Analyse | Krieg / Frieden - Osteuropa - Ukraine-Krieg Legenden und Tatsachen

Zur Vorgeschichte des Krieges gegen die Ukraine

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Paul Schäfer,

Der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko und US-Präsident George W. Bush nach den Gesprächen in Kyiv, 1.4.2008
Was sein Vater 1991 in Kyiv noch der dortigen Führung ausreden wollte, hatte US-Präsident George W. Bush 2008 offensiv vorangetrieben: die von der Ukraine gewünschte NATO-Integration. Allerdings traf er auf scharfen Widerspruch Frankreichs, Deutschlands und anderer EU-Staaten, was dazu beitrug, dass die Aufnahme de facto auf Eis gelegt wurde. Der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko und US-Präsident George W. Bush nach den Gesprächen in Kyiv, 1.4.2008, Foto: picture-alliance/ dpa | epa Gleb Garanich

Ob wir uns seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine tatsächlich in einer «neuen Welt» befinden, mag man getrost bezweifeln. Gewiss aber markiert der 24. Februar 2022 eine historische Zäsur. Es handelt sich um einen Einschnitt, der neue Fragen und intellektuelle Herausforderungen mit sich bringt. Dies gilt auch und gerade für die traditionelle Linke, die sich bei ihren Erklärungen der Kriegsursachen nicht gerade mit Ruhm bekleckert hat, indem sie den US- bzw. NATO-Imperialismus sowie den ukrainischen Nationalismus als kriegstreibende Akteure ausmachte – und dem Umstand, dass Russland der Aggressor war, keine oder doch zu wenig Aufmerksamkeit zukommen ließ. Die tatsächlichen Ereignisse hätten Anlass sein müssen, die blinden Flecken der eigenen Analyse zu erkennen und sich mit Wladimir Putin, seinem Regime und den Wurzeln des langwährenden ukrainisch-russischen Konflikts zu befassen. Das aber geschah nicht.

Da die Tatsache des russischen Überfalls nicht zu leugnen war, haben sich Teile der Linken und der Friedensbewegung auf die Vorgeschichte des Krieges verlegt. Doch während die Vorgeschichte zweifellos Bestandteil der Analyse sein muss, verlegen sich allzu viele auf eine eindimensionale Betrachtung, die sich auf altvertraute Denk- und Einordnungsmuster zurückzuzieht. Dabei genügt ein Blick auf die Reden des russischen Präsidenten, um die Motive und Ziele die russische Machtelite bei der Entscheidung für den Angriffskrieg zu erkennen. Insofern ist es erstaunlich, wie gering die Kenntnis dieser Reden in einschlägigen Kreisen ist. Auch die Aufarbeitung der Rolle des militärisch-industriellen Machtkomplexes und der geheimdienstlichen Netzwerke der Russischen Föderation bleibt unterbelichtet. Dabei wäre dieser Blick – in Verbindung mit der Analyse des Zerfalls des sowjetischen Imperiums, seiner Folgen und des weltpolitischen Absinkens auf einen semi-peripheren Status – geeignet gewesen, tragbare Erklärungsansätze für den Krieg zu liefern.

Paul Schäfer, Soziologe und Publizist, war von 2005 bis 2013 Obmann der LINKEN im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages.

Fragt man nach den Motiven, die einer solchen Engführung der Analyse zugrunde liegen, ist unschwer zu erkennen, dass Teile der gesellschaftlichen Linken sich sträuben, alte Denkgewohnheiten aufzugeben.

Allerdings hat es nach dem 24. Februar 2022 auch in anderen Teilen der Linken einige Zeit gedauert, bis man der Geschichte des Konflikts, den Gründen für die Formierung des Putin-Regimes und den internationalen Konfliktkonfigurationen auf die Schliche kam. Einen kreativen und komplexen Aufschlag zu einer auf Quellen basierenden, historisch-soziologischen Analyse des Krieges legte unlängst der Friedensforscher Klaus M. Schlichte von der Universität Bremen vor (Schlichte 2022). Der Soziologe Klaus Dörre von der Universität Jena hat sich in einem wichtigen Text (Dörre 2023) mit den Rahmenbedingungen und Hintergründen des Krieges beschäftigt und offene Fragen benannt. Daran gilt es anzuknüpfen, will man den vordergründigen Schlagabtausch hinter sich lassen.

In diesem Beitrag geht es darum, sich kritisch mit der Legendenbildung in den linken Erzählungen zum Krieg auseinanderzusetzen. Im Mittelpunkt stehen dabei die sicherheitspolitischen Fragestellungen, mit denen ich mich seit langen Jahren im Rahmen meiner Tätigkeiten, und von 2005 bis 2013 auch als Mitglied des Verteidigungsausschusses des Bundestags, befasst habe. Die hier behandelten Aspekte können hoffentlich dazu beitragen, künftige Debatten auf eine realitätsbezogene Grundlage zu stellen.

Wer trägt die Verantwortung für den Krieg?

