2022. Foto: IMAGO/Frank Ossenbrink

Als vor einem Jahr, am 8. Dezember 2021, die neue Bundesregierung vereidigt wurde, waren die Erwartungen groß. Nach sechzehn Jahren Kanzlerschaft von Angela Merkel (CDU) versprach der neu gewählte Bundeskanzler, Olaf Scholz (SPD), einen Neuanfang. Die Regierungskoalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Freien Demokraten – nach den Farben der drei Parteien auch «Ampelkoalition» genannt – sollte das Land modernisieren und in eine sozialere, ökologischere und liberalere Zukunft führen.

Albert Scharenberg, Historiker und Politikwissenschaftler, ist Redakteur für internationale Politik der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Ein Jahr später ist von diesem Aufbruch kaum etwas übriggeblieben. Das liegt zum einen an den immer wieder aufflammenden Konflikten in der Regierungskoalition, die dafür sorgen, dass etliche Reformvorhaben verwässert oder gleich gänzlich fallen gelassen wurden. Die selbst erklärte «Fortschrittskoalition» droht daher schon jetzt an ihrem eigenen Anspruch zu scheitern.

Zum anderen kommt hinzu, dass die Vorhaben der neuen Regierung von der Wirklichkeit im Eiltempo überholt wurden: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die unsichere Energieversorgung, eine auf zehn Prozent gestiegene Inflation und die sich in der Folge all dessen zuspitzenden wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen haben Probleme geschaffen, die so nicht erwartet worden waren. Sehr wohl vorhersehbar war allerdings die sich weiter zuspitzende Klimakrise, deren Ernst die Bundesregierung, jedenfalls nach Meinung der Klimabewegung, immer noch nicht wirklich begriffen hat.

Erste Reformen

Die Behauptung, die neue Regierung habe gar nichts zustande gebracht, wäre indes eine bösartige Unterstellung. Denn insbesondere in den ersten Wochen wurden tatsächlich einige Reformvorhaben beschlossen. Hierzu zählen etwa die schrittweise Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde, der Ausstieg aus der Kohle bis 2030 und der beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energien. Man mag diese Reformen als unzureichend kritisieren, wie es die Oppositionspartei DIE LINKE tut; dennoch markierten sie kleine Schritte in die richtige Richtung.

Auf anderen Feldern weist die Politik der Bundesregierung jedoch schon im Ansatz in die falsche Richtung – selbst wenn die Vereinbarungen im Koalitionsvertrag noch anders lauteten. Das hat, neben den aktuellen Herausforderungen in der Folge des Krieges in der Ukraine, zuvörderst mit der Heterogenität der Koalitionspartner zu tun. Während die SPD und – bei aller Widersprüchlichkeit – letztlich auch die Grünen zum Mitte-links-Spektrum der Gesellschaft zählen, ist die FDP traditionell eine wirtschafts- bzw. neoliberale Partei, die seit Jahrzehnten bevorzugt mit den konservativen Christdemokraten koaliert. Sie ist nur deshalb in die Regierungskoalition eingetreten, um eine Fortsetzung der «Merkel-Koalition» aus CDU, bayrischer CSU und SPD zu verhindern. Dass die regierenden Parteien unterschiedlichen politischen Lagern angehören, stellt die Meinungsbildung innerhalb der Koalition, aber auch die Umsetzung bereits gemeinsam gefasster Beschlüsse immer wieder auf die Probe.

Blockaden durch die Freien Demokraten

Die Freien Demokraten fallen – als kleinster der drei Partner – innerhalb der Koalition daher vor allem durch ihre Blockadepolitik auf. Um die eigene rechtsliberale Klientel bei Laune zu halten, stellt sich der Parteivorsitzende und Bundesfinanzminister, Christian Lindner, mit aller Macht gegen jedwede Steuererhöhung. Deshalb hat der Bundestag, anders als beispielsweise Spanien, Belgien oder selbst Großbritannien, bis heute keine Übergewinnsteuer für Energiekonzerne beschlossen, die von der Energiekrise massiv profitieren. Auch eine von DIE LINKE geforderte Vermögensteuer, die nur die Wohlhabenden beträfe, wird auf diese Weise blockiert.

Zugleich pochen Lindner und seine Partei auf die Einhaltung der im Grundgesetz verankerten, sogenannten Schuldenbremse, die vorschreibt, dass die Regierung nicht mehr Geld ausgeben darf, als sie durch Steuern einnimmt. Das aber ist in Krisenzeiten wirtschaftlich und sozial verheerend – und trifft überdies nicht zu, da die neue Regierung in ihrer kurzen Amtszeit außerhalb des Bundeshaushalts bereits – euphemistisch «Sondervermögen» genannte – sagenhafte Kredite von 300 Mrd. aufgenommen hat, nämlich 100 Mrd. für die Bundeswehr und 200 Mrd. für die Deckelung des Gaspreises.

