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Brasilien hat ein Problem mit digitaler Hetze und Desinformation

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Helena Martins,

Hoffen auf einen politischen Wandel: Anhänger*innen von Präsident Lula da Silva bei seinem Amtsantritt im Januar
Hoffen auf einen politischen Wandel: Anhänger*innen von Präsident Lula da Silva bei seinem Amtsantritt im Januar
  Foto: Tomaz Silva/Agência Brasil

Am 8. Januar 2023 randalierte ein rechter Mob in Brasília. Dem Angriff auf die Regierungsgebäude gehen Jahre der politischen Agitation durch die Regierung Bolsonaro voraus, die sich gegen die demokratischen Institutionen selbst richtete. Brasilien hat ein Problem mit digitaler Hetze und Desinformation, dem sich die neue PT-Regierung stellen muss.

In Brasilien kam es zu Beginn des Jahres 2023 zu Ereignissen, die die Herausforderungen für die neue Regierung unter Luiz Inácio Lula da Silva offenbarten. Einerseits drückt sich in Lulas Wahlsieg der Wunsch der Wähler*innen nach einem politischen Wandel aus, nachdem das Land vier Jahre lang Angriffe auf das demokratische System und seine Institutionen erdulden musste. Andererseits zeigen die Putschproteste vom 8. Januar, dass die faschistische Bedrohung noch lange nicht gebannt ist. Um zu verstehen, wie es so weit kommen konnte, ist es von grundlegender Bedeutung, den Bereich der politischen Kommunikation in Brasilien zu betrachten. Hierbei wird sich auch zeigen, welche Herausforderungen für die neue Regierung beim Wiederaufbau der brasilianischen Demokratie bestehen.

Bei den Ereignissen am 8. Januar traten jene soziale Brüche offen zu Tage, die unser Land in seiner Geschichte seit Langem prägen und die sich in den letzten Jahren verschärft haben. Tausende Bolsonarist*innen drangen in das Regierungsviertel Brasilias ein und verwüsteten und plünderten dort Gebäude. Sie erhielten dabei auch Unterstützung von den Behörden, insbesondere aus dem Kreis der Streitkräfte. Viele hegten die Hoffnung auf einen politischen Umsturz.

Helena Martins ist die Autorin des Buches «Comunicações em tempos de crise» («Kommunikation in Zeiten der Krise»), das von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem Verlag Expressão Popular veröffentlicht wurde. Sie hat an der Universität von Brasília (UnB) in Kommunikation promoviert und ist Professorin des Postgraduiertenprogramms für Kommunikation an der Bundesuniversität von Ceará (UFC). Martins ist die Herausgeberin der Zeitschrift EPTIC und hat die Übergangsregierung in Kommunikationsfragen beraten.

Ein Staatsstreich konnte letztlich vereitelt werden. Allerdings ist die Zerstörung von Regierungsgebäuden auch ein Zeichen dafür, wie weit die Deskreditierung dieser Institutionen fortgeschritten ist. Die Verantwortung dafür trägt Jair Bolsonaro, der sie während seiner Amtszeit rhetorisch ins Fadenkreuz nahm. Laut dem Institut Aos Fatos, das die Fakten politischer Nachrichten überprüft, tätigte Brasiliens Ex-Präsident in den 1.459 Tagen seiner Amtszeit 6.685 falsche oder verzerrte Aussagen. Viele Attacken richteten sich gegen den Obersten Gerichtshof. Die Bilder des zerstörten Gerichtes sollten uns daran erinnern, dass solche politischen Diskurse reale Folgen nach sich ziehen können.

