Nachricht | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Krieg / Frieden - Osteuropa - Ukraine-Krieg Für den Wiederaufbau braucht die Ukraine eine gerechte Sozialpolitik

Die ukrainische Gesellschaft muss zusammenhalten, doch der Neoliberalismus wird sie weiter spalten

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Freiwillige Helfer*innen beseitigen die Trümmer eines im Krieg zerstörten Hauses in Bucha, Ukraine, September 2022. Foto: IMAGO/Oleksii Chumachenko

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat verheerende Folgen für das gesamte Land. Viele Ukrainer*innen haben ihre Arbeit und ihr Zuhause verloren. Laut einer Umfrage des ukrainischen Meinungsforschungsinstituts Sociological Group «Rating» von September blieben nur 61 Prozent der Ukrainer*innen an ihrem Arbeitsplatz, wovon 36 Prozent in Vollzeit arbeiteten.

Besonders gravierend ist die Lage im Osten des Landes, wo die meisten Kämpfe stattfanden. Die Weltbank schätzte im August 2022, dass 817.000 Wohngebäude beschädigt wurden, 38 Prozent davon irreparabel. Anders gesagt wurde seit Kriegsbeginn Millionen von Ukrainer*innen das schützende Dach über dem Kopf genommen.

Natalia Lomonosova ist Soziologin und Analystin der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik beim ukrainischen Think Tank Cedos.

Übersetzung ins Englische von Yulia Kulish und ins Deutsche von Manuel Auer. Eine frühere Fassung dieses Artikels erschien bei Commons, einem Partner der Rosa-Luxemburg-Stiftung in der Ukraine.

Der Krieg hat einen großen Teil der schutzbedürftigsten Bürger*innen an die Grenzen ihrer Existenz getrieben. Zudem wurde die soziale Infrastruktur in der Ukraine weitreichend beschädigt oder zerstört. Die Weltbank schätzt die Schäden auf 160 Mio. Dollar und das Arbeitspensum sozialer Einrichtungen ist durch die Ströme von Vertriebenen enorm gestiegen. Das System der sozialen Sicherung ist insbesondere angesichts sinkender Staatseinnahmen überlastet. Vor diesem Hintergrund muss das System der sozialen Sicherung Priorität haben, gerade in Hinblick darauf, dass das politische Establishment in Frage stellt, ob es überhaupt weiter existieren sollte.

Pläne zur «Reform», d. h. Neoliberalisierung des ukrainischen Sozialstaats gab es schon vor dem Krieg, doch nun versuchten einige Akteure, den durch die russische Invasion ausgelösten Ausnahmezustand zu nutzen, um den Sozialstaat weiter zu untergraben. Es gilt, sich dieser neoliberalen Vision für die Zukunft der Ukraine zu widersetzen, da sie eben jene Grundlagen angreift, die für einen Wiederaufbau nach dem Krieg erforderlich sind.

Der Sozialstaat und der Krieg

Das ukrainische System der sozialen Sicherung war nicht auf die Herausforderungen durch eine vollumfängliche Invasion vorbereitet. Im Juli wurde bei der Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine in Lugano ein Wiederaufbauplan für das soziale Sicherungssystem vorgestellt, in dem dessen veraltete Strukturen und «Sowjet-Charakter» kritisiert werden. Zudem heißt es, der Staat mache den Bürger*innen gegenüber vollmundige Versprechen, die er in der Praxis jedoch nicht erfüllen könne.

Zweifellos ist es so, dass jede Regierung die Schuld auf die vorherige schiebt. Doch warum sollte man dazu in die fernen Zeiten der Sowjetunion zurückgehen? Auch in den 30 Jahren der ukrainischen Unabhängigkeit kam es zu Kürzungen sozialer Ausgaben, mehr Privatisierung und einem Rückgang öffentlicher sozialer Infrastruktur – und diesen Kurs will die Regierung offensichtlich auch beibehalten.

Seit Kriegsbeginn hat die Regierung mehrere Maßnahmen zur Sicherung des Wohles der Bevölkerung angekündigt und umgesetzt. Viele davon beschnitten jedoch die Rechte von Arbeitnehmer*innen sowie Gewerkschaften und führten strengere Beschränkungen für das Arbeitslosengeld ein. So werden registrierte Arbeitslose, die nicht innerhalb von 30 Tagen Arbeit finden, für «Gemeinschaftsdienste» wie Reparatur- und Wiederaufbauarbeiten und Straßenräumungen eingesetzt, wofür sie nicht unter Mindestlohn bezahlt werden dürfen. Wer diesen Gemeinschaftsdienst jedoch verweigert, verliert den Arbeitslosenstatuts und die damit verbundenen Leistungen.

