Nachricht | Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Rassismus / Neonazismus - Südliches Afrika Nicht vergleichen, aber verbinden

Tali Nates, Gründerin des Johannesburger «Holocaust & Genocide Centre», über die Erinnerungsarbeit zu Völkermorden

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Tali Nates, Gründerin des Johannesburger «Holocaust & Genocide Centre» Foto: JHGC

«Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.» (Primo Levi)

Das «Johannesburg Holocaust and Genocide Centre» (JHGC), dessen Bekanntheitsgrad weit über Südafrika hinausragt, ist nicht nur ein Ausstellungsort. Ebenso ist es Ort der Erinnerung, der Bildung, des Dialogs und der Lehren für die Menschheit. Die Gedenkstätte erinnert an Menschen, die durch einen Völkermord ums Leben gekommen sind, mit Schwerpunkten auf den Holocaust und den Völkermord in Ruanda.

Die Zusammenarbeit zwischen dem JHGC und der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) begann im Rahmen der alljährlichen Veranstaltungen zu Progromnacht am 9. November im Goethe Institut in Johannesburg. Seit 2016 gehört das JHGC zum festen Partnerspektrum des RLS-Büros in Südafrika. Die anfängliche Unterstützung der politischen Bildungsarbeit des JHGC in Form von temporären und Wanderausstellungen konnte seit 2019 mit der Fertigstellung des ikonischen Ausstellungshauses sowie durch zahlreiche gemeinsame Projekte und Veranstaltungen vertieft werden.

Das JHGC unterstützt die Bildungsabteilungen der südafrikanischen Provinzen, Schulen und Lehrende mit seinem «Menschenrechtslehrplan», indem es Schulungen für Pädagog*innen, Workshops für Lernende und didaktische Materialien zur Verfügung stellt. An dem Programm haben in den letzten Jahren zehntausende Schüler*innen und tausende Pädagog*innen teilgenommen.

Zudem bietet das Zentrum seinen Besucher*innen menschenfeindliche Einstellungen wie Vorurteile, Rassismus, «Othering», Antisemitismus, Homophobie und Xenophobie besser zu verstehen und dazu beizutragen, dass sich Massen-Gräueltaten und Völkermorde in all ihren Formen nicht wiederholen. Hier wird beispielsweise auch eine Verbindung zu den vermehrten xenophobischen Gewalttaten, die Südafrika seit 2008 erschüttern, hergestellt. Die Fotoausstellung von James Oatway und Alan Skuy, sowie das später erschienene Buch «[BR]OTHER» sind ein beindruckendes Resultat dieser einenden Überzeugung.

Da die diversen Programme nicht auf Südafrika beschränkt sind, entfalten sie ihre Wirkung hin zu einer solidarischeren und gerechteren Gesellschaft weltweit.

Die Interviewpartnerin Tali Nates ist Historikerin, Gründerin und Leiterin des Zentrums sowie Preisträgerin der Goethe-Medaille 2022. Das Interview führten Laura Sichau, Praktikantin bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Studentin an der Universität Greifswald, und der Historiker Florian Weis, der für die Stiftung zu den Themen Antisemitismus und historisches Bündnis von linken Jüdinnen und Juden und Arbeiterbewegung arbeitet.
 

Laura Sichau: Warum haben Sie das Museum gegründet? Können Sie uns mehr über seine Geschichte erzählen?

Tali Nates: Die Idee des Museums entstand zu der Zeit, als das Thema Nazideutschland und Holocaust verpflichtend in südafrikanische Lehrpläne aufgenommen wurde. Ab 2007 verschob sich der Fokus der Lehrpläne auf Menschenrechtsfragen. Damit wurde jedes Fach, insbesondere Geschichte, unter dem Aspekt der Menschenrechte betrachtet. Dem Bildungsministerium war daran gelegen, zu vermitteln, warum es trotz der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und allem, was lange davor und danach geschah, im selben Jahr zur Apartheid kam.

Damals enthielten die Schulbücher nur einen kleinen Absatz zum Holocaust. Doch reichte das nicht aus, um Schüler*innen umfassend zu informieren. Die Idee, die Lehrpläne zu ändern, war zwar großartig, aber die 600.000 Lehrer*innen hier brauchten dazu auch entsprechende Ressourcen. In Kapstadt gab und gibt es ein kleines, aber ausgezeichnetes Holocaust-Museum, das im August 1999 gegründet wurde, also noch bevor die Lehrpläne geändert wurden. Dieses Zentrum ist mit der jüdischen Gemeinde von Kapstadt verbunden und erzählt die Geschichte von Apartheid und Holocaust. Allerdings ist es klein, ich glaube, 205 Quadratmeter. Als die neuen Lehrpläne eingeführt wurden, war sich die Leitung des Museums bewusst, dass dieses kleine Museum nicht für die Schüler*innen im ganzen Land ausreichen würde.