Die zentrale These derjenigen, die den Krieg Russlands mehr oder weniger direkt verteidigen, lautet: Die eigentlich Verantwortlichen für den Krieg seien USA und NATO, die Russland mit einer expansiven Strategie so in die Enge getrieben hätten, dass das Putin-Regime faktisch gezwungen gewesen sei, mit militärischer Gegenwehr zu antworten. Die abgeschwächte Variante dieser These besagt, dass «der Westen» vielleicht nicht allein verantwortlich sei, aber im Vorfeld doch ein gerüttelt Maß an Schuld auf sich geladen habe.

Aber selbst wenn diese These zuträfe, änderte sie nichts an Putins Verantwortung für den Krieg. Auch kann sie die Entscheidung des russischen Präsidenten nicht wirklich erklären. Denn selbst wenn man den Berichten Glauben schenkt, dass die Moskauer Führung die Illusion gehabt habe, binnen 48 Stunden in Kiew einmarschieren zu können, setzt eine derart weitreichende Entscheidung ein Maß an missionarischer Überzeugung und Skrupellosigkeit voraus, das allein mit Sicherheitsbedenken und erlebten Kränkungen nicht hinreichend erklärt werden kann. Außerdem setzt sie die Formierung einer Gesellschaft durch eine autokratische Elite voraus, die langfristig für einen solch gewaltsame Operation konditioniert worden ist.

Die Erklärungskraft dieser These ist folglich gering. Damit ist aber die Frage, ob der imperialistische Akt Moskaus nicht doch durch das provokative Vordringen des Westens in den postsowjetischen Raum mitverursacht wurde, noch nicht beantwortet.

Die Sünden der westlichen Welt

Ehe wir uns dieser Frage im Detail zuwenden, ist eine grundsätzliche Anmerkung geboten: Dass der Krieg Putins in bestehende internationale Konfliktkonstellationen eingebettet ist, kann in einer globalisierten Welt nicht verwundern. Dennoch fällt auf, dass eine Verlagerung des Blicks auf diese Meta-Ebene das oben angesprochene Motiv, identitätsstiftende Ideologeme zu bewahren, immens erleichtert: Denn man bleibt auf vertrautem Terrain und kann sich auf die alten Begriffe und Raster zur Erklärung der Welt verlassen.

Nun ist der Verweis auf das Sündenregister von USA und NATO – auf Militärinterventionen, bei denen das Völkerrecht verletzt wurde, viele Menschen geopfert, Zerstörungen angerichtet und Grenzen gewaltsam verschoben wurden – ohne Zweifel angebracht; nur hilft dieser Verweis nicht beim Versuch, den gegenwärtigen Krieg zu verstehen.

Hinzu kommt, dass der Verweis auf westlich-imperiale Politiken als Relativierung oder gar Rechtfertigung der russischen Aggression missdeutet werden kann. Der französische Intellektuelle Etienne Balibar schreibt völlig zu Recht: «Selbst wenn die NATO den euroasiatischen Raum, der traditionell von Russland dominiert wird, hätte ‹einkreisen› wollen, was unbestreitbar scheint, hat sie Russland nicht angegriffen. Wir dürfen niemals vergessen, wessen Armeen in die Ukraine eingefallen sind und sie derzeit zerstören.» (Balibar 2022) Nota bene: Unrecht lässt sich nicht durch andere unrechtmäßige Handlungen rechtfertigen.

Wenn man der These folgt, dass eigentlich nicht Putin, sondern «der Westen» für den Krieg verantwortlich zeichne, müsste man den ursächlichen Zusammenhang der westlichen Missetaten mit dem gegenwärtigen Krieg nachweisen. Indirekte Bezüge gibt es durchaus; die «westliche» Politik hat in Libyen, im Irak und anderswo zur Erosion regelbasierter Ordnung beigetragen und auf diese Weise Vorwände für Putin geliefert. Eine kausale Verbindung ergibt sich daraus aber keineswegs.

Zauberformel Geopolitik

Als Antwort auf die Frage nach der Verantwortung für den Krieg verweisen traditionelle Linke auf die «Geopolitik». Dass man dabei gerne Anleihen bei Vertreter*innen der neorealistischen Schule wie John Mearsheimer macht, mag auf den ersten Blick erstaunen, sind deren Theorien doch ausschließlich auf Macht, Imperien und Militär fokussiert. Selbst die von der US Air Force gegründete RAND Corporation erfreut sich in jüngster Zeit großer Beliebtheit.

Dabei sollte klar sein: Die «Realisten» interpretieren die Ausweitung des NATO-Gebiets primär als Bedrohung der Einflusssphäre einer anderen Macht. Den Ambitionen der Ukrainer*innen können sie wenig abgewinnen. Die Ukraine gehöre historisch-kulturell zum russisch beherrschten «Großraum», und Russland verteidige diesen gegen die «raumfremden Mächte» des Westens (USA, NATO und EU). Die Sympathien des Neorealisten für Russland sind begrenzt; ihnen geht es um das geopolitische Gleichgewicht, und Russland wird aus ihrer Sicht für den Großkonflikt mit China als Bündnispartner benötigt. Da es ihnen immer um den Ausgleich der Interessen geht, den sie freilich – gestützt auf militärische Macht – zu ihren Gunsten gestalten wollen, halten sie die an den Menschenrechten orientierte Außenpolitik Obamas, Bidens und Co. für einen großen Fehler.