Ein Großteil der brasilianischen Gesellschaft verurteilt die Ausschreitungen in Brasilia. Der Politikwissenschaftler Leonardo Avritzer weist jedoch bei der Analyse der Daten von Meinungsforschungsinstituten darauf hin, dass diese Verurteilung der Randale nicht bedeutet, dass die Befragten auch Jair Bolsonaro oder einen möglichen Militärputsch politisch ablehnen. Für ihn hängt die Zukunft von Brasiliens Demokratie von der Fähigkeit der öffentlichen Meinung ab, nicht nur bestimmte antidemokratische Akte zu verurteilen. Es müsse auch darum gehen, diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die für die politische Kultur, die diese Angriffe provoziert hat, verantwortlich sind. Alles deutet darauf hin, dass die extreme Rechte tiefe Wurzeln in der Gesellschaft geschlagen hat und Widerhall in der Bevölkerung findet. Und dass sie weiterhin Druck ausüben und versuchen wird, die neue Regierung zu destabilisieren.

Der erste Monat der Lula-Regierung: Einschränkungen für eine Neuausrichtung der Kommunikationspolitik

Die Lula-Regierung versucht, einen politischen und gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen. Dafür verbindet sie kritische Diskurse mit einer politischen Agenda, die sich an den realen Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung orientiert. Auf dem Gebiet der politischen Kommunikation sind die Vorstöße jedoch zaghaft und zum Teil widersprüchlich. Um seinen Rückhalt im Kongress auszubauen, übergab Lula das Kommunikationsministerium an die União Brasil – eine rechtsgerichtete Partei, die in der Vergangenheit Bolsonaro unterstützte. Das Ministerium ist für die Festlegung der Kommunikationspolitik zuständig. Deshalb ist in den kommenden Jahren in diesem Bereich, wie auch schon während vergangenen PT-Regierungen, kaum mit wesentlichen Veränderungen zu rechnen. Die PT wird das Sekretariat für Kommunikation (Secom) der Regierung leiten. Dieses hat den Rang eines Ministeriums und ist für die politische Kommunikation der Regierung zuständig. Unter Berücksichtigung des politischen Kontextes wurden neue Aufgabenbereiche entwickelt, deren Fokus auf den sozialen Netzwerken liegt. Es wird auch die Aufgabe der Secom sein, Initiativen für den digitalen Bereich vorzuschlagen, etwa im Kampf gegen Desinformation.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat am zweiten Tag nach dem Amtsantritt Lulas die Nationale Staatsanwaltschaft zur Verteidigung der Demokratie gegründet. Zweck der Behörde ist es, die Demokratie zu verteidigen und Desinformationen zu bekämpfen. Nach dem 8. Januar kündigte die Regierung außerdem an, sie werde Maßnahmen zur Bekämpfung von Desinformationen entwickeln und Beteiligte zur Rechenschaft ziehen. Doch die Vorlage einer konkreten Gesetzesinitiative durch das Justizministerium gestaltete sich schwierig: Es fehlt bislang an Gesetzen, die näher bestimmen, was Desinformation ist, die Transparenz garantieren oder klare Verfahren für die Moderation von Inhalten in den sozialen Medien festlegen. Zudem gibt es bisher keine Behörde, die den Sektor regulieren würde. Aufgrund dieser Unklarheiten löste die Gesetzesinitiative Bedenken aus und wurde letztendlich von der Regierung zurückgezogen.

Autoritäre Kontinuitäten

Die Wurzeln des konservativen Denkens sind auch in der langen autoritären Tradition des Landes zu suchen. Brasilien war das letzte Land des amerikanischen Kontinents, das die Sklaverei abschaffte. Es war auch das Land, das den Verantwortlichen aus der Zeit der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 Straffreiheit garantierte. Und es ist das Land, das sich nie mit diesem Erbe auseinandergesetzt hat, auch in Bezug auf die Streitkräfte, aus deren Kreis auch Jair Bolsonaro hervorgegangen ist. Nachdem er bereits von 1990 bis 2018 in der Abgeordnetenkammer den Wahlkreis des Bundesstaats Rio de Janeiro vertrat, wurde Bolsonaro 2018 zum Präsidenten gewählt. Er brachte fundamentalistische Evangelikale, die ultraliberale Bourgeoisie und das Militär politisch zusammen.

