Nachricht | Deutsche / Europäische Geschichte - Demokratischer Sozialismus - Rosa-Luxemburg-Stiftung Hans Modrow (1928 - 2023)

Nachruf der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Information

Hans Modrow sitzt an einem Tisch.
Hans Modrow am 13.3.2019 in Berlin. Foto: IMAGO / Mathias Marx

Wir trauern um unser langjähriges Mitglied Hans Modrow. Hans war ein streitbarer, kluger und aufrechter Sozialist, der ein «anderes Deutschland» wollte und Zeit seines Lebens dafür gekämpft hat. Er war in diesem Kampf mit seinen zahlreichen Herausforderungen und unterschiedlichen Epochen eine herausragende Persönlichkeit des letzten Jahrhunderts.

Die Arbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat er seit Jahrzehnten engagiert unterstützt – als Vereinsmitglied, als jahrelanges Kuratoriumsmitglied, als Ratgeber für die internationale Arbeit (u. a. in China und in der Korea-Problematik) sowie als Gründer der unselbständigen Modrow-Stiftung im Verbund der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung wird ihm ein ehrendes Gedenken bewahren.

Heinz Bierbaum (Vorsitzender des Vorstands), Daniela Trochowski (geschäftsführendes Vorstandsmitglied)


Mit einer Gedenkveranstaltung am 21. April erinnert die Rosa-Luxemburg-Stiftung gemeinsam mit der Partei «Die Linke» und der Bundestagsfraktion an Hans Modrow.

1998, also vor 25 Jahren, publizierte der Karl Dietz Verlag Berlin erstmals Lebenserinnerungen von Hans Modrow. Anlass war dessen 70. Geburtstag. Der Titel des zusammen mit dem Journalisten Hans-Dieter Schütt zusammengestellten, dicken Bandes lautete «Ich wollte ein neues Deutschland» – durchaus als Lebensmotto zu verstehen.

Prägend für Hans Modrow waren dessen Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Von 1945 bis 1949 absolvierte er dort vor allem eine «Antifa-Schule». Zurückgekehrt wurde er FDJ-Funktionär in der gerade gegründeten DDR. Er machte Karriere, allerdings – anders als die vor ihm geborene Generation von SED-Kadern  (die u. a. die proletarische Herkunft als Tischler, Dachdecker, Friseure hatten) – verbunden mit akademischer Bildung. Nochmals kehrte er für ein Jahr an die Komsomolhochschule nach Moskau zurück, danach absolvierte er den Dreijahreslehrgang an der SED-Hochschule und ein Studium an der Hochschule für Ökonomie in Karlshorst, schließlich promovierte er 1966 an der Humboldt-Universität. Diese Stationen wiesen nicht allzu viele SED-Führungskader auf.

Bereits 1958 wurde er Volkskammerabgeordneter, 1967 dann Mitglied des SED-Zentralkomitees, parallel übernahm er die Leitung der ZK-Abteilung für Propaganda. Da machte er auf sich aufmerksam, nach dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker schickte ihn letzterer jedoch in die Provinz. Hans Modrow war seit 1973 sechzehn Jahre lang 1. SED-Bezirkssekretär in Dresden. Die Entsendung in das «Tal der Ahnungslosen» kam jedoch einer gewissen Degradierung gleich. Honecker umgab sich in Ost-Berlin lieber mit Ja-Sagern (so dem Vorgänger von Modrow in Dresden, Werner Krolikowski).

Hans Modrow unterhielt vor allem aufgrund der geschilderten Umstände enge Kontakte zu sowjetischen Politikern (in der Moskauer Botschaft in Ost-Berlin, über den in Dresden ansässigen Wissenschaftler Manfred von Ardenne, auch über den Chef der DDR-Auslandsspionage Markus Wolf). Dies bündelte sich im Krisenjahr 1989 derartig, dass ihm eine besondere Rolle in der «Wende» zufiel.

Nachdem Hans Modrow Ende 1988 in einem Bericht an Honecker auf Missstände in der Versorgungslage im Bezirk Dresden hingewiesen hatte, die u. a. auf die Bevorzugung Ost-Berlins in diesen Fragen zurückzuführen waren, schickte ihm der SED-Chef eine ganze Brigade von Kontrolleuren in die sächsische Bezirksleitung. Am 28. Februar 1989 kanzelte ihn Honecker vor dem Politbüro ab, erteilte ihm eine Missbilligung, beließ ihn jedoch in seiner Funktion. Kaderwechsel waren ihm in dieser Situation bereits zu auffällig, sie wurden im In- wie Ausland als Zeichen zunehmender politischer Schwäche interpretiert.