Die neu entdeckte Affinität des linken «Antiimperialismus» mit dem neorealistischen Ansatz wurzelt offenbar in der Annahme, dass «der Feind meines Feindes mein Freund» sei – und dass dieser ausschließlich gegen die USA gerichtet wird. Durch diese Sicht treten Analysen der unmittelbaren Akteure des Krieges – der Ukraine und Russlands – in den Hintergrund und müssen nicht weiterverfolgt werden. Gesellschaftliche Verhältnisse, Prozesse und Widersprüche, die zwischen Menschen ausgetragen werden, bleiben notorisch unterbelichtet. Horst Kahrs und Klaus Lederer haben dazu festgestellt: «Die Welt und die Menschen spielen in dieser Lesart bestenfalls als Insassen imperialer Interessensphären und als Verschiebemasse großer Mächte eine Rolle; kaum einer offensiven kritischen Befassung wert zu sein scheinen dagegen der fortschreitende Umbau der russischen Gesellschaft zur repressiven Autokratie, die nachhaltige Kollaboration Putins mit dem globalen Rechtsradikalismus, das russische Streben nach Destabilisierung liberal-demokratischer Verhältnisse oder die demokratische Entscheidung der ukrainischen Bevölkerung gegen die Unterwerfung unter russische Vormundschaft.» (Lederer/Kahrs 2022)

Russlands Sicherheitsinteressen: Gab es eine existenzielle Bedrohung?

Und doch bleibt die Frage, ob die These, USA und NATO hätten Russland mit ihrer Osterweiterungspolitik so weit an den Rand gedrängt, dass man mit einer harten Reaktion habe rechnen müssen, etwas Wahres enthält.

Fest steht: Es gab zu keinem Zeitpunkt eine existenzielle – sprich: militärische – Bedrohung Russlands. Ein Angriff der NATO auf Russland lag nie im Denkhorizont der «westlichen Eliten». Die russische atomare Zweitschlagfähigkeit und damit Abschreckung war zu keinem Zeitpunkt gefährdet. Die konventionellen Fähigkeiten der NATO an den Grenzen zur Russischen Föderation reichten zu keinem Zeitpunkt für eine großflächige Angriffsoperation aus. Und welchen Sinn hätte es gehabt, ein Land zu überfallen, dessen Türen für Geschäftsbeziehungen offenstanden? Wäre es nicht paradox, sich auf die weitgehende Zerstörung eines Landes einzulassen, dessen Reichtümer man sich aneignen will?

Ein Blick auf die Landkarte macht klar, dass die behauptete «Einkreisung» Russlands eine fixe Idee ist. Man kann das flächenmäßig größte Land der Erde mit langen Grenzen zu verbündeten oder neutralen Staaten – darunter China und Kasachstan – nicht «einkreisen». Dieses Bild ist auch in anderer Hinsicht ungeeignet: Russland wurde Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO), die G7-Staatengruppe wurde um Russland zur G8 erweitert, Wirtschaftsverträge und -beziehungen wurden auf- und ausgebaut.

Die Veränderung der militärischen Kräfteverhältnisse

1990 wurde zwischen NATO und Warschauer Pakt der Vertrag über die konventionellen Streitkräfte (KSE-Vertrag) beschlossen. Dabei wurden die Obergrenzen für fünf Hauptwaffensysteme – Kampfpanzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, Artilleriewaffen, Kampfflugzeuge und Angriffshubschrauber – festgelegt und die bestehenden Rüstungspotenziale in der Folgezeit erheblich reduziert. Mit dem Auseinanderbrechen des Warschauer Pakts wurden Regeln des KSE-Vertrags obsolet und mussten neu justiert werden. Dies geschah durch zähe Verhandlungen zwischen 1995 und 1999.

Dass sich das militärische Kräfteverhältnis zwischen NATO und Russland dadurch gravierend verschob und durch die NATO-Osterweiterung noch mehr zu Ungunsten Russlands veränderte, liegt auf der Hand. Moskau hat darüber beständig Klage geführt und bei den Anläufen einer Neufassung des Vertrages 2008 eine Absenkung der NATO-Höchststärken als Kompensation für die Bündniserweiterung gefordert. Doch ein Entgegenkommen konnte Moskau nicht ernsthaft erwarten. Es gibt kein Naturrecht auf einen Weltmachtstatus, den Russland durch den Zerfall der Sowjetunion nicht grundlos eingebüßt hatte. Immerhin gab es ein Entgegenkommen bei der sogenannten Flankenregelung, die besonders im Fokus Moskaus stand.

Der Zerfall des sowjetischen Imperiums hatte zu immer stärkeren, teilweise gewaltförmigen Konflikten an der Peripherie Russlands geführt, denen Moskau durch Aufstockung seiner grenznahen Verbände begegnen wollte. Die NATO sah Russland zu diesem Zeitpunkt als Stabilitätsfaktor bei den (teilweise eingefrorenen) Konflikten in Zentralasien, im Kaukasus und in Moldawien. Daher wurden die vertraglich erfassten Regionen unter Beibehaltung der Obergrenzen verkleinert. Dies konnte von Russland für die Zusammenziehung größerer Verbände und für Interventionen herangezogen werden. Hierin dürfte auch der Hauptgrund dafür liegen, dass die Russische Föderation den Vertrag von Istanbul 1999 mitzeichnete und zusammen mit den GUS-Staaten Ukraine, Belarus und Kasachstan 2004 ratifizierte.

