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Ein Putsch blieb aus, doch der Einfluss des Militärs auf das demokratische System bleibt gefährlich

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Rodrigo Lentz,

«Kein Vergeben» Demonstrant*innen in Brasília fordern, das die Verantwortlichen der rechten Randale zur Rechenschaft gezogen werden müssen.
«Kein Vergeben»
Demonstrant*innen in Brasília fordern, dass die Verantwortlichen der rechten Randale am 8. Januar zur Rechenschaft gezogen werden müssen. CC BY-NC 2.0, Ana Pessoa/Mídia NINJA, via Flickr

Im Oktober 2022 gewann Lula da Silva mit seiner Arbeiterpartei PT knapp die Präsidentschaftswahlen in Brasilien und löste damit Jair Bolsonaros Amtszeit ab. Ein befürchteter Putsch nach Lulas Wahlsieg blieb aus. Dennoch ist die Einflussnahme von politischen Akteuren innerhalb des Militärs auf das demokratische System weiterhin stark und besorgniserregend. Bereits im Vorfeld versuchten sie, die Wahlen zu delegitimieren und erwarteten bei den Angriffen auf das Regierungsviertel am 8. Januar 2023 einen Vorwand zum Putsch. Eine Analyse des Agierens des Militärs in den politischen Auseinandersetzungen Brasiliens seit dem Wahlsieg des Präsidenten Luis Inácio da Silva.
 

Im Vorfeld der brasilianischen Präsidentschaftswahlen im Oktober 2022 veröffentlichte ich eine Analyse über das Verhalten des brasilianischen Militärs in den politischen Auseinandersetzungen. Das Land erlebte damals zwar keinen klassischen Militärputsch, jedoch kam es zu einer massiven Verbreitung von Fehlinformation und Störungsversuchen des Wahlakts durch Angehörige der Streitkräfte. Auch die Polizei radikalisierte sich politisch und es kam insgesamt zu einem erhöhten Einsatz von politischer Gewalt. Im Falle einer wahrscheinlichen Wahlniederlage Bolsonaros war der Plan des Militärs, eine institutionelle Krisenlage zu erzeugen, um so eine «schlichtende Intervention» der Streitkräfte zu legitimieren. Im Klartext heißt das: ein Putsch, der zum Machterhalt der Militärs geführt hätte.

Es handelt sich um ein neues Kapitel in der Krise der brasilianischen Demokratie, die im Juni 2013 mit der rechten Instrumentalisierung von Protesten zur Senkung der Busfahrpreise in São Paulo angestoßen wurde. Der folgende Text untersucht die Rolle des Militärs im Kampf um die politische Macht in Brasilien ausgehend vom Wahlkampf über den Amtsantritt Lulas bis hin zum missglückten Putschversuch vom 8. Januar 2023. 

Operation Wahlen

Die Militäroperation zur Destabilisierung des Wahlsystems wurde dadurch begünstigt, dass der Bundesrichter Luis Roberto Barroso die Streitkräfte einlud, einer Kommission zur Wahlbeobachtung beizutreten. Der damalige Präsident des Obersten Wahlgerichts (TSE)[1] verfolgte damit eine altbekannte Strategie: Er versuchte, die militärische Führung – in diesem Fall den Verteidigungsminister, Armeegeneral Paulo Sérgio Nogueira – gegen die «autoritären Bestrebungen» des Staatschefs Bolsonaro einzubinden.

Wie die Geschichte zeigt, ist Militäroberhäuptern diese Strategie bekannt. Sie täuschen die Kooperation vor, während sie tatsächlich eine eigene politische Agenda verfolgen. Im Fall von Nogueira bestand das Ziel darin, die Militärs durch eine Destabilisierung des Wahlprozesses und der Verfassungsinstitutionen so lange an der Macht zu halten, bis institutionelle Änderungen akzeptiert würden. Derartige Aktionen wurden von Generälen und Obersten geplant, während Bolsonaro für die politische Bühne verantwortlich blieb.

