Nachricht | Krieg / Frieden - Libanon / Syrien / Irak - Palästina / Jordanien Die Bombardierung Yarmouks und ihre Konsequenzen

Zur Situation palästinensischer Flüchtlinge zehn Jahre nach dem Angriff auf die «Hauptstadt der palästinensischen Diaspora»

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Bombardierung Yarmouks durch syrische und russische Kampfjets 2018. Diese letzte Kampagne führte zur fast vollständigen Zerstörung Yarmouks.
Bombardierung Yarmouks durch syrische und russische Kampfjets 2018. Diese letzte Kampagne führte zur fast vollständigen Zerstörung Yarmouks. Foto: Abdallah Alkhatib

Ein Wendepunkt für Palästinenser*innen

Es ist Dezember 2012, die syrische Revolution versucht bereits seit anderthalb Jahren, das Assad- Regime zu stürzen. Yarmouk, ein Bezirk im Süden der syrischen Hauptstadt Damaskus, der als «palästinensische Hauptstadt in der Diaspora» bekannt ist, ist für Zehntausende syrische Binnenflüchtlinge und Aktivist*innen aus allen Landesteilen zu einer relativ sicheren Zufluchtsstätte geworden.

Am 16. Dezember bombardiert das Regime mehrere Zufluchtsstätten[1] in Yarmouk mit seinen russischen MiG-Kampfjets. Die Angst, dass Yarmouk nun Teil des syrischen Kriegsgeschehens sein würde, führt zu einer Massenflucht, die zu dem Zeitpunkt so eindringlich in das Gedächtnis von Yarmouks fliehender Bevölkerung eingeht, dass es nun ein Vor und Nach der MiG-Bombardierung gibt. Viele beschreiben es als eine zweite Nakba, die Vertreibung der Palästinenser*innen aus ihrer Heimat 1948. Es ist der Beginn der Zerstörung der palästinensischen Heimat in Syrien und der erneuten und anhaltenden Flucht seiner Bewohner*innen in der dritten und vierten Generation nach der Nakba. Auch zehn Jahre danach hält diese prekäre Situation an – ohne Eingreifen der UNRWA, des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge.

Ansar Jasim hat in Marburg und London Politik und Wirtschaft Westasiens und Nordafrikas studiert. Sie beschäftigt sich mit zivilgesellschaftlicher Solidarität aus theoretischer und praktischer Perspektive mit besonderem Fokus auf Syrien und Irak.

Abdallah Alkhatib ist ein palästinensisch-syrischer Menschenrechtsaktivist aus Yarmouk, Damaskus. Seit 2011 war er Teil der friedlichen Bewegung gegen das Assad-Regime. 2017 gründete er mit anderen Aktivist*innen den literarischen Blog «sard.network».

Die «Schutzlücke»

Die palästinensische Erfahrung in Syrien ist (nicht nur) nach 2011 von sich überschneidenden Fluchterfahrungen geprägt, die durch eine ungleiche Rechtsordnung strukturiert sind. Diese hat ihre historischen Ursachen. Anders als der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, UNHCR, verfügt die UNRWA über kein Schutzmandat für Palästina-Flüchtlinge. Gleichzeitig fallen diese nicht in den Verantwortungsbereich des UNHCR, der syrischen Flüchtenden Schutz- und Hilfsdienstleistungen auf der Flucht anbieten kann.

Dieses politische und rechtliche System ist Teil der ungelösten Folgen der Nakba: Im September 1948 erließen die Vereinten Nationen die Resolution 194, die das Recht palästinensischer Flüchtlinge auf Rückkehr in ihre Häuser und auf Entschädigung für ihr verlorenes oder beschädigtes Eigentum anerkennt. Da diese von Israel aber nicht anerkannt wurde, wurde die Schlichtungskommission der Vereinten Nationen für Palästina (UNCCP) einberufen. Die UNCCP hatte ein Schutzmandat in Bezug auf palästinensische Flüchtlinge und sollte die politische Vermittlung zur Lösung des Konflikts zwischen der israelischen und palästinensischen Seite und der daraus resultierenden Flüchtlingskrise fortsetzen. Die UNRWA wurde ein Jahr später, im Dezember 1949 gegründet, um den palästinensischen Flüchtlingen bei ihren unmittelbaren Bedürfnissen zu helfen, während die UNCCP weiterhin nach dauerhaften Lösungen für ihre Not suchen soll. Erst 1950 wird der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, UNHCR, eingerichtet. Da Palästina-Flüchtlinge bereits vom Schutz durch die UNCCP profitierten und dieser stärker war, wurden sie nicht in das Mandat des UNHCR einbezogen. Allerdings wurde die Arbeit des UNCCP in den 1950er Jahren eingestellt und die palästinensischen Flüchtlinge waren deren Schutzmandat somit entzogen. Dies führte zum Beispiel dazu, dass im Zuge ihrer Flucht, Palästinenser*innen, die nach April 2012 von Syrien nach Jordanien flohen, dort inhaftiert wurden.