Bei Lichte betrachtet, besaß der KSE-Vertrag für die entstehende Konfliktkonstellation nur geringe Relevanz. Die tatsächlichen Streitkräftebestände lagen und liegen deutlich unter den festgelegten Obergrenzen und sind daher kein Stein des Anstoßes. Wichtiger waren die Vereinbarungen im Rahmen der NATO-Russland-Grundakte von 1997. Dabei ging es der russischen Seite vor allem darum, die dauerhafte Stationierung von NATO-Kampfverbänden in den neuen Mitgliedstaaten zu verhindern (die Streitkräfte der Neumitglieder selbst waren Ende der 1990er Jahre alles andere als furchterregend). Die NATO kam Russland in zwei Punkten entgegen: Sie erklärte, keine Absichten und Pläne zu verfolgen, auf dem Hoheitsgebiet neuer Mitglieder Atomwaffen zu stationieren oder dort nukleare Waffenlager zu installieren, und sie bekräftigte, in den neuen Mitgliedstaaten keine dauerhafte Stationierung von Kampftruppen vornehmen zu wollen.

Diese Grundlagen der NATO-Russland-Beziehungen auf dem Gebiet militärischer Sicherheit hatten Bestand – bis 2014. Dann begann mit der Annexion der Krim und der militärischen Einmischung Russlands in die Konflikte um die Donbas-Region die unmittelbare Vorgeschichte des Krieges. Darüber gehen in aller Regel diejenigen geflissentlich hinweg, die als Kriegsgrund auf die militärische Unterstützung der USA nach 2014 verweisen. Denn alle Maßnahmen des NATO-Bündnisses zur Aufrüstung der Ukraine und die Verlegung eher bescheidener Truppenkontingente in die osteuropäischen Mitgliedstaaten müssen als Folge der militärischen Eskalation und des Völkerrechtsbruchs durch Putins Regime bewertet werden. Der Krieg Putins begann nicht erst am 24. Februar 2022.

Die NATO-Osterweiterung

Aber bleibt es nicht dennoch richtig, dass die insbesondere von den USA vorangetriebene NATO-Osterweiterung eine schwere Bedrohung russischer Interessen darstellte, auf die Putin irgendwann reagieren musste? Und ist diese Expansion nicht gezielt verfolgt worden, um Russland in die Enge zu treiben?

Tatsächlich hat sich gezeigt, dass die Entscheidung zur Osterweiterung – und, mehr noch, die Art ihrer Durchführung – grundsätzlich fragwürdig waren. Auch die Warnungen kluger Sicherheitsexpert*innen, dass dieser Prozess den Aufstieg rechter, militaristischer Kreise in Moskau begünstige, haben sich als berechtigt erwiesen.

Aber zur Wahrheit gehört auch dies: «Anders als behauptet war die Ausdehnung nicht das Ergebnis einer orchestrierten Einverleibung, sondern entsprach der Absicht der meisten Staaten Mittel- und Osteuropas, die eigene Sicherheit durch die Mitgliedschaft in der Allianz zu erhöhen.» (Gießmann 2022) Schon im Februar 1991 schlossen sich Polen, die damalige Tschechoslowakei und Ungarn zum Viségrad-Bündnis zusammen und stellten einen Antrag auf Aufnahme in die NATO. Bald folgten weitere Staaten; der Westen hingegen war zu dieser Zeit eher zögerlich.

Bei der Bewertung dieser Vorgänge gilt es deshalb nicht nur die Sicherheitsbelange Russlands zu bedenken, sondern eben auch die Positionen der mittel- und osteuropäischen Staaten. Denn allzu oft werden die traumatischen Folgen des Hitler-Stalin-Pakts gerade für Polen und das Baltikum «übersehen». Hinzu kommt, dass die jahrzehntelangen Erfahrungen der Mittel-Osteuropäer*innen mit sowjetischer Dominanz und Unterdrückung von West-Linken oftmals schlicht ignoriert werden. Die Rote Armee wird nur als Befreiungsarmee gesehen, während die Kehrseite der Medaille, die damit verbundene imperiale sowjetische Landnahme nach 1945, ausgeblendet bleibt. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass diese Verklärung im Osten der Bundesrepublik heute eine Wiederauferstehung erlebt, im deutlichen Kontrast zur Besatzungswirklichkeit, die in der sarkastischen Wendung von «den Freunden» Eingang in die Alltagssprache der DDR gefunden hatte.

Tatsache ist auch, dass der Kreml die erste Runde der NATO-Osterweiterung billigend zur Kenntnis nahm; schließlich war dieser Schritt mit der Etablierung des NATO-Russland-Rates 1997, der Erweiterung der G7 zur «Gruppe der 8» und der Fortführung der Verhandlungen über die künftigen Bestände konventioneller Waffen und Streitkräfte verbunden, die 1999 in Istanbul abgeschlossen wurden.

