Nachricht | Partizipation / Bürgerrechte - Migration / Flucht - Südosteuropa - Griechenland Auf Kos in der Falle

Geflüchtetenabwehr: Eine vorweihnachtliche Delegationsreise an die EU-Außengrenze

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Die Bundestagsabgeordnete Clara Bünger (DIE LINKE) nahm an der Delegationsreise nach Griechenland teil. Im Hintergrund die mit EU-Geldern errichteten Haftanlagen für Geflüchtete auf der Insel Kos. Foto: Zita Erffa

Pyli liegt abgelegen vom stadt- und strandnahen Tourismustrubel in den Bergen der etwa 40 Kilometer langen Insel Kos. Es bekommt nicht mit, was dort passiert, wer nicht bewusst das kleine Örtchen ansteuert. Dort liegt einer der fünf EU-Hotspots, in dem ankommende Schutzsuchende ausharren müssen. Eine Delegation mit den Bundestagsabgeordneten Clara Bünger (LINKE) und Hakan Demir (SPD) hat Verantwortliche in dem Lager getroffen und mit ihnen gesprochen.

Friedrich Burschel leitet seit März 2022 das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Griechenland und war Teilnehmer der Delegation.

Es wird vieles wortreich schöngeredet, jemand spricht mit Blick auf den Abschiebeknast von einem «friendly environment».  Eines von vielen Haftlagern entlang der EU-Außengrenzen. Bünger und ihr Kollege Demir laufen über das nahezu vegetationslose, durchgehend betonierte, trostlose Gelände mit den Wohncontainern für die Gefangenen einerseits und die Neuankömmlinge andererseits. Für viele Schutzsuchende ist das die Realität, wenn sie in der EU ankommen, auf der Flucht vor Krieg, Gewalt und Not. Die neuen Lager wurden mit EU-Geldern in die Landschaft neben dem 2500-Einwohner-Städtchen Pyli gefräst. Das «Closed Controlled Access Center» (CCAC) und das «Pre-Removal Detention Center» liegen sinnfälliger Weise direkt nebeneinander und vereinen eine Belegungskapazität von mehr als 2000 Personen. Sie sind wie Hochsicherheitskäfige von meterhohen Doppelzäunen umgeben, auf deren Oberkante und zwischen denen Unmengen rasiermesserscharfer Nato-Draht ein Entkommen verhindern sollen. Wer wissen will, wie weit Autosuggestion führen kann, hat auf der griechischen Dodekanes-Insel Kos jede Menge Gelegenheit dazu. Kos ist Teil der EU-Außengrenze und verändert die Gesellschaft und ihre politischen Rahmenbedingungen hier erheblich. «Friendly environment».

Menschen werden hier inhaftiert, das Haftlager kann bis zu 440 Personen aufnehmen. Aber was haben die Menschen verbrochen, dass sie inhaftiert werden? Viele kommen einfach als Geflüchtete, politisch Verfolgte, Angehörige verfolgter ethnischer und sexueller Minderheiten, als Frauen oder Transpersonen, mit Familie, vielfach mit Kindern, auch ganz kleinen. Auch immer mehr Klimaflüchtlinge sind darunter. Menschen, die es zum Teil viele bis zu mehrere Dutzend Male versucht haben, die wenigen Kilometer zwischen dem türkischen Festland in Sichtweite und der griechischen Insel zu überwinden. Auch schwimmend. Viele – die meisten? – werden vor oder mit Erreichen der Insel abgefangen, von der griechischen Küstenwache und Grenzpolizei, gewaltsam an unbekannte Sammelorte gebracht, nackt ausgezogen, schwer misshandelt und dann auf manövrierunfähigen Plastik-Rettungsinseln so vor der türkischen Küste ausgesetzt, dass sie mit der Meeresströmung zurück zum Ausgangspunkt driften… Ob das belegt sei, werden jetzt viele fragen und die Überbringer*innen solcher «Geschichten» des unsauberen journalistischen oder wissenschaftlichen Arbeitens zeihen.