Rodrigo Lentz ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Brasilia, Forscher am Observatorium für Verteidigung und Souveränität des Instituto Tricontinental und Autor des 2022 erschienenen Buches «República de Segurança Nacional: militares e política no Brasil» («Republik der nationalen Sicherheit: Militär und Politik in Brasilien»).

Das Verteidigungsministerium wurde offen in ein Ministerium der Streitkräfte umgewandelt. Die militärischen Mitglieder der Wahlkommission nahmen den elektronischen Wahlprozesses als Vorwand, um Zweifel an der Legitimität der Wahlen zu säen. Ein Angehöriger der Streitkräfte wurde aufgrund der systematischen Verbreitung von Fehlinformationen sogar aus der Kommission entlassen. Erst nachdem der Oberste Bundesrichter Alexandre de Moraes den Vorsitz über das Wahlgericht übernommen hatte, ließen die destabilisierenden Aktivitäten allmählich nach. Moraes entschlossenes, aber kalkuliertes Handeln brachte ihm in weiten Teilen der brasilianischen Bevölkerung den Ruf eines Erzfeindes des Bolsonarismus und eines großen Verteidigers der Demokratie ein.

Neben der Operation zur Destabilisierung des Wahlprozesses setzten Bolsonaro und sein Vizepräsidentschaftskandidat Braga Netto alle staatlichen Mittel ein, die für einen Wahlsieg als notwendig erachtet wurden. In den drei Monaten vor der Wahl verteilte die Regierung 200 Mrd. Reias (rund 37 Mrd. Euro) an befristeter Sozialhilfe und zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang gab die von der Regierung kontrollierte öffentliche Bank Kredite von 7,6 Mrd. Reais (rund 1,5 Mrd. Euro) an etwa drei Millionen Menschen aus.

Auch die Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag mit ihren traditionellen Militärparaden am 7. September wurden vor den Kasernen wie in vergangenen Jahren für Wahlzwecke missbraucht. In den Kasernen herrschte eine Atmosphäre der breiten Unterstützung der 1.257 militärischen Kandidaturen und Identifikation mit den Kandidaten der Militärfraktion, die zur Wiederwahl angetreten waren. Militärs, die sich öffentlich für Lula aussprachen und die Nachlässigkeit der Befehlshabenden angesichts der systematischen Verletzung des Militärstatuts kritisierten, wurden disziplinarisch verfolgt – wie im Fall des Reserveoberst Marcelo Pimentel, auf dessen Kritik an der politischen Rolle der Streitkräfte fünf Disziplinarverfahren folgten.

Nachdem sie den ersten Wahlgang verloren hatte, wendete sich die Militärfraktion in einer breit angelegten Offensive gegen die Wähler*innenschaft und den Wahlprozess selbst. Den Höhepunkt der Eingriffe stellte dabei die Operation der Bundesverkehrspolizei (PRF) am Vorabend und am Tag der Wahlen dar, die die Wähler*innen der nordöstlichen Region des Landes in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkte. Die Region gilt weitgehend als eine politische Hochburg Lulas.

Der drastische Machtmissbrauch sorgte für große Aufregung am Wahltag, doch etwa vier Stunden nach Schließung der Wahllokale stand die Niederlage der Militärfraktion fest und im ganzen Land strömten Menschen auf die Straßen, um den Sieg der PT zu feiern. Die rasche Anerkennung des Wahlergebnisses durch die Legislative, die Judikative und auch internationale Staatsoberhäupter, wie etwa US-Präsident Biden, bedeuteten die Niederlage der politischen Fraktion in den Streitkräften. Doch für die Generäle stand noch eine weitere Schlacht bevor: sie wollten die Amtsübernahme Lulas verhindern.