Die verbliebenen Bewohner*innen Yarmouks wurden im Frühjahr 2018 mit Bussen nach Nordsyrien deportiert, bei der Überquerung der Grenze zwischen Regime und Opposition mussten sie zunächst fünf Tage im Freien ausharren. Foto: Hamada Hamid

Mittäterschaft der UNRWA?

Die komplizierte Geschichte zwischen der UNRWA und den syrischen Regimen geht aus den Jahresberichten der UNRWA an die UN-Vollversammlung hervor. Einer der ersten Jahresberichte beschreibt, wie das Prä-Baath-Regime die UNRWA als quasi-staatliche Institution behandelte, als sei sie gegenüber dem Regime und nicht gegenüber der UN verantwortlich. Das syrische Regime war und ist extrem misstrauisch gegenüber unabhängigen Machtzentren, deshalb fordert es massiv Mitsprache bei der Beschäftigung von Mitarbeitenden der UNRWA, verbannt sie des Landes bei Missfallen oder verweigert ihnen die Einreise. Das Hauptinteresse der UNRWA sei bereits vor 2011, so Politikwissenschaftler Benjamin Schiff, «die Aufrechterhaltung des Betriebs»[2] und somit würde die Agentur eben Kompromisse mit den syrischen Behörden eingehen: Staatliche Kontrolle hemme zwar die Agentur, stabilisiere aber ihr operatives Umfeld. Selbst für vor 2011 mag das nur teilweise wahr sein, für post-2011 ist es definitiv falsch, wie der Fall Yarmouk zeigt.

Während der Militärbelagerung von Yarmouk spielte die UNRWA eine zweifelhafte Rolle. Wenige Monate nach der Massenflucht aus Yarmouk ab Juli 2013 blieben die über 18.000 in Yarmouk verbleibenden Personen Monate komplett ohne Zugang zu Lebensmitteln. Das Überleben der Bevölkerung wurde durch die selbstorganisierte Zivilgesellschaft in Yarmouk selbst gesichert. Als die UNWRA schließlich Essensverteilungen am geographischen Rande der Militärbelagerung organisierte, kam es zu regelmäßigen Verhaftungen und Erschießungen durch Schafschützen, weswegen die Verteilungen immer wieder abgebrochen werden mussten.

Im Frühjahr 2018 wurde dann die verbleibende Bevölkerung Yarmouks verhaftet oder nach Nordsyrien deportiert. Heute leben circa 1500 palästinensische Familien in Nordsyrien, überwiegend in Flüchtlingslagern in Idlib, Afrin und dem nördlichen Umland von Aleppo.

 
Zum zweiten Mal Flüchtling: das neue Flüchtlingslager Deir Ballout für palästinensische Flüchtlinge in Nordsyrien Foto: Hamada Hamid

Die UNRWA arbeitet allerdings nicht in Gebieten, die nicht unter Kontrolle des syrischen Regimes stehen (wie dem Norden Syriens), da diese nicht sicher seien und «schwer zu erreichen», so die London-ansässige palästinensische Menschenrechtsgruppe «Action Group for Palestinians of Syria». In einer Erklärung vom August 2022 streitet die UNRWA jegliche Verantwortung ab: Die Bedürfnisse von Palästinenser*innen in Nordsyrien würden seit 2019 durch die Cross-border-Hilfen der UN gedeckt, so die Antwort auf die Forderung der Bewohner*innen von Deir Ballout, dass die UNRWA mit lokalen humanitären Gruppen zusammenarbeiten solle. Immer wieder weisen die Bewohner*innen in ihren Demonstrationen und Protestbriefen aber darauf hin, dass das UNRWA-Mandat nun einmal breiter sei: Es gehe nicht nur um die Deckung der Grundbedürfnisse. Zur Arbeit der UNRWA gehöre auch, neugeborene palästinensische Flüchtlinge auf den Familienregistrierungskarten zu registrieren. Die palästinensischen Familien in Nordsyrien protestieren dafür, dass die UNRWA diese Registrierung wieder aufnimmt. Die UNRWA führt diese Registrierung ursprünglich für die Koordination ihrer humanitären Arbeit durch. Für Palästinenser*innen kommt ihr damit aber gleichzeitig das inoffizielle Mandat zu, sie als palästinensische Flüchtlinge dokumentiert zu haben, was für sie das mit der UN-Resolution 194 festgehaltene Recht auf Rückkehr besiegelt.


[1] Es wurden zwei Schulen, eine Moschee und weitere zivile Einrichtungen getroffen.

[2] Schiff, Benjamin N. (1995): Refugees unto the third generation. UN aid to Palestinians. Syracuse University Press (Contemporary issues in the Middle East), S. 91 ff.