Sie begann, mit verschiedenen Leuten zu sprechen, darunter auch mit mir. Zu dieser Zeit arbeitete ich in einer Organisation für Versöhnung und Wandel, die sich mit Fragen der Umgestaltung Südafrikas auf Grundlage von Abstammung, Vielfalt und Versöhnung befasste. Ich kündigte meine Stelle und beschloss, etwas Neues zu beginnen. Damals wusste ich noch nicht, was dieses «Etwas» war. Es hätte eine Bibliothek sein können oder einfach nur das Schreiben eines Lehrbuchs, ich wusste es nicht. Ich begann allein, dann holte ich eine weitere Person ins Boot, wir mieteten ein Büro und dachten, dass wir vielleicht in Schulen gehen oder Lehrkräfte ausbilden könnten.

So sind wir Partnerschaften mit anderen Museen eingegangen, zum Beispiel mit dem Apartheid-Museum. Im Jahr 2010 bot uns die Stadt Johannesburg eine öffentlich-private Partnerschaft an, um ein eigenes Institut zu gründen. Das war eine Gelegenheit, die wir nicht ausschlagen konnten. Die Stadt stellte uns das Grundstück zur Verfügung und unterstützte uns bei dem gesamten Prozess, aber wir mussten das Geld für das Gebäude aufbringen. Es dauerte neun Jahre, von 2010 bis 2019, bis wir dieses Geld zusammen hatten. Es war ein langer Prozess, was gleichzeitig auch ein Segen war, denn so hatten wir Zeit, die Ausstellung zu entwickeln, Materialien und Objekte zu sammeln, 24 Filme zu drehen und nationale und internationale Partnerschaften zu schließen.

Es war von Anfang an klar, dass sich das Institut mit dem Holocaust und dem Völkermord in Ruanda befassen würde. Wir wollten sowohl Menschen in das Zentrum holen als auch auf Reisen gehen und lehren. Wir sind immer noch viel unterwegs und unterrichten, weil wir Student*innen und Lehrkräfte in anderen Teilen des Landes unterstützen müssen.

L. S.: Sie sprechen viel über Lehrpläne. Inwiefern können Sie darauf einwirken? Wie sind Ihre Bildungsprojekte ausgestaltet? Welche Art von Ausstellungen kuratieren Sie?

T.N.: Ich würde gern erst einmal darauf eingehen, was intern im Zentrum passiert und dann über die Unterstützung sprechen, die wir außerhalb des Zentrums anbieten. Im Museum haben wir eine Dauerausstellung, die sich mit Völkermorden im 20. Jahrhundert befasst, beginnend mit dem Herero-Aufstand in Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) im Jahr 1904, also der Völkermord an den Ovaherero und Nama, über den Völkermord an den Armenier*innen und den Holocaust bis hin zum Völkermord in Ruanda.

Wir befassen uns hauptsächlich mit vier Fallstudien, zwei davon sind deutlich detaillierter als die anderen beiden, nämlich die Studien zum Holocaust und zu Ruanda. In der gesamten Ausstellung und in speziellen Ausstellungsräumen stellen wir eine Verbindung zwischen den Fallstudien und der Geschichte Südafrikas her, mit Themen wie Rassismus, Kolonialismus und Apartheid. Darüber hinaus werden auch die aktuellen Herausforderungen Südafrikas wie Rassismus, Afrophobie, Xenophobie und Othering beleuchtet.

Dies alles wird in der Dauerausstellung behandelt. Wir haben aber auch Seminarräume, ein Forschungszentrum und eine Bibliothek und veranstalten verschiedene Sonderausstellungen, wie zum Beispiel «Seeing Auschwitz», die wir im November eröffnet haben. Das ist eine große Ausstellung, entwickelt von Musealia und dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, die schon bei den Vereinten Nationen in New York und der UNESCO in Paris zu sehen war. Sie wird etwa vier Monate lang bei uns sein. Nächstes Jahr werden wir eine Ausstellung über den Völkermord in Bosnien kuratieren.

Für mich ist das das Wichtigste, was ich mit der Welt teilen kann. Trotz aller Widrigkeiten weiterhin das Richtige zu tun.

In unseren Seminarräumen führen wir Workshops für Schüler*innen durch und beziehen dabei auch unsere Ausstellungen, Aktivitäten und die von uns erstellten Ressourcen ein. Viele dieser Materialien sind auf unserer Website zu finden und stehen kostenlos zur Verfügung. Auch der Besuch unseres Museums ist kostenlos. Das finanzieren wir über Spenden, weil wir an Bildung für alle glauben. Außerdem bieten wir Workshops für Ausbilder*innen und Lehrer*innen an, etwa sechs pro Jahr. Dabei handelt es sich um dreitägige Workshops, bei denen viele von uns entwickelte Methoden und Ressourcen zum Einsatz kommen. Wir stellen Lehrer*innen Ressourcen, Unterrichtspläne, Anleitungen zum Unterrichten, Filme und so weiter bereit.

Außerdem bieten wir spezielle Programme an, zum Beispiel über Eugenik, aber auch Veranstaltungen für Kirchen, die Öffentlichkeit, Universitäten und andere Gruppen. Abends oder tagsüber gibt es bei uns Konferenzen, Veranstaltungen, Theaterstücke, Filmvorführungen oder Gesprächsrunden. Unser Zentrum ist sehr aktiv. Unsere Hauptthemen sind der Holocaust und Völkermorde, aber wir beschäftigen uns auch mit allem, was unserer Meinung nach im entfernteren Sinne mit Völkermorden in der ganzen Welt und den Menschenrechten in Südafrika zu tun hat.

