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«Dieses Gesetz ist mehr eine Chance als eine Garantie» Interview mit Christian Schliemann-Radbruch vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR).

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Seit Januar 2023 gilt in Deutschland das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Es regelt, wie deutsche Unternehmen sicherstellen müssen, dass in ihren globalen Lieferketten sämtliche Menschenrechte eingehalten werden. Das heißt, dass deutsche Unternehmen auch für Menschenrechtsverletzungen, die im Ausland begangen werden, haftbar gemacht werden können.

Was bringt das deutsche Lieferkettengesetz?

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Seit Januar 2023 gilt in Deutschland das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Es regelt, wie deutsche Unternehmen sicherstellen müssen, dass in ihren globalen Lieferketten sämtliche Menschenrechte eingehalten werden. Wie das Gesetz funktioniert, erklärt Christian Schliemann-Radbruch vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR).

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Warum brauchen wir überhaupt ein Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz?

Christian Schliemann-Radbruch vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) berät als Jurist betroffene Arbeitnehmer*innen und arbeitet weltweit mit anderen Initiativen zusammen, um Arbeitnehmer*innen vor Ausbeutung und Menschenrechtsverletzungen zu schützen.

Wir brauchen so ein Lieferketten-Gesetz, weil wir in den letzten Jahrzehnten gesehen haben, dass insbesondere Wirtschaftsakteure in transnationalen Lieferketten zu Menschenrechtsverletzungen beitragen und auch zu Umweltverschmutzung. Wir sehen in vielen Bereichen der Wirtschaft eine Konzentrierung von Wirtschaftsmacht in den Händen einzelner Firmen. Beispiele sind der Pestizid-Bereich, aber auch andere Bereiche, wo nur noch wenige Firmen existieren. Viele davon kommen aus Europa, agieren aber weltweit und tragen dann in anderen Ländern, häufig des Globalen Südens eben zu Menschenrechtsverletzungen bei. Diese Menschenrechtsverletzung einzuhegen bzw. präventive Maßnahmen schon jetzt zu ergreifen, damit sie nicht mehr vorkommen und sollten sie vorkommen, auch dafür zu sorgen, dass Betroffene Zugang zur Abhilfe und Wiedergutmachung haben, dafür sollte dieses Gesetz sorgen.

Was genau regelt das Gesetz?

Im Grunde legt das Gesetz fest, dass alle Firmen, die hier in Deutschland auf eine bestimmte Art einen Sitz haben und mehr als 3000 Arbeitnehmer*innen haben, Sorgfaltspflichten bezüglich der Achtung der Menschenrechte in ihren Lieferketten haben. Im Detail bedeutet das für die Firmen, dass sie bestimmte Prozesse einführen müssen, um dafür zu sorgen, dass keine Menschenrechtsverletzungen passieren. Das beginnt damit, dass sie eine Risikoanalyse machen müssen entlang ihrer Lieferkette. Um zu schauen: Gibt es bestimmte Risiken, dass Menschenrechtsverletzungen passieren? Wenn sie diese identifiziert haben, dann müssen sie überlegen, welche Maßnahmen sie ergreifen können, damit es eben nicht zu Menschenrechtsverletzungen kommt. Und sollten sie feststellen, dass es schon irgendwo zu Verletzungen gekommen ist, müssen sie Abhilfemaßnahmen ergreifen. Über dieses ganze Paket müssen die Unternehmen jährlich berichten, und zwar öffentlich. Das ist erstmal der Grundgedanke dieses Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes.

Gibt es ein konkretes Beispiel, um das zu verdeutlichen?

Nehmen wir eine Firma wie Adidas aus Deutschland, die Zulieferer in verschiedenen Ländern dieser Welt haben. Das bedeutet, an vielen Orten gibt es Fabriken, die für Adidas produzieren. Wir wissen, dass in bestimmten Ländern immer wieder Probleme auftauchen mit Arbeitnehmer*innenrechten, in Fabriken, an Produktionsstandorten. Das geht von Gebäudesicherheit über Brandschutz, aber eben auch um elementare Dinge wie Sicherheit am Arbeitsplatz, keine Kinderarbeit, keine Zwangsarbeit, Vereinigungsfreiheit, keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Und all diese Dinge passieren. Und mit dem neuen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz hat Adidas jetzt die Pflicht, in der Lieferkette zu prüfen: Wo bestehen solche Risiken? Und wenn Sie diese Risiken erkennen, müssen Sie Maßnahmen ergreifen, um das zu verhindern.