Prozess der Amtsübernahme

Nach Straßenblockaden und gewalttätigen Zwischenfällen in Regionen wie Santa Catarina und Roraima, in denen Bolsonaro mehrheitlich unterstützt wurde, fanden sich die Gegner*innen des Wahlergebnisses vor Brasiliens Kasernen zusammen. Bolsonaro, Braga Netto und Geheimdienstchef General Augusto Heleno schwiegen und weigerten sich, den Sieg der Opposition anzuerkennen. Ihr Schweigen beförderte den Diskurs von einem angeblichen Wahlbetrug und trug dazu bei, dass sich ihre Anhänger*innen in Protestlagern vor den Kasernen des Landes versammelten und einen Staatsstreich der Streitkräfte forderten.

Braga Neto war dafür verantwortlich, von Brasilia aus das «Hauptquartier des Putsches» zu befehligen und mit den loyal gebliebenen Abgeordneten, Reservist*innen und Familienangehörigen aktiver Soldat*innen, dem Hauptpublikum der Protestlager, in Verbindung zu treten. Darüber hinaus koordinierte er die Finanzierung über Kontakte mit Geschäftsleuten des Handels- und Agrarsektors. General Heleno seinerseits blieb an der Spitze des Kabinetts für institutionelle Sicherheit (GSI), von wo aus er geheimdienstliche Informationen lieferte und versuchte, das Übergangskabinett der neuen Regierung zu destabilisieren.

Für die amtierenden Generäle war die Erzählung von einem angeblichen Wahlbetrug entscheidend, um die Mobilisierung ihrer Anhänger*innen weiter aufrechtzuerhalten. Zehn Tage nach Bekanntmachung der Wahlergebnisse legte Verteidigungsminister Nogueira einen Abschlussbericht über die Beteiligung der Streitkräfte an der Wahlbeobachtungskommission vor, in der zwar weder Betrug noch Ungereimtheiten festgestellt werden konnten, aber auch nicht explizit ausgeschlossen wurden. Mit dem Ziel eines Putsches wurden also erneut Zweifel am Wahlprozess aufrechterhalten und weiter geschürt.

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Anschuldigungen seitens der Behörden und der Bevölkerung traten die Befehlshaber des Heeres (General Freire Gomes), der Marine (Admiral Garnier Santos) und der Luftfahrt (Baptista Júnior) kurz nach der Bekanntmachung des Verteidigungsministers an die Öffentlichkeit, und verbreiteten die Idee eines Militärputsches mit ihren Äußerungen weiter. Sie sprachen sich für eine «schlichtende Intervention» im Falle eines Konflikts zwischen den Verfassungsorganen aus, kritisierten die «Einschränkungen der Rechte» durch die Justiz, verlangten eine Reaktion des Parlaments, um «mögliche Willkür oder autokratische Verfehlungen» zu korrigieren und verteidigten die «Volksdemonstrationen» vor den Kasernen.

Die Befehlshabenden vertuschten zudem, dass die Militärpolizei die gerichtliche Anordnung erhalten hatte, die antidemokratischen Protestlager zu räumen. Stattdessen unterstützten sie die Protestierenden in den Camps vor den Kasernen weiterhin. In mehreren Fällen wurden die Truppen offen zum Ungehorsam gegenüber Befehlen «anderer Mächte» aufgefordert. Die Generäle behaupteten geschlossen, die Demonstrationen würden «ordnungsgemäß und friedlich» verlaufen. Diese Rhetorik wählte auch Bolsonaro, als er sein Schweigen brach, ohne das Wahlergebnis anzuerkennen. General Campos Allão beteuerte, «das Böse [würde] durch das Gute besiegt werden.»