Allerdings waren die nächsten Runden der NATO-Erweiterung nicht von vergleichbaren «Kompensationen» begleitet. Im Gegenteil, die USA kündigten bestehende Rüstungskontrollregime auf und trieben die Aufrüstung in den neuen NATO-Mitgliedstaaten voran. Dass dabei in der Regel russische Vorschläge missachtet oder schnell abgetan wurden («die Russen wollen nur das Atlantische Bündnis spalten»), darf nicht unerwähnt bleiben. Das gilt beispielsweise für den Umgang der NATO mit dem sogenannten Medwedew-Plan im Jahr 2008. Die Vorstellungen Moskaus waren vage, aber ein ernsthafter Versuch der NATO, auf diese einzugehen, war auch nicht erkennbar. Immerhin fällt in diese Zeit der Abschluss des New-START-Vertrags 2010, mittels dessen über die ausbalancierte Reduzierung der strategischen Atomwaffen Stabilität gesichert wurde.

Bemerkenswert ist für diesen Zeitraum, in dem sich Spannungen aufbauten, dass der russische Außenminister Sergej Lawrow am 2. Januar 2005 in einem Interview mit dem «Handelsblatt» der Ukraine und Georgien das Recht auf einen möglichen NATO-Beitritt einräumte: «Das ist deren Wahl. Wir achten das Recht jedes Staates – unsere Nachbarn eingeschlossen –, sich seine Partner selbst zu wählen, selbst zu entscheiden, welcher Organisation sie beitreten wollen.» (Lawrow 2005) Ein möglicher Hintergrund dieser erstaunlichen Aussage ist, dass Russland sich zu diesem Zeitpunkt, trotz der «Orange Revolution» in Kiew 2004, noch relativ sicher fühlte, einen Fuß in der Tür zu haben und die dortige Entwicklung von Moskau aus kontrollieren zu können. Auch dies lässt tief blicken.

Dennoch sollte die schleichende Entwicklung von Spannungen und Widersprüchen, an denen der Westen seinen Anteil hatte, nicht ausgeblendet werden. Das Eingreifen der NATO auf dem Balkan im Jugoslawien-Krieg 1999 gehört ebenso zu dieser Konfliktkonstellation, wie der gewaltsame Regime Change im Irak 2003. In beiden Fällen ging es um traditionelle Einflussgebiete der Sowjetunion bzw. Russlands. Während der sogenannte Krieg gegen den Terror noch Kooperationsmöglichkeiten zwischen den USA und Russland eröffnete, nutzte Washington die zunehmenden Konflikte im postsowjetischen Raum, um unter dem Vorzeichen der «Förderung von Menschenrechten und Demokratie» eigene Vorteile herauszuholen.

Die Ukraine als Teil des «russischen Imperiums»?

Schlicht falsch ist die Behauptung, der Westen habe die Ukraine seit den 1990er Jahren zielgerichtet in die euro-atlantischen Strukturen gezogen. Zur Erinnerung: Der damalige US-Präsident George H.W. Bush reiste 1991 nach Kiew, um der dortigen Führung die Unabhängigkeitserklärung auszureden. Es gehörte damals offenkundig zum Selbstverständnis westlicher Eliten, dass die Ukraine ein Bestandteil Russlands sei.

Allerdings hat sich das Bemühen, die Ukraine in westliche Strukturen einzubeziehen, während und nach der Orangen Revolution von 2004 in dem Maße verstärkt, wie sich Putins Russland um die Aufrechterhaltung eines Satellitenstatus der Ukraine bemühte. Und es stimmt ebenfalls, dass US-Präsident George W. Bush, der mit seinen Neokonservativen von einer unipolaren Weltordnung phantasierte, die NATO-Integration der Ukraine und Georgiens 2008 offensiv vorantreiben wollte. Allerdings traf er auf scharfen Widerspruch Frankreichs, Deutschlands und anderer EU-Staaten, was dazu beitrug, dass die Aufnahme zwar grundsätzlich gebilligt, de facto aber auf Eis gelegt wurde.

Karl Schlögel hat völlig Recht: «Wenn man ‹dem Westen› oder der EU etwas vorwerfen kann, dann nicht, dass sie sich übermäßig für die östlichen Nachbarn engagiert hätten, sondern dass diese eher als eine Zumutung empfunden wurden, die den Zusammenhalt Europas und der Europäischen Union […] gefährdeten.» (Schlögel 2022) Ins Auge sticht dabei gerade die Zurückhaltung der EU gegenüber der Ukraine. Brüssel hat die Ukraine lange Zeit vor allem als Bollwerk gegen Einwanderung aus dem Osten gesehen und Kiews weitergehende Avancen eher brüskiert, statt diese zu fördern.

Es war die sich ausbreitende Frustration über Oligarchenkapitalismus, Korruption und autoritäre Tendenzen, die die Menschen in der Ukraine in die Opposition trieb und den Wunsch nach einer engen Anbindung an die EU immer mehr bestärkte. Das wurde untermauert durch die Verschiebung der ökonomischen Verhältnisse; während die Im- und Exporte zwischen der EU und der Ukraine wuchsen, gingen sie zwischen Russland und der Ukraine erheblich zurück. Es war Präsident Wiktor Janukowitsch, ein Vertreter des russlandfreundlichen Donezk-Clans, der die Annäherung an die EU via Assoziierungsabkommen einleitete und durchbringen wollte – sich aber schließlich dem Druck Moskaus beugte und von seinem Ansinnen abließ. Erst dieser Bruch hat dem Streben nach einer Integration des Landes in die EU den entscheidenden Anstoß gegeben.