So haben wir jüngst eine Konferenz über die psychologischen Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf Ukrainer*innen veranstaltet. Daran waren verschiedene internationale Universitäten beteiligt. Wir hatten einige Botschafter*innen zu Gast, darunter den ukrainischen Botschafter in Südafrika, und Psycholog*innen aus der Ukraine, Großbritannien, Moldawien, Israel und Polen. Wir organisieren zudem eine Partnerschaftskonferenz zum Thema Geschlecht und Öffentlichkeit. Gemeinsam mit der Witwatersrand-Universität sprechen wir über LGBTQ+ in Südafrika, Angola und Mosambik. Wir werden ein Webinar über Umweltthemen und den Ökozid veranstalten. Wir gehen auch in andere Provinzen und bieten dort Fortbildungen für Lehrer*innen an.

Die Fallstudien zum Holocaust, zu Ruanda und zur Apartheid dienen als Einstieg, um über Extremismus und verantwortungsvolle Führung zu sprechen. Wir führen dieses Programm in vielen Ländern Afrikas durch, z. B. in Mosambik, Nigeria, Ruanda, Sambia, Gambia und im Senegal. Unsere temporäre Ausstellung reist auch in andere Länder.

L.S.: Arbeiten Sie auch mit anderen (regionalen) Organisationen zusammen?

T.N.: Wir haben glücklicherweise viele Partnerschaften. Von Anfang an mussten wir Partnerschaften eingehen, weil wir keinen eigenen Raum hatten. Wir arbeiten umfassend und kontinuierlich mit den unterschiedlichsten Organisationen zusammen – mit der UNO, der UNESCO, mit euch (RLS), dem Goethe-Institut, Universitäten, Museen, Expert*innen in den Bereichen Umwelt, Holocaust und Völkermord, mit Kirchen und Synagogen. Wenn wir einmal mit einer Organisation zusammengearbeitet haben, ergeben sich meist neue Kooperationen, das ist großartig. Ein Beispiel ist das Gay and Lesbian Archive (GALA) der Witwatersrand-Universität in Johannesburg, mit der wir im Oktober im Rahmen der bereits erwähnten Konferenz und Ausstellung zusammengearbeitet haben. Das ist wahrscheinlich das fünfte oder sechste Mal, dass wir gemeinsam an einem Projekt arbeiten. Wir arbeiten auch mit Botschaften oder Museen, globalen Instituten und lokalen Gemeinschaften zusammen.

L.S.: Mit lokalen Gemeinschaften?

T.N.: Ja, aus Johannesburg, Alexandra, Soweto – von überall her. Es sind viele Partnerschaften.

F.W.: Sie haben zwei sehr wichtige Punkte hervorgehoben, denen ich absolut zustimme. Erstens ist es notwendig, eine eigene Vorstellung von dem zu haben, was man tun will, aber wie Sie sagten, sind Partnerschaft und Zusammenarbeit unerlässlich, weil es sonst keine echte Debatte, keinen Austausch von Perspektiven gibt. Zweitens ist es nicht so einfach, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, aber es ist von elementarer Bedeutung. Ich denke, das ist die Grundlage für eine weitere Zusammenarbeit.

T.N.: Ja, das ist richtig. Wir haben ein großes Netzwerk, das aufgrund der langjährigen Partnerschaften wächst, und wir gewinnen auch einige neue Partnerschaften auf internationaler Ebene oder in Johannesburg hinzu.

L.S.: Auf Ihrem Hintergrundfoto sehe ich eine Mauer mit geraden Linien, die in den Himmel führen. Sie haben erwähnt, dass diese den Überlebenden des Holocausts und anderer Völkermorde gewidmet ist. Wie gestaltet sich Ihre Zusammenarbeit mit Überlebenden oder deren Nachkommen? In dem Video des Goethe-Instituts sprachen Sie über ihre Beteiligung am Bauprozess.

T.N.: Das ist eine gute Frage. Ich bin die Tochter eines Überlebenden, daher fällt es mir leicht, mit Überlebenden in Kontakt zu treten. Das geht aber nicht allen so. Manchmal haben die Leute Angst, sie zu verletzen. Mir war es wichtig, die Überlebenden in den Aufbau des Zentrums, in die Programme und in die Bildungsarbeit einzubeziehen. Ihre Geschichten sind Teil unserer Ressourcen und unserer Arbeit.

Wir haben zum Beispiel eine Publikation über jüdische Geflüchtete und Überlebende herausgegeben, die nach Südafrika gekommen sind. Jetzt finden ihre Geschichten Eingang in den Schulunterricht über den Holocaust. In Johannesburg gibt es nur noch 14 Überlebende. Deshalb müssen wir uns überlegen, wie es weitergeht. Wir befragen die Überlebenden und binden sie als Freiwillige ein. Jeden Monat kommen sie in unserem Zentrum zu sozialen Veranstaltungen zusammen. Es sind Holocaust-Überlebende und Überlebende des Völkermords an den Tutsi in Ruanda. Wir arbeiten aber auch mit anderen Gruppen zusammen. Beispielsweise leiden geflüchtete Menschen in Südafrika unter Xenophobie. Im Jahr 2019 haben wir eine großartige Ausstellung mit dem Titel «Mein Kongo – meine Geschichte» gezeigt.