Um die Autorität des gewählten Präsidenten in Frage zu stellen, drohten die damaligen Kommandanten damit, vorzeitig abzutreten, um «aus politischen Gründen» bei der Amtsübernahme Lula nicht salutieren zu müssen. Angesichts dieses Szenarios entschied sich Lula für eine eher versöhnliche Strategie, indem er bei wichtigen Entscheidungen im Zusammenhang mit seiner Amtsübernahme konservative Forderungen übernahm:

  • Erstens wurde im Verteidigungsressort im Gegensatz zu den sonstigen Ressorts keine Arbeitsgruppe für den Regierungswechsel eingesetzt. Auch im Bereich der institutionellen Sicherheit und der Nachrichtendienste wurden erst mit Verspätung entsprechende Arbeitsgruppen eingerichtet.
  • Zweitens wurde José Múcio zum Verteidigungsminister ernannt – ein Politiker der traditionellen und konservativen Rechten, der bei den Behörden der drei Staatsgewalten breites Ansehen und die Sympathie der Armee genießt. Sein Mandat wurde von Hamilton Mourão, gewähltem Senator und einem der wichtigsten Vertreter der Generalversammlung, befürwortet.
  • Drittens übernahm Lula das Dienstalter als Kriterium für den Führungswechsel der Streitkräfte – ein Kriterium, das den Einfluss der politischen Kräfte zugunsten der Vorherrschaft der Militärpolitik innerhalb der Streitkräfte einschränkt, welche unter dem Kommando von Vier-Sterne-Generälen stehen – die größtenteils im letzten Jahrzehnt parteiisch geworden sind.
  • Viertens sicherte er die Übergabe des Verteidigungsministeriums an die Streitkräfte, ohne eine Änderung der Verteilung der leitenden politischen Posten von Heer, Marine und Luftwaffe vorzunehmen.
  • Fünftens behielt Lula einen Armeegeneral an der Spitze des Kabinetts für institutionelle Sicherheit (GSI) – Divisionsgeneral Gonçalves Dias. Auch die Aufgabenverteilung wurde nicht verändert und das Team des ehemaligen Ministers, General Heleno, beibehalten.
  • Sechstens bekräftigte er seine Bereitschaft, in die Rüstungsindustrie zu investieren und etwa in Fragen von Beförderungskriterien und der militärischen Ausbildung nicht in die autoritäre Autonomie des Militärs einzugreifen.

Im Gegenzug forderte Lula die Anerkennung des Wahlergebnisses und seiner Autorität als Präsident, die Auflösung der antidemokratischen Camps und die «Entpolitisierung» der Kasernen.

Im Rahmen dieser Vereinbarungen begann der neue Verteidigungsminister Múcio, sich für die politischen Positionen des Militärs einzusetzen. Das ging so weit, dass er erklärte, die Putschlager seien ein «Ausdruck der Demokratie» und er habe selbst Verwandte, die daran teilnehmen würden. Selbst nachdem Bewohner*innen des Camps vor dem Armeehauptquartier in Brasília das Hauptquartier der Bundespolizei angegriffen hatten und ausgerechnet am Tag der Ernennung Lulas Busse und Autos vor dem Obersten Wahlgericht anzündeten sowie nach einem vereitelten Bombenanschlag auf den Flughafen sprach sich Múcio für eine «natürliche und spontane Demobilisierung» aus. Damit unterstützte er die Linie des neuen Armeekommandeurs General Arruda, der eine Einhaltung der richterlichen Räumungsanordnung durch «schrittweise» Demobilisierungsmaßnahmen lediglich simulierte.

Faschistischer Putschversuch

Am 8. Januar 2023 kam es zu einem in der Geschichte des Landes einmaligen Angriff auf den Sitz der drei Staatsgewalten der Republik in Brasília durch etwa 4.000 Menschen, die vor dem Armeehauptquartier mobilisiert wurden, wobei die Regierung und die Militärpolizei des Bundesdistrikts (PM/DF), das Kabinett für Institutionelle Sicherheit der Präsidentschaft (GSI), das Verteidigungsministerium, das Kommando der Präsidentengarde (Armee), das Planalto-Militärkommando (CMP) sowie der Befehlshaber der Armee General Arruda in bisher unbekanntem Umfang beteiligt waren.