So stand Hans Modrow bereit, nach der Entmachtung Honeckers am 18. Oktober 1989 eine Führungsrolle in der neuen Mannschaft, angeführt von Egon Krenz, zu übernehmen. Zuvor hatte ihm der nunmehr Geschasste noch ein Kuckucksei ins Nest gelegt. Am 3. Oktober fuhren auf ausdrücklichen Befehl Honeckers die Züge mit den Ausreisewilligen, die in der Bonner Botschaft in Prag Zuflucht gesucht hatten, durch Dresden, da man sie nicht direkt von Prag in den Westen fahren ließ (man wollte vermeintlich von ihnen die Ausweispapiere auf DDR-Territorium einsammeln). Die Ausschreitungen am Dresdener Hauptbahnhof mit vielen Verletzten und immensen Sachschäden sollten Modrow noch lange beschäftigen.

Die ZK-Tagung vom 8. bis 10. November 1989, die zur Maueröffnung führte, wählte Hans Modrow zum Politbüromitglied und zum designierten Ministerratsvorsitzenden. Als der Hoffnungsträger am 13. November in sein neues Amt als Regierungschef eingeführt wurde, hatte sich die Situation vollständig verändert. Die DDR sah sich offenen Grenzen gegenüber, Helmut Kohl präsentierte zwei Wochen später bereits seinen 10-Punkte-Plan zur «Wiedervereinigung».

Hans Modrow hatte den Ruf eines bescheidenen Politikers bekommen, sprichwörtlich mit seiner 3-Zimmer-Neubauwohnung in Dresden, und den eines Anhängers von Glasnost und Perestroika, so wie dies Gorbatschow im Kreml verkörperte. Und auf Gorbatschow verließ er sich wohl in jenen Tagen, um zunächst noch die DDR zu retten, wozu ein rudimentäres Konföderationskonzept beitragen sollte.

Doch die Dinge begannen sich zu überschlagen. Dem Druck der Straße konnte man sich nicht entziehen, am 3. Dezember 1989 mussten alle SED-Führungsgremien, das ZK, das Politbüro und der Generalsekretär Krenz, zurücktreten. Ein 26-köpfiger Arbeitsausschuss, dem Modrow nominell nicht mehr angehörte (da er großen Wert auf die personelle Trennung von Partei und Regierung legte), übernahm die Vorbereitung eines Sonderparteitages, der in zwei Sessionen am 8./9. und 16./17. Dezember 1989 zusammentrat. In einer dramatischen Nachtsitzung, am 9. Dezember kurz nach 1 Uhr wandte er sich an die Delegierten: «lasst diese Partei nicht zerbrechen, nicht untergehen, sondern macht sie sauber und stark.» Wenig später entstand die Legende einer Geheimrede, da es tatsächlich gelang, die Zerfallserscheinungen zu stoppen. Daran war allerdings nichts geheim, sondern (per Protokoll und Tonaufzeichnung abrufbar). Der Parteitag schuf die SED/PDS, erreichte einen antistalinistischen Grundkonsens und ließ ein Führungsteam entstehen, welches für viele Jahre die im Januar 1990 umbenannte «Partei des Demokratischen Sozialismus» prägen sollte (neben Modrow u. a. Gysi, Bisky, Schumann, Vietze).

Als Ministerpräsident und neuer Vizeparteichef der PDS reiste er Ende Januar nach Moskau. Inzwischen hatte sich Gorbatschow entschieden, sich einer staatlichen Vereinigung Deutschlands nicht mehr entgegenstellen zu wollen, dies musste der Gast aus Berlin überrascht entgegennehmen. Er entschied sich ad hoc zu einer radikalen, mit der Parteispitze und seiner Regierung nicht abgestimmten Wendung und präsentierte, zurückgekehrt nach Ost-Berlin, am 1. Februar 1990 sein Konzept «Für Deutschland, einig Vaterland». Die Initiative in den laufenden Prozessen konnte er nicht mehr zurückgewinnen, mit den Vertretern seiner Regierung der Nationalen Verantwortung (inklusive zahlreicher Persönlichkeiten aus den neuen oppositionellen Bewegungen) ließ ihn Helmut Kohl in Bonn Mitte Februar 1990 eiskalt abblitzen. Geld würde dessen Regierung nicht mehr in die marode DDR stecken, das wurde vor allem gebraucht, um Kredite nach Moskau zu geben.

