Ein Raunen ging durch die Presse als ver.di im Herbst 2022 die Tarifforderung für die Deutsche Post von 15 Prozent verkündete und die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes (ver.di, der Beamtenbund dbb, GEW und GdP) mit einer ebenfalls zweistelligen Lohnforderung nachlegten. 10,5 Prozent für die Laufzeit von einem Jahr bzw. mindestens 500 Euro im Monat für die 2,5 Millionen Beschäftigten bei Bund und Kommunen schienen vielen Beobachter*innen vermessen. Denn die Mindestforderung hat es in sich: Da für eine deutliche Mehrheit der Beschäftigten eine Tariferhöhung von 500 Euro mehr als 10,5 Prozent des Lohnes ausmacht, erhöht der Mindestbetrag das Gesamtvolumen auf erheblich mehr als 10,5 Prozent. Zudem dürfte der Versuch der Gewerkschaften, Härten für die Kolleg*innen mit geringerem Einkommen im öffentlichen Dienst auszugleichen, dem Ansinnen der Arbeitgeber zuwiderlaufen, vor allem die Verdienstmöglichkeiten für Beschäftigte in den hohen Entgeltgruppen anzuheben.
Inflation führt zu harten Einschnitten
Doch so ungewohnt diese Forderungshöhe auch sein mag, so ist sie doch angemessen und hat einen historischen Vorläufer. Über diesen, den Arbeitskampf im öffentlichen Dienst im Jahr 1974, in dem eine Forderung von 15 Prozent und ein Mindestbetrag von 185 DM aufgestellt und eine Erhöhung von 11 Prozent aber mindestens 170 DM durchgesetzt wurde, wird in ver.di daher auch vermehrt gesprochen. Denn damals wie heute galt: Die Inflation führt zu harten Einschnitten für viele Beschäftigte im öffentlichen Dienst. Angesichts der stark gestiegenen Preise von Gütern des täglichen Bedarfs sind Beschäftigte mit niedrigen Einkommen in besonderem Maße von der Teuerung betroffen. Viele Beschäftigte im öffentlichen Dienst stehen vor großen Einschränkungen ihres Lebensstandards.
Durchschnittlich sind die Reallöhne im Jahr 2022 – obwohl einige inflationsbedingt hohe Tarifabschlüsse in das durchschnittliche Lohnniveau eingeflossen sind – um 4,1 Prozent und damit das dritte Jahr in Folge gesunken. Durch die harte Haltung in der Arbeitgeber in der vorangegangen Tarifrunde 2020 konnten die Beschäftigten im öffentlichen Dienst – die in der Corona-Krise oft in erster Front standen – nur mäßige Tarifsteigerungen durchsetzen[1], die mit dem Anziehen der Inflation ab 2021 Reallohnverluste bedeuten. Insgesamt hinkt die Steigerung der Tariflöhne der Beschäftigten im öffentlichen Dienst in den letzten 22 Jahren um 4,1 Prozent dem gesamtgesellschaftlichen Durchschnitt hinterher.
Zweistellige Prozentforderung notwendig
Dies zeigt: Die Sicherung der Reallöhne erfordert eine zweistellige Prozentforderung. Daran ändert auch die steuer- und abgabenfreie Prämie von bis zu 3000 Euro nichts, die wesentlicher Bestandteil der Tarifabschlüsse in der Chemie- sowie der Metall- und Elektroindustrie im Herbst 2022 war. «Wir legen keinen Wert auf die Prämie» wird ver.di-Chef Frank Wernecke zitiert, denn als einmalige Zahlung erhöht sie die Löhne nicht langfristig.
Die bisherigen Verlautbarungen der öffentlichen Arbeitgeber weisen darauf hin, dass sie die Tarifrunde nicht nutzen wollen, um den Einkommensverlust großer Teile der Bevölkerung auszugleichen, den öffentlichen Dienst attraktiver zu machen und die Konjunktur zu stabilisieren. Stattdessen haben die Verhandlungsführerinnen, Innenministerin Nancy Faeser und die Bürgermeisterin von Gelsenkirchen Karin Welge, bisher kein Angebot vorlegt und argumentierten mit klammen öffentlichen Kassen, die deutliche Lohnsteigerungen nicht zuließen.
Nicht nur weil die Inflation ein Plus von einigen Milliarden an Steuereinnahmen in die Regierungskasse spülen wird, ist das ein vorgeschobenes Argument. Denn die Lohnentwicklung im öffentlichen Dienst wird nicht betriebswirtschaftlich, sondern politisch entschieden. Der Staat bestimmt maßgeblich, wie die Löhne und Arbeitsbedingungen derjenigen gestaltet sein sollen, die im Krankenhaus, im Bürgeramt und in der Kita wichtige Dienstleistungen erbringen. Und davon hängt auch ab, ob sich der Berufsanfänger für den Job als Busfahrer im öffentlichen Nahverkehr oder Mechatroniker in der Metallindustrie entscheidet und ob die Ärztin mit einer privaten Praxis für Magenspiegelungen viel Geld verdient oder im Gesundheitsamt ihre Expertise für das Wohl der breiten Bevölkerung einsetzt. Der aktuelle Personalmangel ist eng mit oft unzumutbarer Arbeitsbelastung und – im Vergleich zur Privatwirtschaft – eher mäßigem Lohnniveau verknüpft.