Des Weiteren kündigte die Regierung die Ausarbeitung eines Sozialgesetzes an, das «ein Inventar an Informationen über die bestehenden Verpflichtungen des Staates für Sozialleistungen» aufstellen und an die finanziellen Möglichkeiten des Staates angleichen soll. Zudem wurde mit dem Gesetz 2620 der ukrainische Sozialversicherungsfonds aufgelöst. Dessen Mittel sowie ein Teil der Aufgaben wurden an den Rentenfonds übertragen, während Ausgaben und Personal deutlich gekürzt wurden – dies sorgte in der ukrainischen Gesellschaft für einen öffentlichen Aufschrei.

Ein Großteil der Maßnahmen, welche die Regierung während des Kriegs ergriffen und im Entwurf für den Wiederaufbauplan vorgeschlagen hat, hängen nur entfernt mit dem Krieg zusammen. Sie stehen vielmehr für die Fortführung des Ansatzes für die Sozialpolitik (und damit verwandte Bereiche wie das Gesundheitswesen), der in der Ukraine schon seit einiger Zeit existiert. In den letzten Jahrzehnten wurde diese politische Richtung als Neoliberalisierung bezeichnet. Wer die Lage in der Ukraine verstehen möchte, sollte sich aber nicht mit der Ideologie an sich sondern mit den spezifischen Maßnahmen befassen.

Der Erzfeind des Neoliberalismus

Was gemeinhin als Wohlfahrtsstaat bezeichnet wird, ist ein alter Feind des Neoliberalismus. Die gängige Erzählung lautet, dass die Sozialpolitiken in Westeuropa in der Nachkriegszeit einen Aufschwung erlebten. In den 1970er-Jahren kam es zu einem Wandel, als die Ölkrise und die Rezession für neoliberale Denker Anlass zur Behauptung waren, übermäßige Ausgaben für Sozialpolitik verlangsamten das Wirtschaftswachstum.

Die ukrainische Sozialpolitik hat andere Wurzeln als jene des Westens. Dennoch stieg das Land in den 1990er-Jahren ebenfalls auf den Zug der Marktwirtschaft auf. Die Rezession im ersten Jahrzehnt der Unabhängigkeit und die vollumfängliche Privatisierung führten unmittelbar zu einer Kürzung der Sozialausgaben und einer Verschlechterung der sozialen Infrastruktur, besonders im ländlichen Raum. Als Beispiel kann die Zahl der Kindergärten angeführt werden, die in den ersten zwei Jahrzehnten der Unabhängigkeit um nahezu zwei Drittel zurückging.

Zugleich sprachen sich internationale Geld- und Kreditgeber für eine Senkung der Sozialausgaben bzw. für «effektive Ressourcennutzung» aus, wie es oft so schön heißt. Die Globalisierung und die Wünsche der ausländischen Investoren wurden zu einem eigenen Anreiz für systematische Versuche, die Arbeitnehmer*innenrechte und sozialen Garantien einzuschränken und die Steuern für Unternehmen attraktiver zu gestalten, um das Kapital zu binden.

Almosen statt Universalität

Wie zeigt sich der Neoliberalismus im ukrainischen Sozialwesen in der Praxis? Es gibt Bestrebungen, um einerseits die Sozialausgaben zu verringern und andererseits das Wesen der Sozialpolitik an sich zu verändern.

Wie lassen sich Ausgaben kürzen? Um Leistungen zu erhalten, müssen die Bürger*innen nachweisen, dass sie hilfsbedürftig sind, indem sie ihr Einkommen offenlegen. Die Höchstgrenze für das Einkommen liegt jedoch sehr niedrig.

Sehen wir uns als Beispiel an, welche Bedingungen eine Familie erfüllen muss, damit sie als Familie mit niedrigem Einkommen eingestuft wird und Anspruch auf Leistungen hat. Stand November 2022 darf eine Familie aus zwei Erwachsenen und einem Kind unter sechs Jahren in den letzten sechs Monaten ein Einkommen von höchstens 29.274 Hrywnja (ca. 4.912 Hrywnja oder 125 Euro im Monat) erhalten haben. Neben dem Einkommen entscheiden weitere Faktoren über den Leistungsanspruch. So können Leistungen verweigert werden, wenn einer der beiden Erwachsenen in den letzten drei Monaten nicht angestellt war, nicht gearbeitet oder in Vollzeit studiert hat. Zudem sind die Kontrollen sehr streng, damit niemand unberechtigt Leistungen erhält.