Folgt man den Erzählungen Putins, die dieser bereits vor dem Krieg zu dessen Rechtfertigung aufbaute, so trägt der Westen die Schuld an der Entstehung neuer Trennlinien, während Russland lediglich die Einheit Europas im Sinne gehabt habe: «Viele Länder wurden vor eine künstliche Wahl gestellt – entweder mit dem kollektiven Westen oder mit Russland zusammenzugehen. De facto war dies ein Ultimatum. Die Konsequenzen dieser aggressiven Politik führt uns das Beispiel der ukrainischen Tragödie von 2014 anschaulich vor Augen. Europa unterstützte aktiv den bewaffneten verfassungswidrigen Staatsstreich in der Ukraine. Damit hat alles begonnen.» (Putin 2021)

Ein solches Ultimatum hat es jedoch nie gegeben. Genauer gesagt: Dieser Konflikt wurde von Russland aus angeheizt. Treffender ist daher, dass sowohl die EU als auch Russland die Ukraine zu einer Pro-oder-Kontra-Entscheidung gedrängt und zu wenig die Möglichkeiten einer Vermittlung zwischen EU und Eurasischer Wirtschaftsunion ausgelotet haben. Und was den vermeintlichen «Staatsstreich» von 2014 betrifft, so ist zumindest auf diplomatische Bemühungen Frankreichs und Deutschlands hinzuweisen, die eine Koalitionsregierung in Kiew anregten, um die Gewalt zu beenden. Auch mit den Minsker Verhandlungen haben sich Paris und Berlin für eine diplomatische Lösung des Konflikts eingesetzt. Die kriegerische Gewalt hingegen ging mit der Krim-Annexion und der militärischen Unterstützung der moskautreuen Milizen im Donbas ausschließlich von Russland aus. Das Minsk-2-Abkommen, das beträchtliche Zugeständnisse an die russische Seite beinhaltete, erwies sich wegen ungelöster Fragen als nicht tragfähig und wurde von beiden Seiten nicht umgesetzt. Ein Grund zum Krieg? Mitnichten. Neu zu verhandeln, wie es Präsident Wolodymyr Selenskyj noch am Vorabend des Krieges anbot, wäre richtig gewesen.

Was an der Politik des Westens zu kritisieren ist

Für die sich seit den 2000er-Jahren aufbauenden Konflikte sind die USA und die NATO-Mitgliedstaaten mitverantwortlich. So verweigert die NATO bis heute die Ratifizierung des 1999 adaptierten KSE-Vertrags. Die USA hatten einseitig sogenannte Istanbul-Commitments verkündet, gegen die Russland durch die Stationierung von Truppen in Transnistrien, der abtrünnigen Teilrepublik Moldawiens, verstoßen habe. Die teilweise nicht unberechtigten Forderungen Moskaus bei den Verhandlungen über einen neuen KSE-Vertrag – Beitritt der baltischen Staaten, weitere Verringerung der Obergrenzen und Bestände, Präzisierung des Begriffs «substanzielle Kampftruppen» etc. – wurden von der NATO abgewiesen beziehungsweise nicht hinreichend aufgenommen. Auf dem Feld der Rüstungskontrolle und Abrüstung liegen wahrscheinlich die stärksten Versäumnisse dieser Zeit. Mit der Stationierung neuer Raketenabwehrsysteme in Tschechien und Polen wurden russische Befürchtungen über eine Schwächung der eigenen Abschreckungsfähigkeit genährt.

Unter dem Strich bleibt dennoch: Die NATO-Länder haben die Bestimmungen der Grundakte, die ja von Moskau unterzeichnet wurde, zur russischen Aggression 2014 eingehalten. Die Verlegung US-amerikanischer Truppen nach Bulgarien und Rumänien nach dem Rotationsprinzip etwa mag man kritikwürdig finden, sie waren jedoch vertragskonform und überdies mit dem Abzug von US-Verbänden aus Deutschland verbunden.

Dagegen hat Russland eklatant gegen die Bestimmung des Vertrages verstoßen, in dem «die Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität aller Staaten» festgehalten ist. Alle Staaten sollten über die Mittel zur Gewährleistung der eigenen Sicherheit selbst bestimmen – auch das hat Moskau missachtet.

Der berechtigte Hauptvorwurf liegt meines Erachtens darin, dass die Verantwortlichen in den NATO-Mitgliedstaaten es versäumt haben, nach 1995 mit der OSZE eine gesamteuropäische Friedensarchitektur zu entwickeln. Dabei wurde in der NATO-Russland-Grundakte vom Juni 1997 noch formuliert: «Der OSZE als einziger gesamteuropäischer Sicherheitsorganisation kommt eine Schlüsselrolle für Frieden und Stabilität in Europa zu.» Stattdessen hat man das Primat außenpolitischen Handelns mehr und mehr auf die Stärkung und den Ausbau der atlantischen Allianz und die Erweiterung des Einflussbereichs der EU gesetzt. Am neuen Rüstungswettlauf und an der konfrontativen Politik haben beide Seiten ihren Anteil; aber warum wurden Interessenausgleich und diplomatische Lösungen nicht konsequent versucht? Das erwähnte Beispiel des Tauziehens um eine Neufassung des KSE-Vertrags belegt, dass namentlich die USA nicht wirklich an Abrüstung, Rüstungskontrolle und einem Miteinander interessiert waren.