Wer kontrolliert denn, ob die Unternehmen diese Vorgaben auch einhalten?

Die Firmen müssen unter dem Lieferketten-Gesetz ja Berichte einreichen darüber, wie sie das Gesetz in ihren eigenen Lieferketten umsetzen. Diese Berichte werden dann von einer Behörde in Deutschland geprüft, im BAFA (Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle). Und die können sich dann angucken, ob die Berichte ausreichend sind und ob auch tatsächlich die Maßnahmen, die beschrieben werden, ergriffen wurden, um Risiken vorzubeugen oder um Verletzungen abzuhelfen. Und ob sie angemessen sind. Sollte dem nicht der Fall sein, hat das BAFA die Möglichkeit, Bußgelder gegen die Firmen zu verhängen. Und das Gesetz sieht weitere Nebensanktionen vor, mit denen ein Unternehmen belegt werden kann, wenn es diese Vorschriften aus dem Gesetz nicht einhält. Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit, dass auch Betroffene selber bei dem Unternehmen eine Beschwerde einreichen oder Informationen einreichen zu Missständen, die in der Lieferkette des Unternehmens auftauchen. Und dann ist das Unternehmen angehalten, diese Informationen zu prüfen und gegebenenfalls Maßnahmen zu ergreifen, die notwendig sind, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Sollten die Betroffenen dann der Meinung sein, dass das Unternehmen nicht genug tut, haben sie auch selber die Möglichkeit, das BAFA anzurufen und die Behörde aufzufordern, jetzt aktiv zu werden, um das Unternehmen dazu zu bewegen, die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen.

Auf internationaler Ebene gelten die United Nations Guiding Principles on Business and Human Rights (UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte) als Rahmenwerk zu Wirtschaft und Menschenrechten. Durch das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz wurde dieser internationale Standard, der nicht rechtlich bindend ist, in ein nationales Gesetz gegossen, an das sich alle deutschen Unternehmen halten müssen. Das Gesetz sieht auch vor, dass die Mutterfirma aus Deutschland darauf einwirken muss, dass ihre Zulieferer dieses Gesetz kennen und dafür sorgen, dass die jeweiligen Arbeitnehmer*innen vor Ort wissen, dass es ein solches Gesetz gibt und wissen, welche Beschwerdemöglichkeiten bei der Mutterfirma oder der zu beliefernden Firma in Deutschland bestehen.

Wovon hängt ab, ob das Gesetz wirklich erfolgreich Menschenrechtsverletzungen verhindern kann?

Wir werden sehen, welche Effekte dieses Gesetz in Realität hat, sobald wir die ersten Berichte haben und sehen, wie die Unternehmen tatsächlich ihre Sorgfaltspflichten umsetzen. Wir laufen Gefahr, dass Unternehmen einen «Tick-the Box-Ansatz» (Begriff für eine Unternehmenskultur, bei der die Konzentration auf bürokratische Regeln und Vorschriften im Vordergrund steht, Anmerkung der Red.) verfolgen, also sich einen Kriterienkatalog erstellen, den sie mit bestimmten Fragen abhaken. Und damit sind sie ihrer Sorgfaltspflicht nachgekommen. Dann wird ein Bericht darüber veröffentlicht, der ist relativ abstrakt. Man erfährt nichts über Einzelfälle. Und dann haben wir an der Grundsituation nicht so sehr viel geändert. Das bedeutet, dieses Gesetz ist mehr eine Chance, als eine Garantie dafür, dass wirklich die Einzelperson im Globalen Süden jetzt die Möglichkeit hat, an ihrer Situation etwas zu ändern. Wir brauchen weiterhin eine gemeinsame Anstrengung von Zivilgesellschaft, Gewerkschaften oder Unterstützer-Organisationen im Allgemeinen, die in Zusammenarbeit mit betroffenen Gemeinden oder Einzelpersonen oder NGOs aus dem Globalen Süden die Missstände aufdecken und dann auf die Unternehmen einwirken bzw. die deutsche Behörde anrufen, um zu einer Änderung des Unternehmensverhaltens beizutragen.


