Nachricht | Frie: Ein Hof und elf Geschwister, München 2022

Geschichte als Familiengeschichte oder: Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben

Information

Ewald Frieberichtet vom Ende der bäuerlichen Landwirtschaft im westfälischen Münsterland. Er tut dies am Beispiel (der Geschichte) des Hofes, auf dem er als 1962 geborener, selbst aufgewachsen ist. Quelle seines Buches sind vor allem die Interviews mit seinen zehn Geschwistern. So entsteht auf der Basis einer eindrucksvollen Familiengeschichte auch ein Blick auf die (west-)deutsche Nachkriegsgeschichte und deren Umbrüche im ländlichen Raum.

Auf der Basis der Interviews und einiger Recherchen wird nicht nur das Leben der Geschwister beschrieben, sondern ebenso das des 1910 geborenen Vaters und der 1922 geborenen Mutter. Sie übernehmen einen gut laufenden Rinderzuchtbetrieb, dessen Erfolge Anlass für Stolz und bis Ende der 1950er Jahre auch die wirtschaftliche Basis des Betriebes sind. Die Geschwister, die zwischen 1944 und 1969 geboren werden, finden eine andere Welt vor, und erleben diese, bedingt durch die große Spanne der Geburtsjahre, sehr unterschiedlich.

Sie erleben und gestalten den Wandel von Familie und landwirtschaftlicher Arbeit, von Katholizismus und Alltagsreligiosität, von Schule, Ausbildung und Freizeit in ihrem jeweiligen Leben. Die Geschwister wohnen auch nie alle gemeinsam unter einem Dach, und erleben ihre Eltern, allein durch deren Alter (bei der Geburt des letzten Kindes ist der Vater bereits 59 Jahre alt) ebenfalls unterschiedlich. Die Auflösung der bäuerlichen Welt, die Veränderungen des im Münsterland sehr wichtigen Katholizismus und die Entstehung des Sozialstaates, der zumindest den jüngeren Geschwistern ganz andere Bildungswege ermöglicht, werden so lebendig beschrieben. Aber auch die Eltern verändern sich: Der Vater gezwungenermaßen, als sich die Rinderzucht, nicht zuletzt durch die Einführung der künstlichen Besamung, nicht mehr lohnt und der erstgeborene Sohn den Hof übernimmt. Die deutlich jüngere Mutter ist eher aktiv, sie wendet sich der ländlichen katholischen Bildungs- und Frauenarbeit zu, und kann dadurch mehr Verständnis für die Situation der Kinder aufbringen und steht ihnen bei biographischen Übergängen zur Seite. Die Kinder haben sich im Dorf und in der Schule jetzt den Normen der anderen anzupassen, oder zumindest, so schildert es die jüngste der Geschwister, das «Leben in zwei Welten» (S. 158) zu bewältigen.

Frie, der seit 2008 Professor für Geschichte in Tübingen ist, erzählt von der vielen und dominanten Handarbeit («Arbeit war immer»), und von den familiären Festen und den für die Zucht wichtigen Tierschauen und Rinderauktionen. Er schreibt Geschichte vorrangig als Familiengeschichte. Das hat Vorteile, zum Beispiel die Authentizität und Anschaulichkeit des Geschilderten, aber auch Nachteile, etwa wenn der Nationalsozialismus (und seine Folgen) nahezu vollständig ausgeblendet werden. Für alle vom Dorf oder mit Interesse für landwirtschaftliche Fragestellungen ist das Buch lesenswert - unabhängig vom Alter.

Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben; C.H. Beck Verlag, München 2022, 191 Seiten, 23 Euro