Dabei ging es um kongolesische Geflüchtete, die nach Südafrika kamen; Geschichten darüber, wie sie hierherkamen, über ihr Leben in Südafrika, über ihre Herausforderungen, über Afrophobie und Xenophobie. Wir haben ein Buch (mit der RLS) mit dem Titel «[BR]OTHER» über Xenophobie in Südafrika veröffentlicht. Auch haben wir verschiedene Ausstellungen organisiert. Das Thema Xenophobie zieht sich dabei wie ein roter Faden durch unsere Dauerausstellungen.

Wir beziehen ständig viele verschiedene Gruppen von Überlebenden in unterschiedliche Projekte ein. In Armenien gibt es keine Überlebenden mehr, also arbeiten wir mit deren Nachkommen. In Johannesburg arbeiten wir zum Beispiel mit Jugendlichen aus Armenien zusammen, die Nachkommen der Opfer des Völkermords sind. In Namibia arbeiten wir im Rahmen von Partnerschaften mit den Nachkommen der Ovaherero und der Nama zusammen, weil es keine Angehörigen der ersten Generation mehr gibt. Im Juli fand ein Webinar mit Nachfahren der Ovaherero und Nama und Aktivist*innen in Namibia statt, bei dem Fragen des Gedenkens, der Erinnerung und der Mahnmale diskutiert wurden.

Es ist wichtig, Überlebende und Nachkommen in unsere Arbeit einzubeziehen. Normalerweise arbeitet jede Gruppe für sich, aber es kommt auch häufig vor, dass die Gruppen zusammenkommen, z. B. Überlebende des Völkermords in Ruanda, Holocaust-Überlebende und Betroffene von Xenophobie. Sie haben sich im Laufe der Jahre viele Male getroffen und die Beziehungen zwischen den Gruppen sind wichtig. Sie tauschen sich aus, treffen sich und so weiter. Diesbezüglich ist unsere Arbeit recht erfolgreich und solange die letzten Überlebenden oder Nachkommen am Leben sind, werden wir sie fortführen.

L.S.: Gibt es Reaktionen, vielleicht von Besucher*innen oder Überlebenden oder deren Nachkommen, die im Museum waren, die Sie bewegt oder beeinflusst haben? Gute oder schlechte Erinnerungen? Haben Sie eine bestimmte Geschichte im Kopf?

T.N.: Auf einer Studienreise nach Polen mit Teilnehmer*innen der Universität Kapstadt und aus Wien konnte ich den Grabstein meines Großvaters, Zvi Turner, sehen. Der Vater meines Vaters starb an Krebs, als mein Vater noch sehr jung war, vielleicht 2 oder 3 Jahre alt. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof in einer polnischen Stadt namens Nowy Targ begraben, die in der Tatra, in der Nähe von Zakopane liegt. Während des Krieges wurde mein Vater in verschiedene Konzentrationslager gebracht und überlebte. Er wurde von Oskar Schindler gerettet und von der Sowjetarmee befreit. Als sein Bruder, der ebenfalls überlebte, in die Stadt zurückkehrte, war der Friedhof zerstört. Der Grabstein meines Großvaters war weg und das war‘s, dachten wir.

Innerhalb der Geschichtswissenschaft kann man durchaus Fälle nebeneinanderlegen und analysieren, mit den Opfern mitfühlen und die Geschichte der Opfer erzählen.

Letztes Jahr, im Mai 2021, erhielt ich eine E-Mail von einem Freund aus Krakau, der mit einer kleinen gemeinnützigen Organisation im Südwesten Polens an dem Projekt «Menschen, nicht Zahlen» zusammenarbeitet. Diese Organisation wurde von einem Olympiasieger, Dariusz Popiela, gegründet. Dieser junge Mann, der in Polen ein Nationalheld ist, hat sein Leben der Erinnerung an diese kleine Region Podhale gewidmet. Seine Organisation errichtet Gedenkstätten, erforscht die Geschichte jeder kleinen Stadt und sucht nach Grabsteinen aus der ganzen Umgebung, um sie auf die Friedhöfe zurückzubringen. Ich fuhr mit dieser Gruppe von Student*innen nach Nowy Targ.

Wir trafen Dr. Karolina Panz, die für die gesamte Forschung in dieser Stadt verantwortlich war. Sie ist eine eindrucksvolle Person. Es war das bewegendste Erlebnis im Bereich meiner Bildungsarbeit, denn es fühlte sich wie eine reale Begegnung an, am Grabstein meines Großvaters zu stehen. Ich betete, obwohl ich kein religiöser Mensch bin. Ich habe gebetet, weil ich das Gefühl hatte, dass ich das tun musste. Wir sprachen mit Karolina und erfuhren von ihr mehr über die Vergangenheit und die derzeitige schwierige Lage in Polen. Es war sehr emotional. Ich habe viel geweint – es sind mutige Menschen. Für mich ist das das Wichtigste, was ich mit der Welt teilen kann. Trotz aller Widrigkeiten weiterhin das Richtige zu tun. Es gibt viele interessante Geschichten von Überlebenden, aber dies hier ist mein persönlicher Moment, den ich nie vergessen werde.