Das heißt aber, das Gesetz hat den Druck auf die Unternehmen zumindest erhöht?

Ja, definitiv. Das Gesetz hat die Möglichkeiten erweitert, mit denen man jetzt Druck auf die Unternehmen ausüben kann. Sie haben eine gesetzlich geregelte Pflicht, was sie zu tun haben. Und wenn man Informationen zusammenstellen kann, die aufzeigen, dass sie das nicht tun, hat man eine zusätzliche Instanz, die sogar mit Sanktionen drohen kann, die auch die Möglichkeit hat, tatsächlich zusätzliche Informationen von den Unternehmen zu beschaffen und auch bestimmte Maßnahmen direkt anzuordnen. Inwieweit das diese deutsche Behörde dann tun wird und in welchen Fällen, bleibt abzusehen. Wir haben ja noch keinen Einzelfall, der jetzt umgesetzt wurde. Insofern werden 2023 und wahrscheinlich auch noch 2024 zwei spannende Jahre in Bezug darauf, wie effektiv das Gesetz tatsächlich wirkt.

Welche Rolle nimmt das ECCHR hierbei ein?

Das ECCHR versucht mit juristischen Mitteln den Menschenrechten weltweit zur Durchsetzung zu verhelfen. Wir haben ein Programm im Bereich Wirtschaft und Menschenrechte und in dem arbeiten wir seit unserer Entstehung zu Menschenrechtsverletzungen, die durch Wirtschaftsakteure begangen werden, und zwar in transnationalen Konstellationen. Also eigentlich genau die Fälle, die auch dieses Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz anvisiert.  In der Regel versuchen wir mit Betroffenen aus dem Ausland zu prüfen, ob in ihren Zielen juristische Mittel etwas beitragen können. Sollte das der Fall sein, prüfen wir gemeinsam, auf welcher Ebene welches juristische Mittel Sinn machen könnte, um Firmen dazu zu bewegen, ihre Verhalten zu ändern. Oder Wiedergutmachung zu gewährleisten. Das haben wir in der Vergangenheit versucht, auf der internationalen Ebene durch Institutionen der Vereinten Nationen beispielsweise, aber auch durch die Anrufung von Gerichten oder durch sonstige Soft-Law-Instrumente und jetzt mit dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz haben wir neue Optionen.

Wie zufrieden seid ihr mit der Ausgestaltung des Gesetzes?

Das Gesetz weist schon ein paar Schwachstellen auf, die auch relativ einhellig zumindest aus der Zivilgesellschaft kritisiert werden. Zum einen herrscht große Kritik an der Definition der Lieferkette. Auf der internationalen Ebene wird mit Wertschöpfungsketten als Begriff operiert, das heißt, es geht nicht nur darum, ob ein Zuliefererbetrieb an eine deutsche Firma liefert. Es geht auch darum, was passiert im sogenannten Downstream mit den Produkten, die deutsche Firmen verkaufen? Es gibt gefährliche Produkte wie beispielsweise Medikamente oder Pestizide, bei denen man auch die Nutzung anschauen muss, weil häufig dort die Menschenrechtsverletzungen auftreten, und da muss man schauen, ob die vom deutschen Lieferkettengesetz erfasst sind. Es ist immer noch eine offene Debatte, mit einer relativ starken Tendenz dahin, dass zumindest die deutsche Behörde das Gesetz erst mal so auslegen wird, dass nur sogenannte Upstream-Tätigkeiten, also die Zulieferung, erfasst werden.