Zwar liegen zahllose auch offizielle Berichte wie der geleakte OLAF-Bericht über die aktive Verstrickung der EU-Grenzschutztruppe Frontex vor und die allfälligen Berichte der türkischen Küstenwache (die von griechische Seite natürlich als böswillige Propaganda betrachtet werden), und solche von Augenzeugen des Grauens an den Grenzen und solche über die zahllosen Todesfälle entlang der EU-Außengrenzen – nicht nur in Griechenland. Und doch muss immer der*die kritisch Berichtende den Wahrheitsgehalt dieser «Unterstellungen» nachweisen: alle wissen, was an den Grenzen los ist und wie hier systematisch ein rechtsfreier Raum geschaffen wird, in dem bewaffnete und gewalttätige Angehörige der je nationalen Grenzschutzeinheiten regel- und planmäßig und straflos schwere Menschenrechtsverletzungen und kriminelle Akte gegenüber schutzlosen Geflüchteten, Asylsuchenden und Migrant*innen begehen.

Und da geht es nicht nur um Push-backs, von denen selbst der UNHCR, der auch ein irgendwie klandestines Büro auf Kos betreibt, das die Delegation besucht, 700 in den zurückliegenden zwei Jahren für ganz Griechenland zählt. Ob man diese Liste einsehen kann? Nein, lautet die Antwort, die Liste sei nur intern und man habe sie der griechischen Regierung zur Einleitung entsprechender Schritte gegen diese illegale Praxis übergeben. Autosuggestion.

Es geht um den fragwürdigen Umgang mit Asylsuchenden insgesamt. Die Rechtsanwältin Athina Ntavasilivon der NGO «Equal Rights Beyond Borders» ergreift die Gelegenheit, dass zwei deutsche Parlamentarier*innen anwesend sind, um kritische Nachfragen zu stellen, die im Alltag auf der Insel sonst an den Verantwortlichen der Flucht- und Migrationsbewirtschaftung abperlen. Man muss sich hier die Frage stellen, warum Menschen inhaftiert und in einem Abschiebeknast untergebracht werden, obwohl eine «Rückführung» in die Türkei seit März 2020 nicht mehr stattfindet. Athina und ihre Kolleg*innen vertreten etliche Geflüchtete, denen es so geht. Für viele Menschen ist das ein völlig grundloser schwerer Eingriff in die Freiheitsrechte, die mit leichter Hand außer Kraft gesetzt werden. Athina und ihre Kolleg*innen Sofia Dede und Tina Al-khersan, eine US-Rechtsanwältin, die ihren beiden griechischen Kolleginnen assistiert, und ihre Handvoll Helfer*innen sind mit allen Hunden gehetzte Profis, die sich mit übermenschlicher Energie gegen den Irrsinn in ihrem Grenzabschnitt der EU-Außengrenze stemmen. Sie berichten von Schikane, Behinderungen und Respektlosigkeiten, gar Übergriffen, die sie sich von den Akteur*innen der Geflüchtetenabwehr und -verwaltung gefallen lassen müssten, um ihre Arbeit im Sinne der Menschenrechte tun zu können. Sie berichten von dem Unrecht, das hier alltäglich geschieht. Alle wissen das. Nichts wird unternommen.  

Was passiert mit den Menschen, ehe sie ins Asylverfahren eintreten und unter welchem rechtlichen Status etwa greifen (Grenz-)Polizei und Frontex während der Registrierung und Erstbefragung bereits im «Reception and Identification Service» auf die eben Angekommenen, meist schwer erschöpften und zum Teil traumatisierten Leute, Männer, Frauen, Kinder, zu? Wir erfahren, dass Frontex in so genannten, angeblich völlig freiwilligen «Debriefings», nach Informationen über «Schleuser» und auch nach Hilfsstrukturen in Griechenland oder gar auf der Insel selbst fragt – bis zurück ins Herkunftsland, was hier meist Afghanistan, Syrien, Pakistan, der Iran und auch afrikanische Ländern sind. Über den rechtlichen Status der so Befragten und ob sie sachgerecht und mit Übersetzung «interviewt» werden, ob sie als Aufgegriffene oder Asylsuchende befragt werden, da hält sich Frontex im Vagen.

Einen legalen Status in der EU zu bekommen ist fast aussichtslos, solange die «Sichere Drittstaaten»-Regelung mit der Türkei offiziell, aber, wie beschrieben, ja nur fiktional, gilt.  Die Ablehnungsquote bei den Verfahren hier im CCAC liegt weit über 90 Prozent, heißt es, und Erstentscheidungen werden meistens im Berufungsverfahren bestätigt. Dann kommt die Abschiebehaft, früher bis zu 18 Monate, jetzt immer noch 6 Monate. Danach werden die Inhaftierten ent- und sich selbst überlassen. Wenige bleiben auf Kos, sie gehen auf‘s Festland und versuchen auf weiteren Wegen ihr Glück. Denn Glück brauchen sie, um ohne Hilfe und Mittel und mit Gewalt, Ablehnung und Rassismus konfrontiert durchzukommen.

