Nachricht | Parteien- / Bewegungsgeschichte - Deutsche / Europäische Geschichte - Partizipation / Bürgerrechte - Westeuropa Das Versagen des deutschen Bürgertums

Das Scheitern der Revolution von 1848 stellte die Weichen für den reaktionären Weg zur deutschen Einheit – und darüber hinaus, meint Albert Scharenberg.

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«Erinnerung an den Befreiungskampf in der verhängnisvollen Nacht 18.–19. März 1848», Kreidelithographie, koloriert, gedruckt im Verlag Winckelmann, Eigenth. v. C. Glück, Berlin (genaues Datum unbekannt). Foto: Wikimedia Commons

In diesen Tagen könnte die bundesdeutsche Gesellschaft den 175. Jahrestag der Revolution von 1848 begehen. Denn diese Revolution schuf das erste gesamtdeutsche Parlament und markiert deshalb so etwas wie die Geburtsstunde der deutschen Demokratie. Überdies kam es mit der Gründung der ersten Gewerkschaften auch zur Geburt der organisierten Arbeiterbewegung.

Albert Scharenberg ist Referent für Publikationen und Redakteur für internationale Politik bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

In der Populärkultur kommt dieses Jubiläum indes kaum zur Sprache. Schämt sich das Bürgertum etwa für das epische Versagen der eigenen Klasse in und nach der Revolution? Grund genug dafür gäbe es jedenfalls, sollte doch der Sieg der fürstlichen Konterrevolution über den demokratisch-republikanischen Aufbruch die Macht der traditionellen Oberklassen konservieren und Deutschland für ein ganzes Jahrhundert prägen. Die Revolution bzw. ihr Scheitern markiert in diesem Sinne den vielleicht wichtigsten Schlüsselmoment in der deutschen Geschichte. Wie konnte es dazu kommen?

Erster Akt: Der Auftritt der Volksmassen

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der Ursprung der deutschen Revolution von 1848 im Ausland lag. Die Französische Revolution war die Morgendämmerung der Volksherrschaft, die dem Ancien Régime am Ausgang des 18. Jahrhunderts ein Ende setzte. Damit war auch die traditionelle Rechtfertigung des absolutistischen «Gottesgnadentums» historisch obsolet, obschon das Auf und Ab der Geschichte noch einige Zeit brauchen sollte, bis der tote Hund tatsächlich tot war.

Im Krebsgang der Revolution exportierte dann Napoleon Bonaparte, als er fast ganz Europa unterwarf, manche ihrer Ideen in den Tornistern seiner Soldaten und damit auch nach Deutschland. Unter der vereinten Macht der Soldaten und des Code Civil brachen die alten Mächte zusammen. 1806 legte Franz II. in Wien die Kaiserkrone nieder, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das sich im 10. Jahrhundert gebildet hatte, gehörte nun der Vergangenheit an. Sogar Preußen sah sich nach seiner vernichtenden Niederlage bei Jena und Auerstedt genötigt, den eigenen Staatsapparat zu modernisieren.

In den sogenannten Befreiungskriegen, in denen sich die von Frankreich besetzten Länder gegen die napoleonische Herrschaft auflehnten, appellierten die deutschen Monarchen dann ganz gezielt an ein «nationales Bewusstsein» der Deutschen und nährten damit die Hoffnung auf eine andere Form der Herrschaft. Nach der Völkerschlacht bei Leipzig, in der die vereinten Truppen der Koalition Napoleons Armee 1813 besiegten und damit das Ende seiner Herrschaft einläuteten, wurde dieser Nationalismus allerdings fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel. Die Mobilisierung der Volksmassen schien den Majestäten dann doch zu gefährlich.

Zweiter Akt: Von der Restauration zur Revolution

Auf dem Wiener Kongress wurden stattdessen die alten Herrscher wiedereingesetzt. Die «Heilige Allianz» der «drei Schwarzen Adler» – Russland, Österreich und Preußen – wollte die Französische Revolution am liebsten ungeschehen machen. Aber da war der demokratische Geist bereits aus der Flasche entwichen, und es gab kein Zurück mehr. Die folgenden Jahrzehnte waren deshalb in ganz Europa gekennzeichnet vom Ringen um die Vorherrschaft zwischen den bürgerlichen Kräften – den Geschäftsleuten, Journalisten, Unternehmern, Anwälten, Professoren und Studenten, die in Richtung Demokratie und Republik drängten – und den alten Mächten ständischer Restauration.