Der Bolsonarismus wird von Teilen der traditionellen Rechten unterstützt. Dass die Forderungen der extremen Rechten in der Bevölkerung Widerhall fanden, liegt auch daran, dass die politische Linke keine Antworten auf die soziale und wirtschaftliche Krise des Landes hatte. Im Jahr 2013 fanden in Brasilien Massenproteste statt, die denen des Arabischen Frühlings oder den Platzbesetzungen in den USA und Spanien im Rahmen der Occupy- und 15-M-Bewegungen glichen. Teile dieser Proteste wurden damals von der extremen Rechten vereinnahmt. Eine «anti alles»-Stimmung machte sich breit. Hinzu kam die mediale Manipulation der Antikorruptionsstimmung im Rahmen der «Operation Lava Jato». Diese begann im März 2014 mit der Untersuchung eines Geldwäsche- und Veruntreuungsskandals, an dem der Erdölkonzern Petrobras, große Bauunternehmen und Politiker*innen beteiligt waren. Dass auch hegemoniale Medienkonzerne in die Operation verstrickt waren, kam Jahre später ans Licht. Die Ermittlungen warfen ein negatives Licht auf die Linke, insbesondere auf die Arbeiterpartei PT, die damals an der Regierung war.

Mit der Amtsenthebung von Dilma Rousseff 2016 war der Weg für die Umsetzung einer ultraliberalen Agenda frei, die von der nicht gewählten Nachfolgeregierung Temer vollzogen wurde. Jedoch war damals schwer vorstellbar, dass aus den Trümmern dieser Austeritätspolitik und der sozialen Fragmentierung der brasilianischen Gesellschaft eine politische Gruppe hervorgehen würde, welche die Wege der traditionellen Politik unterlaufen und die traditionelle Presse angreifen würde. All das fiel in eine Zeit, in der sich politische Kommunikation durch die zunehmende Verbreitung von mobilen Endgeräten und sozialen Netzwerken radikal veränderte. Die neuen digitalen Möglichkeiten ersetzten vielerorts politische Parteien und andere für die liberale Demokratie typische Akteure der politischen Meinungsbildung. Zudem ermöglichten sie es jenen Teilen der Bevölkerung, die bisher weitestgehend von öffentlichen Debatten ausgeschlossen waren, sich stärker politisch einzubinden. Seit 2013 nutzten Gruppen diese digitalen Entwicklungen, um zu Protesten aufzurufen und einer sozialen Wut Ausdruck zu verleihen.

Desinformation als politische Strategie

Selbstverständlich sind Lügen, Dekontextualisierung und das Auslassen von Fakten in der Politik kein neues Phänomen. Allerdings wird Desinformation heutzutage bewusst als Strategie eingesetzt, um politische oder wirtschaftliche Ziele zu erreichen. Der rechtsextreme Flügel um Jair Bolsonaro hat nach dem Vorbild anderer Länder, insbesondere der USA, ein komplexes Kommunikationssystem zur Verbreitung von Desinformationen aufgebaut. Es gibt Websites und YouTube-Kanäle mit Hunderttausenden Followern, Seiten in sozialen Netzwerken und organisierte Gruppen in Kurznachrichtendiensten (zuerst WhatsApp, dann Telegram), die einerseits darauf abzielen, demokratische Institutionen und die Linke anzugreifen. Andererseits versuchen sie, eine politische Kultur auf Grundlage konservativer Werte aufzubauen. Bolsonaro und seine Söhne spielen bei der Organisation dieser Narrative eine Schlüsselrolle. Sie verfolgen eine Strategie der direkten digitalen Kommunikation, die mit der Logik des demokratischen Rechtsstaats und seiner zwischen Bürger*innen und Politik vermittelnden Institutionen bricht. Es geht dabei darum, andere politische Akteure wie die Medien und den Obersten Gerichtshof zu untergraben.