Erstbefragung und Registrierungsprozess finden unter einem hohen halbrunden Bogendach statt, eines der letzten Überbleibsel der Militäranlage, die hier früher stand. Es dient zum Schutz vor Regen und Sonne. Die zwei Dutzend junger Männer, die vor wenigen Tagen angekommen sind, warten dort darauf, dass sie in einen der Container gerufen werden, in denen Frontex und griechische Polizei hier residieren. Sie kommen aus dem Jemen, einer ist Palästinenser aus Gaza.  Ein kurzes Gespräch mit den Neuankömmlingen haben zwei Finsterlinge von Europol im Blick. Auch die Delegation beobachten sie grimmig.

Während der Termine mit der staatlichen Asylbehörde Greek Asylum Service (GAS), Frontex und der Lagerleitung auf dem Gelände bei Pyli muss das Gespräch immer wieder unterbrochen werden, weil vor den Fenstern über scheppernde Lautsprecher die Namen von Insass*innen ausgerufen werden, für die irgendwelche Benachrichtigungen vorliegen und die irgendwo hinkommen sollen. Nach der Litanei überwiegend arabisch klingender Namen gibt das abschließende «Shukran», Danke, das Zeichen zum Fortfahren. Vor dem Fenster Stacheldrahtkronen auch auf den Zäunen innerhalb des Geländes. Ein Scherz gegenüber Mitarbeiter*innen im Hinausgehen mit Blick auf den Zaun: «Ihr seid hier ja selbst auch fast Gefangene, oder?». Betretenes Lächeln.

Termin in Kos Town, der Inselmetropole mit knapp 20.000 Einwohner*innen. Schöne Steinhäuser, nette Innenstadt und überall Ehrfurcht einflößende alte, riesige Bäume, Plantanen, Kiefern, Tamarisken, Palmen, Eukalyptus und gigantische Rhododendren. Drei alte Moscheen. Eine war bis zum letzten Erdbeben eines der Wahrzeichen der Stadt. Dann fiel der Turm um. Viele Gebäude in italienischem Stil, schließlich stand die Insel von 1912 bis zur deutschen Besetzung 1943 unter italienischer Verwaltung. Die Deutschen haben auch hier Massaker an italienischen Offizieren angerichtet und die Jüdinnen und Juden nach Auschwitz deportiert. Eine Gedenktafel hinter dem Bezirksgericht erinnert an von den Nazis hingerichtete Einwohner*innen von Kos.

Bürgermeister Theodosis Nikitaras hat ein unbewegtes Gesicht und zeigt kaum eine Regung, wenn er seine Sicht der Dinge verkündet. Er hat extra das lokale Fernsehen kommen lassen, um sich mit der Delegation der Deutschen zu inszenieren. Er gibt sich menschlich, wenn es um Kinder unter den Geflüchteten geht, sie seien ja unschuldig. Wenn es um die anderen Geflüchteten geht und vor allem um die im Detention Center Internierten, wird es heikel. Er versucht zu suggerieren, es seien dort nur Menschen inhaftiert, die sich etwas zu Schulden hätten kommen lassen. Auf Nachfrage, ob er tatsächlich glaube, dass dort Kriminelle inhaftiert seien, rudert sein Assistent zurück, nein, nein, da gehe es nur um kleinere Straftaten. Da hätten mal welche Hühner gestohlen, sagt er. Dass das Unfug ist, sagt niemand vor der laufenden Kamera von Kos TV. Aus Höflichkeit. Im Abschiebeknast sitzen völlig Unschuldige, die nur keine Aussicht auf Anerkennung als Schutzsuchende haben. Und, wie gesagt, man inhaftiert sie ohne Aussicht, sie tatsächlich in den – auch so ein autosuggestives Konstrukt – «sicheren Drittstaat» Türkei abschieben zu können.