Inzwischen scheint die FDP fast nur noch als «Partei der politischen Blockade» wahrgenommen zu werden. Dieses Image hat zu ihrem Absturz in der Gunst der Wählerschaft geführt. Hatte sie bei der Wahl im September 2021 noch 11,5 Prozent erzielt, ist sie in den Umfragen derweil auf fünf Prozent abgestürzt – damit aber schrammt sie exakt am Mindestwert entlang, den Parteien zum Einzug in den Bundestag benötigen. Darin liegt das Dilemma der Regierung: Aus Angst vor weiteren Verlusten in der Wählergunst blockiert die FDP Regierungsvorhaben, wodurch sie dann aber doch weiter verliert – ein Teufelskreis.

Christdemokraten im Aufwind

Was die Rechtsliberalen an Unterstützung verlieren, kommt der konservativen CDU/CSU zugute, die in den letzten Umfragen auf immerhin 30 Prozent der Stimmen zählen kann. Sie profitiert zum einen von der Uneinigkeit innerhalb der Koalition und den damit verbundenen Politikblockaden. Zum anderen kann sie ihren Einfluss im Bundesrat, der Vertretung der Bundesländer und zweiten Kammer des bundesdeutschen Parlamentarismus, dazu nutzen, der Regierung Zugeständnisse abzupressen.

Das ist den Christdemokraten in den letzten Wochen mit Blick auf die Reform der Sozialhilfe auch gelungen. Mit der Einführung eines sogenannten Bürgergelds war beabsichtigt gewesen, die Folgen der Sozialhilfereform von 2004/5 abzumildern, konkret: den Bezug von Sozialhilfe nicht länger an ein Sanktionsregime zu knüpfen, das Langzeitarbeitslose unter massiven Druck setzt, jedwede freie Stelle anzunehmen. Auch sollte das sogenannte Schonvermögen, das Menschen, die Sozialhilfe beziehen, behalten dürfen, erweitert werden. CDU und CSU nutzten ihre Sperrminorität im Bundesrat dazu, die Reform scheitern zu lassen, und knüpften ihre Zustimmung in der Folge an zwei Bedingungen, nämlich die Wiedereinführung der Sanktionen und die Reduzierung des Schonvermögens. Damit konnten sie sich durchsetzen, das inzwischen verabschiedete Gesetz folgt ihren Vorstellungen.

Ein ähnliches Szenario droht jetzt mit Blick auf die überfällige Erleichterung der Einbürgerung ausländischer Staatsbürger*innen. Dass dieses Thema zwischen den demokratischen Parteien trotz des brisanten Fachkräftemangels im Land überhaupt kontrovers ist, liegt nicht zuletzt am neuen CDU-Vorsitzenden, Friedrich Merz, der in den letzten Monaten durch migrationsfeindliche Äußerungen, auch gegen die Flüchtlinge aus der Ukraine, aufgefallen ist. Überhaupt hat der als konservativer Gegenspieler der damaligen Kanzlerin Merkel bekannte Politiker seine Partei erkennbar nach rechts geführt. Sein erklärtes Ziel, Anhänger*innen der rechtsradikalen «Alternative für Deutschland» (AfD) zurückzugewinnen, scheint er damit aber offenbar nicht erreichen zu können.

Bundesregierung im Krisenmodus

Aufgrund all dessen fällt es der Bundesregierung ersichtlich schwer, sich auf politische Reformen nicht nur zu verständigen, sondern die eigenen Vorhaben dann auch umzusetzen. Ein Beispiel hierfür bietet die im Koalitionsvertrag vereinbarte Legalisierung von Cannabis. Auch wenn die drei Regierungsparteien verbal weiterhin an diesem Ziel festhalten, ist im ersten Jahr ihrer Amtszeit in dieser Hinsicht nichts geschehen.

Andere selbst gesteckte Ziele drohen bereits zu scheitern. So hatte die Koalition mit der Installation eines eigenen Ministeriums für Bauen und Wohnen einen Schwerpunkt gesetzt, der angesichts der rasant steigenden Mietkosten in der Tat geboten erscheint. Dass es aber tatsächlich zur massiven Steigerung des Neubaus auf 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr kommt, steht nicht zuletzt aufgrund der rasant gestiegenen Baukosten in Frage. Das bedeutet zugleich, dass die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt sich weiter verschärfen dürfte – eine schlechte Nachricht im einzigen Land der Europäischen Union, indem die Mehrheit der Menschen zur Miete wohnt.