Im öffentlichen Dienst geht es um das Wohl der Bevölkerung – und dabei vor allem derjenigen, die keinen Zugang zu privaten, teureren Dienstleistungen haben. In der Vergangenheit haben sich diverse Bundesregierungen dazu eindeutig positioniert. Sie lamentierten über den trägen öffentlichen Bereich, privatisierten und liberalisierten ihn seit den 1990er Jahren massiv und setzten den mit EU-Austeritätsregeln und Schuldenbremse künstlich geschaffenen Sparzwang über Personalabbau, Arbeitsverdichtung, prekärer Beschäftigung und sinkenden Einkommen durch. Das erreichten sie unter anderem, indem sie die gewerkschaftlich gut organisierten, starken Bereiche aus dem Tarifvertrag herausbrachen und die verbliebenen Reste in einen Tarifvertrag für die Landesbeschäftigten (TVL) und einen Tarifvertrag für die Beschäftigten der Kommunen und des Bundes (TVöD) spalteten. Die Lohnentwicklung im öffentlichen Dienst hinkte seither deutlich gegenüber dem privaten Bereich hinterher und die Lohnspreizung, der Abstand zwischen niedrigen und hohen Einkommen, hat zugenommen. Der Personalabbau im gesamten öffentlichen Dienst war vor allem zwischen 1991 (6,7 Millionen) und 2008 (4,7 Millionen) enorm und steigt seither wieder leicht auf heute 5,1 Millionen an. Zudem sind laut ver.di aktuell 360.000 Stellen und 170.000 Stellen in den Kitas unbesetzt.
Öffentlichen Sektor erneuern
Heute erleben wir die Auswirkungen dieser Zerschlagung, wenn Schulen und Kitas regelmäßig die Kinder in die Familien zurückschicken, weil wegen einiger Krankheitsfälle im Kollegium die Betreuung nicht aufrechterhalten werden kann. Wir stehen stundenlang Schlange in Bürgerämtern, um einen neuen Personalausweis zu beantragen und fürchten uns vor Krankenhausaufenthalten, weil die dünne Personaldecke Leib und Leben gefährdet.
Eine angemessene Entlohnung ist selbstverständlich nur ein Aspekt eines guten und am Bedarf orientierten öffentlichen Dienstes. Notwendig ist in den meisten Bereichen ein Ausbau und dessen Ausfinanzierung. Um ein breites und durchsetzungsfähiges, gesellschaftliches Bündnis für dieses Anliegen zu schmieden, müssen sich soziale Bewegungen, Initiativen, Klimaaktive und DIE LINKE in der Tarifrunde auf Seiten der Beschäftigten positionieren. Denn sie sind – mit ihrer Streikmacht und ihrer besonderen Betroffenheit – der Nukleus jeder Bewegung für die Versorgung der Bevölkerung mit qualitativ hochwertigen öffentlichen Dienstleistungen. Zusätzlich gilt: Je deutlicher ver.di die Forderungen der Beschäftigten politisch als im Allgemeininteresse stehend artikuliert und bereit ist dafür Allianzen einzugehen, desto mehr gesellschaftliche Unterstützung wird organisiert werden können.
Ob die Tarifrunde 2023 in ihrem weiteren Verlauf derjenigen von 1974 ähnelt, muss sich noch erweisen. Damals traten in der Urabstimmung für den erfolgreichen unbefristeten Streik 58.000 Beschäftigte der Gewerkschaft ÖTV – einer der Gründungsgewerkschaften von ver.di – bei und markierten damit einen Rekord in der Geschichte der Gewerkschaft.
Auch heute haben die Beschäftigten, angesichts der drohenden finanziellen Einschnitte auf Grund der Preissteigerungen, ein starkes Anliegen an die Tarifrunde. Offen ist noch, ob die Gewerkschaft es vermag, diese Anliegen in Aktionsbereitschaft zu transformieren. Denn die Zukunft von ver.di in ihrem wichtigsten Bereich, dem sehr uneinheitlichen, zerklüfteten und über die Jahre träge gewordenen öffentlichen Dienst, hängt auch davon ab, ob sie diese Stimmung nutzen kann.
Tatsächlich sind Anzeichen echter Bewegung in dieser Tarifrunde zu spüren: Neben einer mobilisierungsfähigen Forderung wurden über 340.000 Unterschriften in Betrieben und Einrichtungen gesammelt, fanden gegenüber der letzten Tarifrunde ein Vielfaches an Arbeitsstreiks – an denen die gewerkschaftlich Aktiven Streiks und Aktionen vorbereiten können – statt und es sind große Warnstreiks angesetzt. Diese Tarifkampagne zeigt Ansätze einer Erneuerung des in großen Teilen brachliegenden, demoralisierten öffentlichen Sektors. Auch damit diese ersten Schritte in einer wirklichen Revitalisierung der Gewerkschaftsmacht in der früheren Leitbranche öffentlicher Dienst münden, muss diese Tarifrunde gut ausgehen.
[1] Das Tarifergebnis sieht u. a. nach sieben Nullmonaten (September 2020 - März 2021) eine Erhöhung um 1,4 Prozent, mindestens jedoch 50 Euro, ab April 2021 und weitere 1,8 Prozent ab April 2022 vor bei einer mit 28 Monaten sehr langen Laufzeit. Siehe WSI Tarifarchiv, Tarifrunde 2020