Bürgermeister Nikitaras war vor und zu Beginn der Pandemie mit rigiden und unrechtmäßigen Maßnahmen gegen die Geflüchteten auf der Insel aufgefallen, deren Bewegungsfreiheit er widerrechtlich stark einschränkte. Die kritische Tageszeitung «Efymerida ton Syndakton» (Efsyn) schrieb am 18. März 2020: «Diese Beschränkungen werden, wie er sagt, durch Sicherheitspersonal durchgesetzt, das offenbar eine Rolle und Befugnisse hat, die denen der Polizei entsprechen, eine Privatarmee, die nur den Befehlen des Bürgermeister-Sheriffs gehorcht.»

Immer wieder geht es um den Schutz der einheimischen Bevölkerung vor Krankheit, Unsicherheit und Kriminalität. Und das neue Feindbild sind hier «die NGOs». In Andeutungen einiger der Gesprächspartner und nun auch hier im gemütlichen, fein getäfelten und weihnachtlich illuminierten Bürgermeisterbüro wird dieser Verdacht angedeutet: Er sei selbst mal bei der Ankunft von Geflüchteten zufällig vor Ort gewesen und könne bezeugen, dass da Leute auf die Eintreffenden gewartet hätten, die zusammengezuckt seien, als er sie auf Griechisch ansprach. Also international organisierte und operierende NGOs, die sich der Schleuserei verschreiben. Das liegt ganz auf der Linie staatlicher Propaganda gegen Seenotrettung und Geflüchtetensupport. Es stehen zahlreiche dergestalt inszenierter Prozesse in Griechenland an, die das Fleisch um den Knochen dieses suggestiven Narrativs liefern sollen.

Für den Bürgermeister ist klar: Sein Mandat von den heimischen Wähler*innen ist es, den (nach der Pandemie wieder) prosperierenden Tourismus mit allen Mitteln gegen die negativen Auswirkungen von Flucht und Migration zu schützen. Man habe 2022 1,2 Millionen Gäste gehabt, viele davon aus Deutschland. Kommendes Jahr will man die 1,5-Millionen-Marke knacken. Seine Selbstinszenierung erlaubt nur wenig Zweifel und Widerspruch seitens der Gäste. Der Bürgermeister ist nicht aus der Ruhe zu bringen. Er hat das Thema im Griff, lässt sich nicht reinreden und bittet die Gäste freundlich, doch die Attraktionen der Stadt und der Insel nicht zu vergessen, immerhin die Heimat des großen Hippokrates, des Urvaters der bedingungslos menschlichen Medizin…

Draußen vor dem prachtvollen Rathaus dröhnen die US-Weihnachtslieder aus an den Laternenpfählen befestigten Lautsprechern – in dieser Hinsicht dem Lager in Pyli nicht unähnlich – und sorgen, ebenso wie die bunt leuchtenden und rhythmisch blinkenden Weihnachtsdekorationen und die Krippe mit lebensgroßen Heiligenfiguren auf dem zentralen Platz, für gute Konsumstimmung und – ja, möglicherweise – so etwas wie Besinnlichkeit zum Fest der Liebe. Während sich in Pyli im Lager, auf den Straßen des Örtchens und auch in Kos Town die Ankömmlinge und Asylsuchenden um die Infrastrukturen drängen, die ihnen etwas kostenlose Zerstreuung oder Hoffnung versprechen, wie die Fährticketschalter oder das kleine Warenlager von Glocal Roots, wo Hygieneartikel, bestimmte Lebensmittel und Decken kostenlos ausgegeben werden und wo man für ein, zwei Stunden bei einem Tee ausruhen kann von der Enge des Lagers und der Ablehnung der Umgebung und der quälenden Langeweile.

Am zweiten Abend in Kos, dem 8. Dezember, strahlt ARD das Politmagazin «Monitor» aus, in welchem es um die systematische unmenschliche, brutale und erniedrigende Behandlung von Geflüchteten an anderen EU-Außengrenzen geht, diesmal an der bulgarischen, der kroatischen und der ungarischen. Auch hier, wie auf den griechischen Inseln, werden nach demselben Muster und komplett abgeschirmt von jeder Kontrolle, Interventionsmöglichkeit oder Öffentlichkeit schwerste Menschenrechtsverbrechen begangen. Immer unter den Augen und mit dem Wissen von Frontex oder Frontex mittenmang.

Aber mit diesem Grauen ist seit geraumer Zeit keine kritische Masse mehr hinter dem krisenbedingt gedrosselten Ofen hervorzulocken unter den Bewohner*innen der EU. Proteste und «Leave No One Behind!» war gestern.

Jetzt haben wir wirklich andere Probleme.