F.W.: Vielen Dank, dass Sie diese Geschichte geteilt haben und vor allem dafür, dass Sie den Menschen in Polen Anerkennung zollen, denn, wie Sie sagten, sind die Umstände denkbar schwierig. Ich bin neugierig und will mehr über diesen Goldmedaillengewinner herausfinden. Es ist großartig, was er tut.

T.N.: Ich möchte die Organisation unterstützen, denn es ist unglaublich, was ihre Mitglieder in so kurzer Zeit erreicht haben. Sie haben gerade eine Gedenkstätte für 12.000 Menschen eröffnet, für die Juden und Jüdinnen, die in Nowy Sącz getötet wurden. Sie haben so viel Arbeit investiert, um alle Namen zu recherchieren, es ist unglaublich. Sie haben niemanden um Hilfe gebeten; sie haben alles allein gemacht. Wahnsinn.

Der zweite Teil des Interviews ist ein Gespräch über die Erinnerungskultur in Deutschland. Es geht darin hauptsächlich um die Möglichkeit, die Erinnerungen verschiedener Überlebender mit der Debatte um «konkurrierende Erinnerungen» zu verknüpfen.

Schüler*innen besuchen die Ausstellung über Fremdenfeindlichkeit im Johannesburger Holocaust & Genocide Centre Foto: JHGC

F.W.: Sie haben von der polnischen Organisation «People, not numbers» gesprochen. Wie Sie bereits erwähnten, erschwert die politische Situation in Polen das Handeln im Sinne dieser Organisation. Trotzdem nehme ich in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern eine Art Arroganz der liberal gesinnten, ja, sogar der progressiven Kräfte gegenüber Polen wahr. In Bezug auf Antisemitismus tritt man den Menschen in Polen gegenüber belehrend auf.

Ich finde, es steht Deutschen nicht an, Menschen auf diese Weise zu belehren, vor allem nicht, wenn es dabei um eine Nation geht, die so sehr unter der deutschen Besatzung gelitten hat wie die polnische. Es wäre förderlicher, zu vermitteln, dass sich das Gedenken an die jüdischen Opfer des Holocaust nicht gegen die Erinnerung an polnisches Leid richtet. Ich vermute, dass die Regierung und große Teile der Bevölkerung in Polen befürchten, ihr Leiden werde nicht angemessen gewürdigt.

Und wahrscheinlich kann eine Organisation wie die Ihre hier mehr erreichen als jemand aus Deutschland. Polen braucht einfach keine Belehrungen aus Deutschland über die Nazi-Vergangenheit. Deswegen würde ich auch gern mehr über die Verwendung des Begriffs «verbinden» erfahren, weil dieses Wort innerhalb der Debatte möglicherweise hilfreicher ist als Formulierungen wie «vergleichen» oder «in Beziehung setzen». Das Wort «verbinden» könnte den Diskurs über die Shoa und andere Genozide oder Massenmorde erleichtern. Vielleicht können Sie uns erklären, warum Sie es verwenden.

T.N.: Ich danke Ihnen. Ich denke es ist wichtig, darüber zu sprechen. Ich weiß um die Diskussion in Deutschland und die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind. Man hat mich dazu schon öfters befragt. Dabei wurde auch über die «Angst» zu vergleichen gesprochen und über eine «Angst» vor so etwas wie einem konkurrierenden Leiden. Historiker*innen sprechen ja immer über unterschiedliche Abschnitte in der Geschichte. Wir sprechen dabei über Parallelen und Analogien, über Unterschiede und klare Abgrenzungen. Der Holocaust ist aber ganz offensichtlich ein sehr sensibles Thema, und es ist schwierig, darüber so zu sprechen, wie wir über andere historische Ereignisse sprechen. Am Beispiel unserer Debatte in Südafrika lässt sich gut zeigen, warum das Wort «verbinden» so hilfreich ist.

Auch Südafrika hat eine komplexe Geschichte. Nicht nur die Apartheid war verheerend; nicht nur der Kolonialismus, für den wir auch noch keine Sprache gefunden haben. Es sind nicht nur der frühe Genozid am Volk der Khoisan und die Ermordung der vorkolonialen Bevölkerung, an die wir uns nicht erinnern und über die wir nicht reden. Unsere Geschichte ist wie gesagt komplex, und so fällt es uns schwer, Dinge zu benennen. Aber lassen Sie mich noch ein weiteres Beispiel anführen. Das Regime in Südafrika beherrschte Südwestafrika von 1916 bis 1990. Darüber spricht niemand. Kein Wort über die Einsetzung des Apartheidregimes dort, kein Wort über unsere Armee, die gegen Befreiungsbewegungen kämpfte, kein Wort über die Verbrechen gegen das namibische Volk während dieser Zeit. Die Südafrikaner*innen müssten sich damit auseinandersetzen, doch das ist nicht leicht. Die Beschäftigung mit unterschiedlichen historischen Fallbeispielen könnte uns dabei helfen. Zum Beispiel Ruanda. Im April 1994 bereiteten die Südafrikaner*innen sich auf die ersten demokratischen Wahlen vor. Gleichzeitig ereignete sich in Ruanda der Genozid. Er war seit drei Wochen in vollem Gange, als wir am 27. April wählten. Wir dachten aber nur an uns und kümmerten uns nicht darum, was zur gleichen Zeit auf unserem Kontinent noch geschah.