In einer Studie des japanischen Toda Peace Instituts wird zu Recht moniert, dass der Geist der Charta von Paris (1990) vom «gemeinsamen Haus Europa» immer mehr in den Hintergrund geriet und die Chance auf eine neue Sicherheitspartnerschaft mittels des systematischen Ausbaus der OSZE vertan wurde. Die Autor*innen haben sich auch mit den am Vorabend des Angriffs vom Kreml vorgelegten «Friedensverträgen» beschäftigt, die höchstwahrscheinlich zur Camouflage der Angriffsvorbereitungen gedacht waren. Dennoch wäre es besser gewesen, wenn man die lauernde Kriegsgefahr ernst genommen, sich einzelne Paragraphen genauer angeschaut und Gespräche darüber angeboten hätte (Toda Peace Institut 2023).

Bei der Frage nach den Kriegsursachen sollte strikt zwischen der Verfolgung kapitalistischer Geschäftsinteressen und militärischer Eroberungs- und Unterwerfungspolitik unterschieden werden. Natürlich wollen USA und EU in der Ukraine Geschäfte machen und ihren (hegemonialen) Einfluss in Mittel- und Osteuropa ausbauen. Besonders die USA sehen zudem die Gelegenheit, den Krieg für die weitere und dauerhafte Schwächung des potenziellen weltpolitischen Rivalen in Moskau zu nutzen, vor allem in militärischer Hinsicht. Ein Land mit dem Bruttoinlandsprodukt Italiens und einer nicht zukunftsträchtig ausgerichteten Volkswirtschaft dürfte von ihnen indes nicht ernsthaft als bedrohlicher Weltmarktkonkurrent angesehen werden. Mit dem von Barack Obama eingeleiteten Schwenk nach Asien («Pivot to Asia») wurde zudem eine Neuausrichtung der US-Außenpolitik eingeleitet, die China als möglichen Hauptwidersacher für die globale Vormachtstellung der USA ins Visier nimmt. Es ist kein Zufall, dass es gerade einflussreiche «Falken» in Washington sind, die den Ukrainekrieg als unwillkommene Ablenkung von dieser Hauptaufgabe sehen und die die immensen Kosten vermeiden möchten, die ihnen die Unterstützung der Ukraine abverlangt. Dass also der durchaus zu konstatierende Hegemonialkonflikt zwischen den USA, der EU und der Russischen Föderation notwendigerweise zum Krieg um die Ukraine geführt habe, ist eine willkürliche Annahme, die durch nichts zu belegen ist.

Die Metamorphose russischer Macht

Wenn wir das bisher Geschriebene zusammenfassen wollen, so kommen wir zu folgenden Schlüssen: Es ist richtig, dass man nicht einfach darüber hinweggehen sollte, dass die stete Ausweitung des Einflussbereichs «westlicher» Bündnisse – wie NATO und EU – aus Moskauer Sicht als besorgniserregender Macht- und Kontrollverlust wahrgenommen wurde. Aber die Behauptungen von Präsident Putin oder Außenminister Lawrow, dass man wegen der Bedrohung des Landes einfach nicht anders handeln konnte, entbehren jeder Grundlage und dienen offenkundig der Verschleierung eigener Expansionsziele. Denn die aus heutiger Sicht paranoid anmutenden Positionen Putins und Lawrows gehen weit über nachvollziehbare Besorgnis hinaus und mischen sich mit der fixen Idee, dass man das Opfer finsterer Machenschaften und Verschwörungen sei. Auf dieser Basis braucht man dann nicht mehr zu hinterfragen, was der Machtverlust mit eigenen Unzulänglichkeiten und Verfehlungen zu tun hat. Putins und Lawrows Einlassungen sind zudem mit der Hybris verbunden, dass man sich dem westlichen Kolonialismus als Retter der Menschheit entgegenstellen müsse. Verfolgungswahn mischt sich mit Größenwahn: Dass man sich damit ein gehöriges Stück von den tatsächlichen Realitäten entfernt, macht die heutige Lage so dramatisch und gefährlich.

Der Blick auf die sicherheitspolitische Dimension des Krieges und seiner Vorgeschichte hat gezeigt, dass der entscheidende Faktor die Metamorphose der russischen Macht und ihrer Politik war. Diese Wandlung, die mit Putins Amtsantritt 1999 begann und sich in seiner insgesamt dritten Amtszeit nach 2012 verschärfte, hat mit den voranschreitenden inneren Widersprüchen und der signifikanten Kluft zwischen Weltmachtanspruch und semi-peripherem Status in der Welt zu tun. Das immer wieder herangezogene Sicherheitsinteresse spielt in der russischen Perzeption eine Rolle, ist jedoch den imperialen Regimeinteressen untergeordnet. Wenn in diesem Kontext von «roten Linien» gesprochen wird, die für Putin maßgeblich seien, geht es um die Sicherung des Regimes und seiner imperialen Interessen, genauer: um den Erhalt bzw. die Wiederherstellung russischer Dominanz und Kontrolle im postsowjetischen Raum, wobei Belarus und die Ukraine von besonderer Bedeutung sind.