Die «drei Schwarzen Adler», die im 18. Jahrhundert bereits Polen unter sich aufgeteilt hatten, blieben der Hort der europäischen Reaktion. Mit den Karlsbader Beschlüssen erklärten sie 1819 Liberalismus und Demokratie den Krieg und zogen die Repressionsschraube an. Die Meinungsfreiheit wurde beendet, die Presse zensiert, die Turnplätze wurden geschlossen, die Burschenschaften verboten, die Universitäten überwacht und liberal gesinnte Professoren entlassen.

Das Scheitern der Revolution bedeutete auch das Ende der republikanisch-revolutionären Ambitionen des deutschen Bürgertums. Es sollte sich von dieser Niederlage nicht mehr erholen.

Die alten Mächte konnten auf diese Weise zwar einstweilen die demokratische und zunehmend republikanische Bewegung zurückdrängen. Durch das Heraufziehen einer neuen Wirtschaftsordnung, des Kapitalismus, aber sahen sie sich dennoch veranlasst, bestimmte Modernisierungen von oben durchzusetzen – in Deutschland etwa die Gründung des Deutschen Bundes und des Deutschen Zollvereins. Damit aber veränderten sie die überkommene Verfasstheit Deutschlands – und ermutigten, gegen ihren Willen, die oppositionelle Bewegung.

Überdies entstand im «Vormärz» eine Art republikanischer Transnationalismus: Man verstand den eigenen Kampf für Demokratie und Republik als Teil einer internationalen Bewegung gegen die Mächte des alten Europa. Auch in Deutschland wurden 1830 die Julirevolution in Frankreich und der Novemberaufstand in Polen enthusiastisch begrüßt, auf dem Hambacher Fest wehten 1832 gar polnische Fahnen. Dieser universalistischen Ausrichtung stand allerdings bereits zu dieser Zeit eine eher partikularistische Interpretation der «deutschen Nation» entgegen, die nicht zuletzt in der Romantik zum Ausdruck kam, der es oftmals – in Abgrenzung zur französischen Tradition – um ein vermeintliches «deutsches Wesen» ging.

Mit dem Elendsaufstand der schlesischen Heimweber, die durch die boomenden Textilfabriken in den Hunger getrieben worden waren, betraten dann 1844 schlagartig die arbeitenden Klassen die Bühne der Geschichte. Zwar wurde der Weberaufstand vom preußischen Militär blutig niedergeschlagen, aber er lenkte den Blick der Gesellschaft auf die Not der einfachen, arbeitenden Menschen und traf auf große Sympathien in der Bevölkerung. Die fortschrittlichen Kräfte, darunter auch der im Pariser Exil lebende Karl Marx, waren wie elektrisiert von diesem Ereignis. Die gewaltsame Niederschlagung des Aufstands bestätigte indessen, dass die Herrschenden weiterhin jedwede Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse blockierten.

Dritter Akt: Die Revolution 1848

Und weil die herrschenden Mächte in Frankreich, Preußen und anderswo keine Veränderung der reaktionären Staatlichkeit zulassen wollten, kam es im Februar und März 1848 zu einer Welle von Revolutionen in Europa. Einmal mehr ausgehend von Paris, wagten die Menschen auf dem ganzen Kontinent den Aufstand.

In Berlin gipfelten die Auseinandersetzungen am 18. und 19. März in Barrikadenkämpfen, die hunderte Todesopfer forderten. König Friedrich Wilhelm IV. sah sich gezwungen, das Militär aus der Stadt abzuziehen und politische Zugeständnisse zu machen. Ähnlich verlief die Revolution in vielen anderen Städten des Deutschen Bundes. Schon bald wurde mit der Nationalversammlung ein Parlament gewählt, das sich am 18. Mai in der Frankfurter Paulskirche konstituierte.

Den Sieg der Revolution auf Dauer zu stellen, hätte entschlossenes Handeln erfordert. Denn die Konterrevolution der alten Herrscher, die sich keineswegs geschlagen gaben, würde nicht lange auf sich warten lassen. Die Nationalversammlung agierte jedoch ausgesprochen zögerlich, ihre Debatten waren dementsprechend zäh und langwierig. Bald ergoss sich Hohn und Spott über das «Professorenparlament».

Die Unentschlossenheit des Parlaments lag auch daran, dass die Fraktionen, die sich dort bildeten, unterschiedliche Vorstellungen über den weiteren Verlauf der Revolution besaßen – die monarchistische Rechte wollte sie schnellstmöglich beenden, das so genannte Zentrum strebte eine konstitutionelle Monarchie an. Nur die demokratische Linke plädierte für die Errichtung einer parlamentarisch-demokratischen Republik – sie aber war in der Minderheit.

Die sich gerade erst formierende Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung setzte, wie der Bund der Kommunisten, auf ein Bündnis mit den Demokraten. Sie war jedoch, trotz nationaler Organisierungsanstrengungen, noch zu schwach, um Einfluss auf das Revolutionsgeschehen nehmen zu können.