Die eindringlichen Bilder von den gewaltsamen Angriffen auf die Institutionen der brasilianischen Demokratie wurden von den Behörden und der Bevölkerung über Fernsehen und Internet in Echtzeit verfolgt. Die Sabotage innerhalb der Bundesregierung und die Autoritätskonflikte zwischen Lokal- und Bundesregierung sowie mit der Armee wurden dabei öffentlich sichtbar.

Es ist der schnellen Reaktion des Präsidenten und des Justizministers zu verdanken, dass die Ereignisse nicht tatsächlich in einem Putsch endeten. Noch am Abend ordnete Lula eine Bundesintervention (Intervenção federal) an, welche die Autonomierechte des Hauptstadtbezirks beschränkte und der Bundesregierung die Kontrolle über die öffentliche Sicherheit übertrug. Damit durchkreuzte er den vom Verteidigungsminister unterstützten Plan der Armee einer Operation zur Gewährleistung von Recht und Ordnung (Garantia da Lei e da Ordem, GLO). Hierbei handelt es sich um eine autoritäre Regelung der Verfassung von 1988, die der Armee zur Wiederherstellung der «öffentlichen Ordnung» polizeiliche Aufgaben überträgt. Wie die Soziologin und Ehefrau des Präsidenten Janja da Silva feststellte, hätte die Befolgung dieses Rates bedeutet, dem Militär die Lösung einer Krise zu überlassen, in der es selbst die Hauptrolle spielte. Ein Szenario, in dem die Armee unter dem Vorwand der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung die Esplanade der Ministerien einnimmt, wäre der Auftakt für den Staatsstreich gewesen, für den seit Monaten in den Militäreinrichtungen mobilisiert wurde. Nur die Bundesintervention vereitelte das trojanische Pferd der GLO.

Wie entscheidend diese Bundesintervention war, zeigte sich, als in der Nacht des 8. Januar Truppen der Militärpolizei, die bereits unter dem Befehl der Bundesregierung standen, von der Armee daran gehindert wurden, die Verantwortlichen der Ausschreitungen festzunehmen, die sich in das Lager vor dem Armeehauptquartier geflüchtet hatten. Mit Panzern und Kampffahrzeugen blockierten General Arruda und der Kommandeur des CMP den Zugang zum Lager und drohten mit einer gewaltsamen Konfrontation. Erst am nächsten Morgen, nach der koordinierten Evakuierung der Verantwortlichen des Anschlags durch die Armee, gelang es der örtlichen Militärpolizei, insgesamt 1.398 Personen festzunehmen.

Die faschistischen Ausschreitungen des 8. Januar waren folgenreich. Neben der Verhaftung von Kommandeuren der Militärpolizei sowie der Polizei des Regierungsbezirks und des lokalen Sicherheitsministers Anderson Torres, eines Bundespolizisten, der Wochen zuvor noch Bolsonaros Justizminister war, stellte die vorübergehende Amtsenthebung des lokalen Gouverneurs den Auftakt zu einer breiten Initiative dar, die darauf abzielte, die zivilen und militärischen Drahtzieher*innen zur Verantwortung zu ziehen. In den kommenden Monaten stärkte der Vorfall die Führungsposition Lulas und seiner Regierung und fiel dem bolsonaristischen Lager zur Last, das für die Ausschreitungen am 8. Januar verantwortlich war.

Am folgenden Tag zeigten Pressebilder, wie Lula flankiert von den Repräsentant*innen der drei Staatsgewalten und gefolgt von fast allen Gouverneur*innen der Bundesstaaten die Rampe des zerstörten Planalto-Palastes hinunterging, eine zweite Amtseinführung – um unmissverständlich zu demonstrieren, dass die Institutionen der Republik hinter dem demokratisch gewählten Präsidenten stehen. Ein weiteres historisches Bild hatte es bereits bei seinem Amtsantritt am ersten Januar gegeben, als Lula die Präsidentenschärpe aus der Hand von Volksvertreter*innen erhielt, da sein Vorgänger Bolsonaro der Veranstaltung fernblieb. Da die breite Öffentlichkeit die Anschläge und Repressionsmaßnahmen verurteilte, gingen Lula und sein Kabinett – wenn auch vorübergehend – deutlich gestärkt aus den Zwischenfällen hervor.