Kein bloßer Stellvertreterkrieg

Offenkundig ist, dass der russisch-ukrainische Konflikt nicht von der geopolitischen Konfrontation zwischen dem westlichen Staatenbündnis und Russland getrennt werden kann. Diese Konstellation hat die Entstehung des gegenwärtigen Krieges und seinen Verlauf mitbestimmt; sie wird auch für seine mögliche Beendigung mitentscheidend sein. Etienne Balibar weist dabei auf einen Umstand hin, der in linker Politik oft verdrängt oder verleugnet wird: Wenn kleinere Nationen ihre Unabhängigkeit erreichen oder verteidigen wollen, waren und sind sie immer auch von Bündnissen mit größeren Staaten abhängig. Das gilt auch hier: Ohne die Bildung substanzieller Allianzen wäre die Ukraine chancenlos. Und da war es folgerichtig, dass sich das Land mit Hilfe der NATO-Mitgliedstaaten und weiterer Verbündeter gegen den Überfall Russlands zur Wehr setzte. Mit den sich daraus ergebenden Widersprüchen muss man umgehen lernen.

Und doch bleibt das Wort vom «Stellvertreterkrieg», das in linken Kreisen und darüber hinaus – beispielsweise bei Vertreter*innen der neorealistischen Denkschule in den USA und Deutschland – reüssiert, unvollständig und verzerrt die Wirklichkeit. Konsequent durchdekliniert hieße es, dass der eine Akteur – hier die Ukraine – von einem anderen Land oder einem Bündnis dazu benutzt wird, eigene Interessen durchzusetzen. Der Interessenkonflikt zwischen Russland und USA/NATO wäre danach das bestimmende Element, das den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine überlagert. Das aber ist aus mindestens zwei Gründen falsch.

Erstens ist die Ukraine zu keinem Zeitpunkt von den USA oder der NATO gedrängt worden, einen Krieg anzufangen – weder nach 2014, als der Westen sich mit der Krim-Annexion recht schnell arrangierte, noch unmittelbar vor oder nach dem russischen Angriff am 24. Februar 2022.

Zweitens war es der russische Überfall, der das Bestreben der ukrainischen Bevölkerung, sich endgültig unabhängig von Russland zu machen, immens bestärkt hat. Dies alles hat mit US- bzw. EU-Interventionen wenig zu tun. Die ukrainische Verteidigungsbereitschaft ist eine Folge des russischen Angriffs und russischer Kriegsverbrechen.

Richtig ist, dass die wachsende Abhängigkeit der Ukraine vor allem von den USA nicht zu bestreiten ist. Washington liefert das Gros der Waffen und stellt die Aufklärungsmittel zur Verfügung, ohne die man im heutigen Krieg nicht bestehen kann. Auch bei der Kriegführung dürften sich Kiew und Washington abstimmen. Solange die westliche Allianz rational und mäßigend handelt, hat das den immensen Vorteil, dass eine revanchegeleitete Eskalation der Ukraine gegebenenfalls eingefangen werden kann. Dies gilt bis heute: Die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine wurde abgelehnt, strategische Kampfflugzeuge oder Abstandswaffen mit großer Reichweite werden nicht geliefert. Es geht ganz überwiegend um auf Defensive ausgerichtete Abwehrsysteme, die das Land auch tatsächlich braucht. In Stein gemeißelt ist das wegen der Dynamik des Kriegsgeschehens nicht. Die Gefahr einer nicht mehr einzuholenden Eskalation des Krieges wächst; deshalb ist der Ruf nach neuen Anläufen für Friedensgespräche durchaus verständlich.

Wenn allerdings manche Linke von Geopolitik und Stellvertreterkrieg sprechen und ein Ende der Solidarität mit der Ukraine fordern, beschwören sie nicht nur alte Freund-Feindkoordinaten («der Feind meines Feindes ist mein Freund»), sondern verwischen zugleich das Verhältnis von Tätern und Opfern in diesem Krieg. Das aber ist moralisch inakzeptabel und politisch töricht.
 

Literatur

Balibar, Etienne (2022): Das ukrainische Paradox. Die Entstehung der Nation aus dem Geist des Krieges, in: «Blätter für deutsche und internationale Politik», 8/2022.

Dörre, Klaus (2023): Nach der Zeitenwende. Der Krieg gegen die Ukraine und der Kampf um eine neue Weltordnung, unveröff. Manuskript, erscheint demnächst im Rahmen eines «Argument»-Sonderbands.

Fischer, Sabine (2022): Friedensverhandlungen im Krieg zwischen Russland und der Ukraine: Mission impossible, SWP-Aktuell vom 28.10.2022.

Gießmann, Hans Joachim/Schäfer, Paul (2019): Friedensverhandlungen und Friedensverträge in: Hans Joachim Gießmann und Bernhard Rinke (Hg.), Handbuch Frieden, 2. Auflage, Wiesbaden 2019.

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