Zum Wendepunkt der europäischen Revolutionen wurde dann die Niederschlagung des Pariser Arbeiteraufstands im Juni 1848 – gerade mal drei Monate nach Ausbruch der Revolution in Berlin begann damit die Stimmung im Bürgertum bereits zu kippen. Die besitzenden Klassen mochten die Reaktion der Krone fürchten; was sie offenbar noch weit mehr fürchteten, war die Gefährdung ihres Eigentums, die sie mit den Arbeitermassen auf den Straßen von Paris heraufziehen sahen. In der Folge gewann die fürstliche Konterrevolution allmählich die Oberhand.

Ein Jahr nach Beginn der Revolution beschloss das Parlament in der Paulskirche schließlich am 27. März 1849 eine Reichsverfassung, die einen föderalen deutschen Einheitsstaat mit einer konstitutionellen Monarchie begründen sollte – allerdings ohne Österreich, also als sogenannte kleindeutsche Lösung. Das war von zwei Varianten die reaktionärere, weil das – im Vergleich etwa zu den süddeutschen Königtümern – wenig liberale Preußen auf diese Weise, anders als in einer großdeutschen Lösung unter Einschluss Österreichs, zur Hegemonialmacht innerhalb Deutschlands aufstieg. Als dann einen Monat später der von der Nationalversammlung zum «Kaiser der Deutschen» erkorene preußische König die ihm angetragene Krone mit Verweis auf sein «Gottesgnadentum» ablehnte, stand das Parlament vor dem Aus; es löste sich Ende Mai selbst auf. Anschließend konstituierte sich in Stuttgart noch ein «Rumpfparlament», das aber bald durch württembergische Truppen auseinandergetrieben wurde, während preußische Soldaten mit der Einnahme Rastatts der Badischen Revolution ein gewaltsames Ende bereiteten. Dies war der dissonante Schlussakkord der Revolution.

Tausende Revolutionäre ergriffen die Flucht und verließen Deutschland. Die meisten «Achtundvierziger» gingen in die Vereinigten Staaten, wo viele von ihnen sich später in der Republikanischen Partei gegen die Sklaverei engagierten und im Bürgerkrieg auf Seiten der Unionstruppen kämpften. Für die demokratische Bewegung in Deutschland aber waren diese «Forty-Eighters» ebenso verloren wie jene ihrer Mitstreiter, die sich nach der Niederlage der Revolution immer enger an die bestehenden Mächte schmiegten.

Vierter Akt: Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie

Das Scheitern der Revolution bedeutete auch das Ende der republikanisch-revolutionären Ambitionen des deutschen Bürgertums. Es sollte sich von dieser Niederlage nicht mehr erholen. Damit aber war das Bürgertum, sofern es den eigenen materiellen Aufstieg und Reichtum, der durch die beginnende Industrialisierung geradezu explodierte, nicht gefährden wollte, auf Gedeih und Verderb von Kompromissen mit der Obrigkeit abhängig.

Mit dem rasanten Wachstum der Wirtschaft wuchs indes auch die soziale Ungleichheit. Und da das liberale Bürgertum auf eine Verständigung mit der Obrigkeit setzte, war die Arbeiterbewegung zunehmend auf sich allein gestellt. Schon in den 1860er Jahren kam es mit der Gründung der ersten unabhängigen Arbeiterparteien ADAV und SDAP zur «Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie» (Gustav Mayer). In Wirklichkeit handelte es sich dabei allerdings um, wie Jürgen Kocka schreibt, «die Ersetzung der letzteren durch die erstere, denn in der Tat blieb ja von einer eigenständigen bürgerlich-demokratischen Bewegung (…) nach der Bismarckschen Reichsgründung (…) nicht mehr viel übrig.» Und da das Bürgertum sich ergeben hatte, musste die junge Arbeiterbewegung dessen historischen Auftrag, die Demokratisierung der Gesellschaft, gleich noch mit übernehmen.

Die reaktionäre Form der deutschen Einheit, die auf den Ruinen der Revolution von 1848 errichtet wurde, befestigte die Macht der traditionellen Oberklassen auf Jahrzehnte.

Die Trennung bedeutete aber zugleich, dass die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Eliten von nun an gegen die Arbeiterbewegung zusammenstanden. Bald nach der Reichsgründung wurde eine «Handlungseinheit» von altem Adel und neuer Bourgeoisie geschmiedet, das heißt der repressive Charakter des Staates richtete sich nunmehr im Interesse beider gegen die Arbeiterklasse. 1878 wurden mit dem sogenannten Sozialistengesetz dann sämtliche Aktivitäten der sozialdemokratischen Partei und ihrer Gewerkschaften verboten. Auch nach ihrer Wiederzulassung 1890 blieb die Arbeiterbewegung gesellschaftlich unter Quarantäne gestellt. Die gesellschaftliche Isolation war also keineswegs selbst gewählt, sondern folgte aus dem Verhalten – und, polemisch gesprochen, der Feigheit – des deutschen Bürgertums.