Dabei ist Ruanda nur dreieinhalb Flugstunden entfernt! Hier hätten wir eine «Verbindung» herstellen müssen. Wir müssen solche Verbindungen zu den Ereignissen in der übrigen Welt – in der Ukraine, in Myanmar, in Äthiopien oder im Jemen – herstellen. Wir müssen eine Verbindung zu den Entscheidungen herstellen, die Menschen, Gemeinschaften und Regierungen anderswo treffen. Wenn wir nur von «ihnen» und von «uns» sprechen, geraten wir in ein Dilemma, das bis hin zum «Othering» führt, bei dem die Opfer zu den «anderen» gemacht werden. Tutsi, Kongoles*innen und jüdische Menschen – da gibt es Themen, über die man eine Verbindung herstellen kann. Es ist keine Parallele, kein Vergleich, sondern eine Verbindung zu anderen. Das bringt uns weiter. Deshalb möchte ich Sie einladen, sich eine Podcast-Reihe anzuhören (auf SoundCloud und Spotify oder über unsere Website können Sie darauf zugreifen), die den Titel «Sleepwalking Through the Assault on Democracy» trägt.

Historiker*innen, Akademiker*innen und Menschen aus der Praxis führen Gespräche miteinander. Es gibt inzwischen sechs oder sieben Folgen und in der ersten geht es um «Dangerous Speech». Wir sprechen zum Beispiel über den Holocaust und über Ruanda. Die Gefahr des zunehmenden Nationalismus und unsere sich verändernde Welt stehen dabei im Fokus. Wir ziehen dabei keine Vergleiche, sondern stellen Verbindungen her. Wir wollen durch diese Rückschau Warnzeichen erkennen, versuchen historische Fallbeispiele auf unsere Gegenwart anzuwenden, um uns zu verorten. Das ist denke ich hilfreich. Wir vergleichen Ruanda nicht mit dem Holocaust, und wir vergleichen auch den Genozid an den Nama oder den Ovaherero nicht mit dem Holocaust. Aber dort, wo es möglich ist, stellen wir Verbindungen her.

F.W.: Ich denke, das kann uns weiterbringen. Für uns als Historiker*innen ist Vergleichen ja eine Technik, ohne die wir nicht auskommen. Und oft wird ja gesagt, man solle nicht vergleichen. Gemeint ist damit aber eigentlich, man solle nicht «gleichsetzen».

L.S.: Vielleicht kommt die Angst vor dem Gleichsetzen daher, dass immer wieder versucht wird, auf diese Weise die Stimmen von Überlebenden oder deren Nachkommen zum Schweigen zu bringen. Deshalb ist es wichtig zu betonen, dass eine Verbindung herzustellen nicht bedeutet, etwas in diesem Sinne gleichzusetzen.

F.W.: Ich glaube, dass ein solches «Verbinden» auch für die Debatte in Deutschland produktiv wäre.

T.N.: Ruanda ist ein Fall, der zeigt, dass man kein zweites «Auschwitz» braucht, um einen Genozid zu begehen. Hier geht es eben nicht um Gleichmacherei. Das Konzentrationslager Auschwitz wurde errichtet und 1,1 Millionen Kinder, Männer und Frauen – größtenteils Jüd*innen – wurden dort ermordet. In Ruanda wurden in drei Monaten fast eine Million Menschen ermordet, ohne dass es so etwas wie Auschwitz gab. Völkermorde können leider auch auf andere Weise begangen werden. Und diese Aussage bedeutet nicht, dass wir Ruanda mit dem Holocaust oder mit Auschwitz gleichsetzen.

Wir weisen nur darauf hin, dass Genozide auf unterschiedliche Weise verübt werden. Der Holocaust war in vielerlei Hinsicht beispiellos. Auschwitz wurde nur einmal errichtet, in dieser Hinsicht ist es also etwas Singuläres – wobei ich den Begriff «singulär» nicht mag, denn er suggeriert, dass etwas nie wieder geschehen kann. Aber «singulär» bedeutet eben auch nicht, dass der Völkermord in Ruanda weniger grausam war. Man könnte die Methoden des Massenmords dort vielleicht auch mit denen der «Einsatzgruppen» der Nazis vergleichen oder mit dem, was Pater Patrick Desbois den «Holocaust by Bullets» nennt.