Das Szenario allgemeiner Unterstützung bot dem gewählten Präsidenten schließlich die Möglichkeit, seine Rolle als Oberbefehlshaber der Streitkräfte einzunehmen. Angesichts der eindeutigen Beweise für die Beteiligung des Militärs an den Ausschreitungen vom 8. Januar begann Lula, die Streitkräfte offen zu kritisieren und bekundete seinen Vertrauensverlust gegenüber den Befehlshabenden. Zwar wehrte er sich gegen Entlassungen im Verteidigungsministerium und GSI, forderte aber die Generäle dazu auf, Maßnahmen zu ergreifen, um das Militär zur Rechenschaft zu ziehen. Bei einem Treffen mit Geschäftsleuten kündigte er zudem eine Wende bei der Förderung der Rüstungsindustrie an.

Nach dem gescheiterten Putschversuch hatte sich das Oberkommando der Armee (ACE) bereits auf einen Kurswechsel geeinigt, der darauf abzielte, «das Blatt zu wenden» und das Wahlergebnis sowie die Autorität des gewählten Präsidenten anzuerkennen. Da das Image der Armee nach sechs Jahren zunehmender Parteilichkeit beschädigt war – in Umfragen wurde ihr weniger vertraut als der Regierung oder der Militärpolizei – brachte diese «Unterordnung» aus den traditionellen Reihen der militärischen Führung eine «Rückkehr zur Normalität».

Die interne Debatte wurde von einem der damaligen Anwärter auf das Kommando der Streitkräfte, General Tomás Paiva, öffentlich gemacht. In einer Rede vor den Truppen des Militärkommandos Ost verteidigte Paiva nachdrücklich die Entpolitisierung der Streitkräfte und die Achtung des Wahlergebnisses und der Autorität des gewählten Präsidenten. Nachdem General Arruda sich geweigert hatte, konkrete Maßnahmen gegen den Bolsonarismus in den Streitkräften zu ergreifen, und zurückgetreten war, wurde Paiva damit zum neuen Befehlshaber der Armee ernannt. Die Rückkehr zur «Normalität» der Beziehungen zwischen Regierung und Streitkräften würde demnach bedeuten, die Bereiche autoritärer Autonomie des Militärs zu garantieren und im Gegenzug politische Unparteilichkeit erwarten zu können.

Drei große Herausforderungen für Lula

Nach der gewonnenen Wahl standen Lula und die demokratische Fraktion vor drei großen Herausforderungen, um ihre Regierungsfähigkeit in der kommenden Amtszeit behaupten zu können. Die erste war die Bildung einer parlamentarischen Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses durch die Besetzung der Ministerien und strategischer Positionen sowie der Wahl der Vorsitzenden des Senats und der Abgeordnetenkammer für die nächsten zwei Jahre. Dies gelang der neuen Regierung, einschließlich der Verabschiedung einer Ausweitung des Haushalts zur Umsetzung der wichtigsten wirtschaftlichen Maßnahmen.

Die zweite und noch größere Herausforderung lag in der Wirtschaftspolitik, denn eine funktionierende Wirtschaft ist wichtige Grundlage für politische Stabilität und soziale Gerechtigkeit. Sowohl bei der Zusammenstellung des Wirtschaftsministeriums als auch bei der Gestaltung der Wirtschaftspolitik musste Lula sich einer offenen Kampagne der Befürworter*innen des «Marktes» stellen, die darauf abzielte, die neoliberale Politik der Regierung Bolsonaro aufrechtzuerhalten. Auch dieser Herausforderung wurde zumindest vorerst erfolgreich begegnet: Fernando Haddad (PT) wurde Finanzminister und Simone Tebet der Mitterechtspartei Brasilianische Demokratische Bewegung (MDB) Planungsministerin. Zudem wurden enge Vertraute der Regierung in staatlichen Unternehmen und Banken eingesetzt.