Zweiter großer Kritikpunkt ist, dass wir zwar die verwaltungsrechtliche Durchsetzungsmöglichkeit mit der Behörde haben, es fehlt aber eine zivilrechtliche Haftung. Und diese zivilrechtliche Haftung war schon immer eine Kernforderung aus der Zivilgesellschaft, weil eben gerade die zivilrechtliche Haftung für die Betroffenen von großer Relevanz ist.

Ein weiterer Kritikpunkt besteht in der Erfassung von Umweltbelangen. Die Umwelt ist bis zu einem gewissen Grad jetzt auch in diesem Gesetz drin. Das heißt, Unternehmen haben bestimmte Pflichten, nicht zu Umweltverschmutzung und -zerstörung beizutragen. Aber bei weitem nicht in dem Maße, wie sich insbesondere Umweltverbände das gewünscht haben. Bezüge zur Klimakrise und zur Vorbeugung einer weiteren Verschärfung der Krise sieht dieses Gesetz auch nicht explizit vor.

Bringt das Gesetz auch mehr Transparenz für Verbraucher*innen, die verantwortungsbewusst einkaufen möchten?

Das Lieferkettengesetz kann als Nebeneffekt durchaus haben, dass Verbraucher*innen mehr Informationen darüber haben, wie bestimmte Firmen ihren Sorgfaltspflichten nachkommen. Nach unserem Dafürhalten soll dieses Gesetz aber gerade etwas Anderes ändern. Es soll dazu beitragen, dass systemisch die Unternehmen dazu angehalten werden, ihr Verhalten zu ändern und nicht die Last der negativen Auswirkungen des globalen Kapitalismus auf die Schultern der Verbraucher*innen gelegt wird.

Bisher regelt in Europa jedes Land den Umgang mit Menschenrechten in Lieferketten individuell. Um ein einheitlicheres Vorgehen zu gewährleisten, arbeitet die EU an einem europäischen Lieferkettengesetz. Was versprecht ihr euch von diesem Prozess?

Der Prozess ist mittendrin und da stellen sich ähnliche Fragen, wie wir sie auch in Deutschland gesehen haben während des Gesetzgebungsprozesses. Wir haben die politischen Institutionen, die selber Vorschläge machen. Wir haben eine Zivilgesellschaft, die bestimmte Forderungen an den EU-Gesetzgebungsakt hat. Und wir haben natürlich Wirtschaftsverbände, die ihre eigene Perspektive auf diesen Gesetzgebungsprozess haben. Jetzt wird versucht, dieses Kräfteverhältnis in Einklang zu bringen. Aus der Perspektive der Zivilgesellschaft würden wir natürlich gerne in Europa all die Kritikpunkte angegangen sehen, die wir für das deutsche Gesetz schon etabliert haben:

Die Aufnahme der zivilrechtlichen Haftung, um Rechtssicherheit für alle zu haben und auch die Möglichkeit für Betroffene aus dem Ausland, europäische Gerichte anzurufen, weil diese Möglichkeit ist bislang zu wenig ausgeprägt und das behindert die Rechtsdurchsetzung. Wir haben ein globales Wirtschaftsgebaren, aber wir haben keine globale Abhilfe durch Recht und Gerichte. Das wäre schön, wenn sich das ändern würde auf der EU-Ebene.

Zweiter Punkt ist die Ausweitung des Lieferkettenbegriffes, wie er im deutschen Gesetz verwendet wird, auf Wertschöpfungsketten, um alle Formen des Wirtschaftens zu erfassen, von denen wir faktisch wissen, dass sie zu Menschenrechtsverletzungen und insbesondere Umweltverschmutzung führen. Und wir fordern eine klare Integration der Betroffenen selber, am besten schon im Gesetzgebungsprozess und im Sinne der Rechte, die erfasst werden, welche die Unternehmen zu achten haben. Da gilt es beispielsweise auch kollektive Rechte indigener Völker aufzunehmen, die zum Beispiel im deutschen Gesetz nur ganz beschränkt vorkommen und am Ende auch dafür zu sorgen, dass die Betroffenen bei der Um- und Durchsetzung ihre eigene Rolle haben.