F.W.: Zum einen denke ich, dass die Shoa, wie Sie sagten, als eine spezifische Art des Massenmordes mit industriellen Mitteln und Methoden durchaus singulär ist. In Europa ist man auch deswegen so schockiert darüber, weil Deutschland für sich beanspruchte, in der Tradition der Aufklärung zu stehen, eine moderne und keine sogenannte barbarische Gesellschaft zu sein.

Dennoch hat diese Nation einen Massenmord industriellen Ausmaßes begangen. Andererseits war nur eine solche sogenannte moderne Gesellschaft dazu in der Lage. Christopher Browning hat sich mit diesem Thema beschäftigt, und sein Buch Ordinary Men ist viel interessanter als Daniel Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker, obwohl Goldhagens Arbeit erfolgreicher war. Browning aber hat genau das gemacht, was Sie als «verbinden» bezeichnen.

Er hat zum Beispiel nicht behauptet, die amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam und der Holocaust seien dasselbe, denn es war nicht die Absicht der Amerikaner*innen, die gesamte vietnamesische Zivilbevölkerung zu töten. Die Nazis aber hatten die Absicht, alle Jüd*innen zu vernichten. Dennoch stellt Browning die Frage, unter welchen Umständen nicht Verbrecher*innen, sondern ganz «gewöhnliche Menschen» solche brutalen Verbrechen begehen. Sie haben doch in der taz über solche Warnsignale für einen bevorstehenden Völkermord gesprochen.

T.N.: Richtig. Und deswegen müssen wir menschliches Verhalten unbedingt genauer betrachten. Nehmen wir den Holocaust – Menschen, die weder davor noch danach gemordet haben, wurden in diesem Zeitraum zu Massenmörder*innen. Ganz normale Menschen konnten, wie Browning schreibt, zu Mörder*innen werden und ab 1945 keine mehr sein. Was ist da passiert? Ich glaube, es gibt Warnzeichen, die wir erkennen müssen, um so etwas zu verhindern.

F.W.: Noch ein letzter Fragenkomplex: Zur Trias aus Apartheid, Holocaust und Ruanda könnte man auch Kambodscha, Armenien und Namibia hinzufügen. Oder man betrachtet den Stalinismus und Maoismus. Bei den Ereignissen in der Ukraine in den 1930er Jahren, die auch als Holodomor bezeichnet werden, handelte es sich meines Erachtens nach aber nicht um einen Genozid, auch wenn einige Historiker*innen da anderer Meinung sind.

Ich jedoch glaube nicht, dass es die Absicht der Sowjets war, das gesamte ukrainische Volk zu vernichten, auch wenn natürlich viele von ihnen als Folge von Stalins Politik gestorben sind. Welche Verbindungen gibt es also zwischen diesen verschiedenen Arten von historischen Massenverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Wie können wir historische Fallbeispiele nutzen, um beispielsweise zwischen Kambodscha mit den Kolonialverbrechen in Afrika eine Verbindung herzustellen? Denn darum drehen sich die Debatten in den Vereinigten Staaten und in Europa.

T.N.: Definitionen bieten uns wichtige Anhaltspunkte, auch wenn einige noch unzureichend oder nicht ideal sind. Nehmen wir die Definition des «Genozids». Man muss wissen, dass es sich dabei um ein relativ neues Wort handelt, das 1944 geprägt und erst in der Folgezeit verwendet wurde. In den Nürnberger Prozessen wurde es erstmals benutzt. Vorher hatten wir keinen Begriff für das, was es bezeichnet. Raphael Lemkin erwog viele andere Möglichkeiten, bevor er sich für dieses Wort entschied – ein griechisch-lateinisches Mischwort, das die Tötung von Menschen beschreibt. Wir müssen uns die Definition in der «Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes» der Vereinten Nationen ansehen. Sie ist nicht ideal, weil man damals mit Stalin zusammenarbeiten musste und deswegen keine politischen Anweisungen für den Umgang mit der Tötung von Menschen in die Konvention schreiben wollte.

Es ist viel hilfreicher, den Dialog voranzubringen, statt in einem Konkurrenzverhalten stecken zu bleiben.

Ein Genozid wird definiert als die Absicht, eine bestimmte Gruppe von Menschen ganz oder teilweise zu vernichten. Im Laufe der Jahre wurden mehrere weitere Gesetze erlassen, aber ich halte diese Definition für einen guten Ausgangspunkt. So wurde beispielsweise in Kambodscha erst vor einigen Jahren im Rahmen des ECCC-Tribunals (auch das Rote-Khmer-Tribunal genannt) anerkannt, dass an den Cham-Muslim*innen und an den Vietnames*innen ein Genozid begangen wurde, weil die Absicht bestand, alle Cham-Muslim*innen und Vietnames*innen zu vernichten. Die Absicht war nicht, das Volk der Khmer zu vernichten, aber am Ende hat das Regime der Roten Khmer auch sie getötet. Kambodscha ist ein wirklich erschreckendes Beispiel, denn am Ende waren alle bedroht. Wenn man sich an diese Definition der Vereinten Nationen hält, auch wenn sie nicht perfekt ist, kann man unterschiedliche historische Fallbeispiele viel besser einordnen.