Die dritte Auseinandersetzung betraf das Militär, das die wichtigste Oppositionsgruppe mit erheblicher sozialer und kultureller Reichweite innerhalb des Staates darstellt. Es scheint, dass die meisten Generäle erkannt haben, dass das politische Engagement der Streitkräfte eingeschränkt werden muss. Es geht nun darum, dass diese Erkenntnis weiterhin ernst genommen wird. In der Politik ist die Rückkehr zur Normalität bereits erklärte Linie des ehemaligen Verteidigungsministers und aktuellen Regierungschefs im Senat, Jacques Wagner. Für ihn sind die Militärs ein Teil der Mittelschicht, die im Zuge der  Operation Lava-Jato[2] einer Gehirnwäsche unterzogen wurden. Selbst General Villas-Bôas Verhalten, der sich 2018 als Kommandant der Streitkräfte in aller Öffentlichkeit parteiisch in die Korruptionsermittlungen gegen Lula einmischte, stelle nur eine kleine Entgleisung in einem sonst vorbildlichen, demokratischen und professionellen Auftreten dar. Das bedeutet, dass die Autonomie des Militärs innerhalb des brasilianischen Staates erhalten werden soll. Ein gutes Beispiel dafür ist die Neuverteilung der GSI-Positionen zwischen Heer, Marine und Luftwaffe: Generäle mit Verbindungen zu Heleno schieden aus und Generäle mit Verbindungen zum ehemaligen Oberkommandanten General Villas Bôas rücken nach. Auf der anderen Seite wird versprochen, die Militärs, die an den faschistischen Ausschreitungen beteiligt waren, zur Rechenschaft zu ziehen und den brasilianischen Geheimdienst ABI zu entmilitarisieren und dem Kabinettschef zu unterstellen – eine traditionell zivile, doch zuletzt auch militarisierte Behörde.

Doch wird es jenseits der autoritären «Normalität» militärischer Herrschaft eine demokratische Normalität der Beziehung zwischen der bewaffneten Staatsgewalt und der politischen Führung geben, die der Souveränität der Bevölkerung unterliegt? Wird es einen Strukturwandel der brasilianischen Streitkräfte geben? Es scheint angebracht, darauf hinzuweisen, dass sich dieses Jahr zum zehnten Mal die sozialen Massenproteste vom Juni 2013 jähren und die Ursachen noch immer nicht grundlegend angegangen wurden. Auch wenn Lulas Amtsantritt einen Kurswechsel bedeutet, bezieht sich dieser bisher größtenteils auf strukturelle Veränderungen in den Streitkräften.

Letzten Endes braucht es strukturelle Lösungen für die aus der neoliberalen Ära stammenden Verteilungskonflikte und auch die Beteiligung der Bürger*innen am politischen System muss neu gedacht werden. Eine wirtschaftliche Entwicklung ohne grundlegende Veränderungen könnte schnell von einer neuen politischen Krise eingeholt werden. Auch in dieser Phase des Klassenkampfes wird das Bewusstsein der Bevölkerung über das Verhältnis zwischen Regierung und Selbstorganisierung der Schlüssel zu einer tragfähigen Lösung in Brasilien sein.

 
Übersetzung: Alina Salzer


[1] In Brasilien besteht das Wahlgericht seit 90 Jahren und setzt sich aus zwei Minister*innen (=Richter*innen) des STF, zwei des STJ (Oberster Gerichtshof) und zwei Jurist*innen zusammen, die vom STF nominiert und vom Präsidenten der Republik ernannt werden.

[2] Politisch motivierte Prozesse zur Korruptionsbekämpfung, in Folge derer insbesondere Politiker*innen des linken Spektrums, unter andeem Lula, verurteilt wurden.