Letzter Akt: Der reaktionäre Weg zur deutschen Einheit

Das Versagen des Bürgertums und der Revolution «von unten» ebnete den wiedererstarkten alten Mächten den Weg, die deutsche Einheit «von oben» herzustellen, stellte also die Weichen der Politik in eine reaktionäre Richtung, die schließlich in die Gründung des Deutschen Reiches unter Führung Preußens mündete.

Zum Architekten der Einheit wurde Otto von Bismarck. Der ostelbische Junker hatte sich während der Revolution auf die Seite des preußischen Königs gestellt. Er verdankte seine Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten 1862 seinem Ruf als «harter Hund», der geeignet sei, dem Bürgertum die letzten Zähne zu ziehen. Und das deutsche Bürgertum ließ sich seine gezielten Demütigungen gefallen. Übrig blieb oft nicht viel mehr als ein spießbürgerlicher «Bierpatriotismus» (Marx).

Mit «Eisen und Blut», sprich: mit drei Kriegen, stellte Bismarck dann die Einheit her. Im Ergebnis ging nicht Preußen in Deutschland auf, sondern Deutschland in Preußen. So enthielt die Verfassung des neuen Deutschen Reichs zwar durchaus fortschrittliche Elemente, etwa das allgemeine Männerwahlrecht; das aber galt nur für die Wahl zum Reichstag; nicht jedoch in Preußen, wo weiterhin das Dreiklassenwahlrecht bestand. Nicht zufällig bezeichnete der Sozialdemokrat Wilhelm Liebknecht Preußen als «fürstliche Versicherungsanstalt gegen die Demokratie».

Vor allem aber garantierte die Einheit «von oben» die Vorherrschaft des Adels, dessen Privilegien in den staatlichen Institutionen und in der Gesellschaft abgesichert wurden. Alle höheren Posten in Staat und Armee blieben Adligen vorbehalten, Bürger, auch reiche, dem Adel im Staat untergeordnet. Das neue Reich repräsentierte also keinen Neuanfang, sondern die anhaltende Herrschaft der traditionellen Oberklassen. Die alten, traditionellen, ständisch geprägten Strukturen wurden auf diese Weise konserviert.

Nicht zufällig waren dann die polnischen und jüdischen Bürger*innen die ersten Opfer des Deutschen Reichs, das am 18. Januar 1871 ausgerechnet im Spiegelsaal von Versailles proklamiert worden war. Die Germanisierungspolitik gegenüber der polnischen Bevölkerung wurde massiv verschärft, und auch der Antisemitismus sollte sich im jungen Kaiserreich bald zuspitzen, ja geradezu zur Massenerscheinung werden. In den 1880er Jahren wurde das Reich dann auch noch zur Kolonialmacht.

Die reaktionäre Form der deutschen Einheit, die auf den Ruinen der Revolution von 1848 errichtet wurde, befestigte die Macht der traditionellen Oberklassen auf Jahrzehnte. Dabei reifte die Bourgeoisie, das Großkapital, zur wirtschaftlich dominierenden Kraft heran; die politische Macht aber verblieb beim Adel des Ständestaates.

Und die Wirkung dieser herrschaftlichen Herstellung der Einheit reichte noch über die Novemberrevolution von 1918 und deren Sturz der deutschen Monarchen hinaus. Denn die ganze Bürokratie, die kaisertreuen Beamt*innen in Justiz, Militär, Verwaltung, Bildungswesen usw., blieben auch nach dem Ersten Weltkrieg auf ihren Posten sitzen und arbeiteten daran, die Weimarer Republik wieder abzuschaffen – was ihnen 1933 schließlich gelang. Es passt daher durchaus ins Bild, dass es mit Paul von Hindenburg ein preußischer Junker war, der Hitler zum Reichskanzler ernannte, und dass die kaisertreuen Beamten anschließend beflissen dabei halfen, das NS-faschistische Regime fest zu etablieren.

Nun sollte man für diese Entwicklung nicht die Revolutionäre von 1848 verantwortlich machen. Fest steht aber dennoch, dass das Scheitern des revolutionären Aufbruchs und die anschließende Unterordnung des Bürgertums unter die ständische Obrigkeit die deutsche Geschichte für ein Jahrhundert entscheidend prägten.