Die Apartheid beispielsweise war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Menschen wurden getötet, viele Menschen, aber die Absicht war nicht, alle Menschen einer bestimmten Gruppe zu vernichten. Daher denke ich, dass selbst unvollkommene Definitionen hilfreich sind. Vor allem, um einen «Konkurrenzkampf» um erlittenes Leid zu verhindern, bei dem der Genozid das «Spitzenverbrechen» darstellt.  Es darf keine «Goldmedaille» für erlittenen Genozid und keine «Bronzemedaille» für Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit geben. Ich denke, der Fall der Nama und Ovaherero ist hier ein gutes Beispiel. In Zahlen ausgedrückt wurden «nur» etwa 10.000 Nama getötet, aber das waren mehr als 50 Prozent der Bevölkerung. Es geht also nicht um Zahlen, sondern um die Absicht, das gesamte Volk der Nama zu vernichten. Dasselbe gilt für die Jüd*innen während des Holocausts: Fast dreiviertel von ihnen wurden getötet, und es bestand die Absicht, alle Jüd*innen zu vernichten.

Es gab aber auch die Absicht, das gesamte Volk der Ovaherero zu vernichten, obwohl «nur» 65.000 Menschen, also 85 % dieses Volkes, ermordet wurden. Die Opferzahlen des Kolonialismus sind erschütternd. Ebenso die Opferzahlen der Sklaverei. Doch es geht nicht nur um Zahlen, es geht um die Absicht, alle Menschen einer bestimmten Gruppe zu vernichten. Wir müssen also nach der Absicht fragen. Ging es um wirtschaftliche oder mit Kriegsmitteln verfolgte Ziele, oder um wieder andere Konflikte? Jeder Fall ist anders gelagert. Das Problem ist der «Konkurrenzkampf», der mit Geschichte nichts zu tun hat. Innerhalb der Geschichtswissenschaft kann man durchaus Fälle nebeneinanderlegen und analysieren, mit den Opfern mitfühlen und die Geschichte der Opfer erzählen. Wie bereits erwähnt, kann der «Konkurrenzkampf» um erlittenes Leid schwerwiegende Folgen haben – siehe das Beispiel Polen. Deshalb müssen wir einen Weg finden, darüber zu sprechen, ohne in die Konkurrenzfalle zu tappen, ohne die Opferzahlen gegeneinander aufzuwiegen. Wir neigen aber dazu und das ist ein Problem.

F.W.: Es ist produktiv, sich an systematische Definitionen zu halten, ja. Manchmal kann das allerdings gefühllos wirken gegenüber individuellem Leid. Trotzdem können wir nur durch solche Definitionen erkennen, welche Art von Gräueltaten sich wiederholen könnten. Ein Beispiel: Wenn ich mit irischen Republikaner*innen diskutiere, bin ich zwar empathisch, glaube aber nicht, dass die Große Hungersnot in Irland in den 1840er Jahren ein Genozid war, weil es nicht im Interesse der Brit*innen war, alle ethnischen Ir*innen zu töten. Trotzdem handelt es sich um ein Verbrechen. Ein Verbrechen durch Unterlassung und ein Verbrechen des Kapitalismus.

L.S.: Ich denke, es ist auch ein Problem innerhalb der hellhäutigen Gesellschaft und der Art und Weise, wie über konkurrierende Erinnerungen gesprochen wird. Straftaten im Zusammenhang mit Rassismus und Antisemitismus nehmen zu. Vielleicht stört die oder der Einzelne sich ja gar nicht daran, dass Verbindungen hergestellt werden, sondern vielmehr daran, welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Wir leben in einer Gesellschaft, in der immer noch auf verschiedene Arten diskriminiert wird, deswegen haben Menschen Angst vor den Folgen, wenn sie diesen «Konkurrenzkampf» verlieren.

Das hat Konsequenzen, welche die weiße Mehrheit, die diese Definition aufgestellt hat, nicht zu fürchten braucht. Diejenigen, die Macht innehaben, können ohne weiteres das Vergleichen und Verbinden von Ereignissen für ihre Entscheidungsprozesse nutzen, weil sie nicht mit den möglichen negativen Folgen zu kämpfen haben. Daher kann ich verstehen, dass ein Individuum, das von solchen Entscheidungsprozessen betroffen ist, Angst davor hat, in einem Konkurrenzkampf zu unterliegen, für den Mächtigere die Regeln festlegen. Wir leben immer noch in einer kapitalistischen Gesellschaft und selbst die Erinnerungskultur ist davon durchdrungen. Daher vielleicht auch die Triggerfunktion des Wortes «verbinden». Niemand will etwas verlieren, wovon sein Leben abhängt. Niemand möchte Nachteile haben.

T.N.: Vielleicht kann eine positive Praxis des Verbindens diesen Konkurrenzkampf aber auch befrieden. Weil Leiden etwas so Reales ist, sollten wir verbinden, was verbunden werden kann. Es ist viel hilfreicher, den Dialog voranzubringen, statt in einem Konkurrenzverhalten stecken zu bleiben.

F.W. / L.S.: Wir danken Ihnen sehr für dieses Gespräch.

T.N.: Ich danke Ihnen ebenfalls und freue mich schon auf eine weitere Begegnung!