Diese vielen Ereignisse in einer ganz kurzen Zeitphase haben Hans Modrow tief geprägt. Als am 18. März 1990 die ersten freien Volkskammerwahlen ausgezählt wurden, hatte er noch einige Tage, um die Amtsübergabe an Lothar de Maiziere vorzubereiten. Modrow trat ins zweite Glied, blieb aber in seiner Partei und parlamentarisch überaus aktiv (zunächst bis 1994 als Bundestagsabgeordneter). Ihm war es gelungen, den friedlichen Übergang in der DDR zu sichern. Dabei musste er wie viele andere lernen, Politik zu gestalten, wie es nicht in den DDR-Lehrbüchern geschrieben worden war. Er beging Fehler (der Umgang mit der MfS-Abwicklung), bewies jedoch großen Mut (als die MfS-Zentrale in der Normannenstraße gestürmt wurde) und Menschlichkeit (er brachte das Ehepaar Honecker nach Lobetal).

Ab 1994 geriet er in die Mühlen der bundesdeutschen Justiz, insbesondere wegen der gefälschten Volkskammerwahlen von 1989 und dem Vorwurf der Falschaussage. In zweiter Instanz erhielt er eine Bewährungsstrafe. Er lernte, mit diesen Vorwürfen politisch umzugehen. Von 1999 bis 2004 war er Abgeordneter des Europäischen Parlaments für die PDS. Auch im Vereinigungsprozess von PDS und WASG war er aktiv. 2007 wurde er Ehrenvorsitzender der neu konstituierten Partei DIE LINKE. Auf Parteitagen konnte er aufgrund dieser Funktion oftmals seine Meinung zu den gesellschaftlichen Grundproblemen und Entwicklungen darlegen, mit durchaus relevanten Aspekten und Anstößen.

Seit Jahrzehnten hat Hans Modrow die Rosa-Luxemburg-Stiftung in ihrer Arbeit unterstützt, als Vereinsmitglied, als jahrelanges Kuratoriumsmitglied, als Ratgeber für die internationale Arbeit (u. a. in China und in der Korea-Problematik) sowie als Gründer der unselbständigen Modrow-Stiftung im RLS-Verbund.

Der frühere Befürworter von Glasnost und Perestroika war schließlich von dem, was Michail Gorbatschow vertrat, enttäuscht. Da gab es wenig freundliche Worte. Seine Aufmerksamkeit im postsowjetischen Raum blieb ungebrochen. Und vom Kriegsausbruch im letzten Februar war er tief betroffen. Auch von den parteiinternen Entwicklungen, auf die er seit seiner «Geheimrede» im Dezember 1989 immer einen positiven Einfluss nehmen wollte.

2022 nahmen die gesundheitlichen Probleme stark zu. Mit seinen 94 Lebensjahren besuchte er noch im Mai 2022 eine außerordentliche Mitgliederversammlung der RLS, die sich mit der gesellschaftlichen und politischen Situation nach den letzten Bundestagswahlen beschäftigte. Im November trat er das letzte Mal in einer kleinen Öffentlichkeit auf, beim Pflanzen von Blumen auf dem Friedhof der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde, organisiert von der Modrow-Stiftung.

Als ihm das Neue Deutschland am 27. Januar 2023 im ganzseitigen Artikel zu seinem 95. Geburtstag einen «Jahrhundertzeugen» nannte, war dies ein gut gewählter Titel. Diese Zeitzeugenschaft hat nun ihr Ende gefunden. Wir gedenken Hans Modrow in Ehren. Er war nicht der Einzige, der den friedlichen Verlauf der Ereignisse 1989/90 verantwortete, aber er war einer der entscheidenden Persönlichkeiten, auch in darauffolgenden Jahren. Wir werden ihn nicht vergessen.

Gerd-Rüdiger Stephan (Bereichsleiter Historisches Zentrum / stellv. Geschäftsführer)


Hans Modrow ist gegangen. Wir sind sehr traurig. In seiner bescheidenen, menschlichen Art war Hans immer engagiertes Mitglied unseres Gesprächskreises. Seine profunde, in praktischer Erfahrung erworbene Kenntnis des Internationalen Systems war für unsere Arbeit unerschöpfliches Reservoir. Seine Argumentationen und Gedanken waren immer darauf gerichtet, die Motive ‹des Anderen› zu verstehen, um friedliche Lösungen für Konflikte zu finden, Gewalt zu verhindern. So wird Hans uns in Erinnerung bleiben. So ist er auch Vermächtnis und Auftrag zugleich für unsere weitere Arbeit auf der Suche nach einer besseren, friedlichen Welt.

Für den Gesprächskreis «Friedens- und Sicherheitspolitik» der Rosa-Luxemburg-Stiftung: Werner Ruf, Alexej Stoljarow, Achim Wahl