Auch Kürzungen laufender Sozialprogramme stehen auf der Agenda. Die Regierung versucht, die bestehenden sozialen Pflichten des Staates zu reduzieren, um alles zu streichen, was «nicht im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten ist». Zugleich kündigte sie an, «das umfassende System von Sozialleistungen in ein universelles System der Sozialhilfe umzuwandeln», das sich an die Ärmsten richtet. Damit würden beispielsweise alleinerziehende Mütter nicht mehr finanziell unterstützt. Nur wer die Einkommensbedingungen erfüllt – d. h. die Ärmsten – erhält Hilfen. Durch diese Reformen werden die ukrainischen Bürger*innen Schritt für Schritt ihrer universellen Rechte auf Sozialhilfe beraubt.

Um das Wesen der Sozialpolitik in der Ukraine an sich zu verändern, gibt es Bestrebungen, soziale Einrichtungen und deren Finanzierung zu ersetzen. So wurde 2019 eine Reform beschlossen, um einen Markt für soziale Dienste einzurichten, auf dem private Einrichtungen als Dienstleister mit staatlichen und kommunalen Einrichtungen konkurrieren. Die Kosten für diese Dienste trägt jedoch weiterhin der Staat, nicht die Einrichtungen. Hier findet sich dieselbe Logik wie bei der Reform des Gesundheitswesens: Das Geld kommt mit dem Patienten und so wurden Krankenhäuser zu Unternehmen, die Geld verdienen müssen, um zu überleben.

Dieselben Vorschläge hört man auch für das Rentensystem. Der Entwurf für den Wiederaufbauplan und der Sonderausschuss des ukrainischen Parlaments, der Werchowna Rada, stellen eine Reform des Rentensystems als «objektiv notwendig» dar. Dabei gab es vor dem Krieg keine Eile, diese Pläne umzusetzen. Ziel ist die Abschaffung des solidarischen Rentensystems zugunsten eines gemischten Systems mit individuellen Rentenversicherungen und einer teilweisen Privatisierung der Altersvorsorge.

Im Wesentlichen zielen die Reformen der ukrainischen Sozialpolitik darauf ab, die Mittel insgesamt zu kürzen und alles zu einer Einnahmequelle zu machen. Während es heißt, es gebe kein Geld, um das System der sozialen Sicherheit zu erhalten, spricht niemand davon, die Steuern für Großkonzerne und Unternehmen zu erhöhen oder progressivere Steuersätze einzuführen. Stattdessen hat der Staat während des Krieges insbesondere bei den Steuern Zugeständnisse an die Unternehmen gemacht. Gleichzeitig bleibt die Steuerlast für die Arbeitnehmer*innen unverändert. Die soziale Reproduktion der Arbeitskräfte, welche die Unternehmen brauchen, beruht zunehmend auf den Arbeitskräften selbst.

Solidarität oder Zersplitterung?

Welche Gefahren birgt diese Art von Politik? In den meisten Ländern mit einer gut entwickelten Sozialpolitik variieren die Leistungen je nach Einkommen der Empfänger*innen. Die Frage ist jedoch, welche Menge an öffentlichen Gütern (oder Leistungen) allen Bürger*innen als universelles Recht zusteht, unabhängig von ihrem Einkommen. Hierbei geht es beispielsweise um den freien Zugang zu Kindergärten, Schulen, Gesundheitsversorgung, Kindergeld usw.

Je weniger universellen Charakter die staatlichen Hilfen haben, desto mehr helfen sie nur den Ärmsten und desto weniger Unterstützung finden sie üblicherweise unter den Steuerzahler*innen. Wenn nur die Ärmsten Anspruch auf Zahlungen haben, ist es für Durchschnittsbürger*innen schwierig, Hilfe zu erhalten, selbst wenn sie sich in einer Notlage befinden. Warum sollten sie also Sozialabgaben zahlen, wenn sie nicht garantiert etwas im Gegenzug bekommen? Die Bereitschaft, in etwas zu investieren, sinkt, wenn man keinen ersichtlichen Nutzen davon hat. Daher werden die Sozialausgaben in Zukunft noch weiter zurückgehen und damit auch die Anzahl an Hilfsprogrammen.