In seiner Regierungszeit gründete Bolsonaro das «gabiente do ódio» (Hasskabinett). Aus der Regierung heraus förderte dieses Hasskabinett Desinformationen und attackierte das ohnehin schon schwache öffentliche Kommunikationsnetzwerk. Der damalige Präsident stand in direktem Austausch mit der Bevölkerung, vor allem über Twitter und YouTube. Auch auf TikTok und damals weniger bekannten Plattformen wie Twitch war Bolsonaro sehr früh präsent. Außerdem konnte er sich auf die Unterstützung eines Teils der Medien verlassen, wie die Fernsehsender Record (evangelikaler Sender, Anm. d. Übersetzers) und Sistema Brasileiro de Televisão sowie das Radionetzwerk Jovem Pan. Rund um die Familie Bolsonaro hat sich eine Gruppe gebildet, die in einer politischen Parallelwelt zu leben scheint. Die Mechanismen der sozialen Netzwerke halten sie in algorithmischen Blasen gefangen. Es gibt keine Widersprüche, keinen Dialog. Dafür gibt es eine für den Faschismus typische und von Bolsonaro populär gemachte Unterscheidung zwischen «Wir» und «Sie». «Wir» sind in diesem Fall die Patriot*innen, «die Verteidiger*innen der Familie und der Freiheit». «Sie» sind «die korrupten Linken» und Anhänger*innen des Libertinismus.

Auch bei den Wahlen von 2022 wurden Desinformationsstrategien genutzt. Gerade im zweiten Wahlgang gewannen sie an Stärke. Neben Korruption konzentrierte sich das Bolsonaro-Lager vor allem auf Themen rund um Werte und Religion. Die Linke, die auf Twitter sehr aktiv war, gewann auch in den anderen Netzwerken wie Instagram mehr Anhänger*innen. Facebook ist für viele Brasilianer*innen weiterhin einer der wichtigsten Informationsquellen, von vielen Linken wird es jedoch als veraltet betrachtet. Auch auf YouTube hat die Linke meist das Nachsehen, trotz der Bemühungen, dort unabhängigen Journalismus zu produzieren.

Der Rechten in den Medien entgegentreten

Im Bereich der Kommunikation ist es dringend notwendig, der weit verbreiteten Medienkonzentration in Brasilien entgegenzutreten. Dazu zählt der Mangel von Pluralität und Vielfalt im Fernsehen. Heute ist dieses weitgehend von fundamentalistischen Diskursen durchdrungen sowie von Inhalten, die Menschenrechten und Ideen des linksgerichteten Spektrums entgegenstehen. Die Desinformation im Internet hängt auch mit dessen heutiger Konfiguration zusammen. Dahinter stehen kapitalistische Interessen der digitalen Plattformen und ein Geschäftsmodell, das auf der Nutzung von Daten, ohne jegliche ethische und politische Verpflichtung, beruht. Im Streit um die meiste Aufmerksamkeit verfolgen die Plattformen das Ziel, die Menschen direkt mit einem Inhalt in Verbindung zu bringen. Das führt dazu, dass immer extremere Inhalte die Runde machen, die viele Kommentare und Likes erzeugen – auch wenn sie nicht wahr sind. Nachdem die PT in ihren früheren Amtszeiten wenig in diesem Bereich unternommen hat, zeigt das neue Regierungsprogramm Ansätze einer alternativen Kommunikationspolitik. Das beginnt mit der dringend notwendigen Debatte über die Regulierung der großen Plattformen. Organisationen der brasilianischen Zivilgesellschaft, wie die Coalizão Direitos na Rede (Koalition der Rechte im Netz), die Dutzende von Gruppen zusammenbringt, fordern beispielsweise die Verabschiedung eines Transparenzgesetzes. In der EU wurden kürzlich zwei Gesetze über Marktregulierung und digitalen Dienstleistungen verabschiedet. Brasilien darf sich diesem Szenario nicht verschließen und muss sich mit seiner eigenen Perspektive in die Debatte um demokratische Regulierungen einbringen. Das ist wichtig, um der Vergiftung der öffentlichen Debatte und der Instrumentalisierung der sozialen Netzwerke durch faschistische Politik entgegenzutreten.

 
Übersetzung: Niklas Franzen