Und so könnte man – gänzlich unironisch – sagen, dass die größte Leistung der Bundesregierung in ihrer Reaktion auf die sich überstürzenden Krisen liegt. Denn im Jahr nach ihrem Amtsantritt sind, trotz massiver Probleme, größere Proteste oder gar Unruhen ausgeblieben. Das ist durchaus ein Erfolg ihrer Politik, denn die Regierung hat mehrere sogenannte Entlastungspakete verabschiedet, die den Bürger*innen spürbare finanzielle Erleichterungen brachten. Als dann die Gaspreise weiter stiegen, kam noch das erwähnte «Sondervermögen» von 200 Mrd. Euro hinzu. Auch wenn diese Stützungsmaßnahmen im Grunde richtig waren, zeigen die eingesetzten Summen, dass diese Krisenpolitik nicht nur den gesellschaftlichen Frieden erkaufte, sondern finanziell eben auch sehr aufwändig war. Der Ansatz, möglichst alle Bürgerinnen und Bürger «mitzunehmen» und sich diese Politik im Zweifelsfall auch einiges kosten zu lassen, ist das Herzstück der sogenannten Konsensdemokratie der Bundesrepublik.

Zugewinne für die AfD

Nicht in diesen gesellschaftlichen Konsens einbezogen ist die rechtsradikale AfD, die weiterhin gespalten ist in einen autoritär-neoliberalen und einen mehr oder weniger offen faschistischen Flügel. Nachdem die Partei bei der Bundestagswahl lediglich 10,3 Prozent erzielte, konnte sie in den letzten Umfragen – allen internen Streitigkeiten und Skandalen zum Trotz – auf 15 Prozent zulegen. In vier der fünf ostdeutschen Bundesländer führt sie derzeit sogar in den Umfragen.

Die Gründe dieses Aufschwungs liegen zum einen in ihrer Übernahme der «Culture Wars», die sich aktuell auch in Deutschland vor allem auf die Agitation gegen Zuwanderung und die Genderfrage konzentrieren. In diesem Feld gibt es diskursive Schnittmengen zwischen AfD, Konservativen und Rechtslibertären, die dazu beitragen, die politische Isolation der Partei aufzuweichen.

Zum anderen hat es die AfD vermocht, an die – insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern – breite Kritik an der Sanktionspolitik gegenüber Russland anzuknüpfen. Denn in Ostdeutschland sind die wirtschaftlichen Beziehungen zur Russischen Föderation traditionell besonders stark, auch kleine und mittelständische Unternehmen mobilisieren vielerorts zum Protest gegen die Sanktionen. Dass die AfD sich auch gegen die Unterstützung der Ukraine wendet und immer wieder Partei für Moskau ergreift, verleiht ihr ein Alleinstellungsmerkmal, das sich in den Umfragen durchaus auszahlt.

Die linke Opposition

Auch die oppositionelle Linkspartei hat ihre Hochburgen traditionell in den ostdeutschen Bundesländern. Sie hat sich auf ihrem Parteitag im Juni aber – anders als die AfD – ausdrücklich gegen den russischen Angriffskrieg ausgesprochen und hinter die Sanktionspolitik der Bundesregierung gestellt.

DIE LINKE hat die Entlastungspakete der Bundesregierung im Grundsatz begrüßt, aber als nicht hinreichend kritisiert. Der im Herbst erfolgte Versuch der Partei, Massenproteste gegen die Politik der Bundesregierung zu organisieren, ist jedoch gescheitert. Auch wenn viele Menschen unzufrieden sind mit der rasant wachsenden sozialen Ungleichheit, reicht diese negative Motivation bislang nicht für den Straßenprotest. Vorherrschend ist der Rückzug auf individuelle Krisenlösungen.

Das macht die Sache für die Partei, die nur denkbar knapp den Wiedereinzug in den Bundestag schaffte, nicht leichter, zumal auch die internen Streitigkeiten nicht beigelegt werden konnten. Im Gegenteil: Der Riss zwischen den Reformern und «Bewegungslinken» auf der einen Seite und den «linkskonservativen» Kräften um die frühere Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht auf der anderen hat sich weiter vertieft. Nachdem die erstgenannten auf dem Bundesparteitag im Juni in allen Fragen klare Mehrheiten gewinnen konnten und im Bundesvorstand kein Vertreter der Wagenknecht-Gruppe mehr sitzt, wird in dieser lautstark über den Bruch mit der Partei und eine eigenständige Kandidatur zur Europawahl 2024 spekuliert. Das zeigt, dass das parlamentarische Überleben der Linkspartei fünfzehn Jahre nach ihrer erfolgreichen Gründung durchaus gefährdet ist.

Es gibt indes auch Grund zur Hoffnung. Denn obschon DIE LINKE in den Umfragen derzeit bei lediglich fünf Prozent liegt, liegt ihr Wählerpotenzial einer aktuellen Studie zufolge bei bis zu 18 Prozent. Außerdem ist die Partei an immerhin vier Landesregierungen beteiligt und stellt im Bundesland Thüringen sogar den Ministerpräsidenten; sie bleibt einstweilen also ein realer Machtfaktor. Sollte DIE LINKE es schaffen, die Erfolge ihrer Regierungsarbeit in den Ländern und Kommunen zu konsolidieren und gleichzeitig im Parlament und auf der Straße entschlossene Oppositionspolitik gegen die Bundesregierung zu betreiben, könnte sie den Spieß durchaus noch umdrehen.