Des Weiteren führt ein solcher Ansatz dazu, dass die Leistungsempfänger*innen als gesellschaftliche Außenseiter*innen stigmatisiert werden. Der enorme Druck, so schnell wie möglich wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen, kann bedeuten, dass sie auch einen Job mit schlechten Arbeitsbedingungen annehmen und macht sie noch unsicherer – in diesem Fall am Arbeitsplatz. Menschen, die aus verschiedenen Gründen nicht auf den Arbeitsmarkt können, werden als Schmarotzer angesehen, da der Rest der Steuerzahler*innen nichts vom Staat bekommt und sie trotzdem unterstützen muss.

Durch die schrittweise Kürzung staatlicher Mittel kann die Qualität der öffentlichen Güter, die von staatlichen oder kommunalen Einrichtungen bereitgestellt werden, abnehmen. Dadurch nutzen Wohlhabende diese Dienste tendenziell weniger und bevorzugen stattdessen private Schulen, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen usw. Zugleich werden öffentliche Dienstleister und deren Kunden weiter stigmatisiert. Schließlich schwindet die Unterstützung für die Ausgaben für den Sozialstaat, denn wer will schon für etwas bezahlen, dass man nicht nutzt und von geringerer Qualität ist?

Aus politischer Sicht sind diese Umwälzungen im politischen Bewusstsein, bei der soziale Risiken als Antwort auf die Kürzungen der Sozialausgaben individualisiert werden, gefährlich. Die individuelle Altersvorsorge durch private Rentenversicherungen, bei denen das Wohlergehen eines Menschen im Wesentlichen davon abhängt, wie erfolgreich seine Aktien sich entwickeln, veranschaulicht diesen Trend. Im Ergebnis rückt der Mensch der Wirtschaft näher und sieht sich als Investor*in statt als Bürger*in. Das untergräbt das Gefühl der intergenerationellen Unterstützung und führt zur Individualisierung des sozialen Bewusstseins: Jede und jeder ist auf sich allein gestellt und der Staat hilft nur im absoluten Notfall.

Wollen die Ukrainer*innen eine solche Gesellschaft, insbesondere nach dem Krieg? Warum sollten sie sich in einer Zeit nie dagewesenen nationalen Zusammenhalts für mehr Individualisierung und Zersplitterung entscheiden?

Wie sähe eine solidarische Sozialpolitik aus?

Der Krieg hat alle in der Ukraine getroffen, doch manche haben unverhältnismäßig viel verloren – oft sind es jene, die es bereits zuvor schon schwer hatten. Ihre Probleme haben sich überlagert und damit verschärft und werden auch nach dem Krieg nicht verschwinden. Wie kann die Ukraine eine Gesellschaft schaffen, in der alle einander beistehen?

Eine gerechte Lösung wäre, die Einkommenssteuer zu erhöhen und Vermögen umzuverteilen, um großzügige Sozialpolitiken und universelle Sozialhilfe umzusetzen. Nur so lassen sich wirksam jene unterstützen, die ihr Zuhause oder ihre Arbeit verloren haben. Wir müssen nicht nur der Armee des Feindes solidarisch entgegentreten, sondern auch untereinander geeint sein. Wenn jede und jede nur an ihr eigenes Überleben denkt, wird sich unsere kollektive Stärke erschöpfen.

Es geht dabei nicht nur darum, wie man sich die ukrainische Gesellschaft der Zukunft vorstellt. Ein solidarisches soziales System hat auch aus pragmatischer Sicht Vorteile. Gleichberechtige Gesellschaften mit großzügigen Sozialpolitiken, in denen alle zum Gemeinwohl beitragen und dafür Leistungen erhalten, sind glücklicher, gesünder und stabiler. Nach dem Krieg können sich die Ukrainer*innen keine politische Instabilität im eigenen Land leisten und eine Wirtschaftskrise birgt die Gefahr einer weiteren Spaltung der Gesellschaft. Dasselbe gilt für die Wiedereingliederung der momentan besetzten Gebiete und vor allem der seit 2014 besetzten Gebiete. Eine großzügige, universelle Sozialpolitik kann eines der Instrumente sein, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken und jene zu integrieren, die jahrelang in abgeschnittenen Regionen gelebt haben.

Eine Sozialpolitik, die nur den Ärmsten hilft, ist den Herausforderungen des Wiederaufbaus nach dem Krieg nicht gewachsen. Sie würde zu wachsender Ungleichheit und einer Zersplitterung des Zusammenhalts in der Ukraine führen. Wir brauchen eine universelle, solidarische Sozialpolitik, die alle Gesellschaftsgruppen abdeckt und allen ein menschenwürdiges Existenzminimum garantiert. So hätten die Ukrainer*innen das Gefühl, zu einem solidarischen Netzwerk zu gehören, auf das sie sich verlassen können.