Nachricht | USA / Kanada - Sozialökologischer Umbau - Klimagerechtigkeit «Einfach eine riesige Ablenkung»

Deutschlands Interesse an Erdgas hat in Kanada eine Debatte über den Bau neuer Anlagen ausgelöst

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Besorgte Kanadier*innen versammeln sich vor der deutschen Botschaft in Ottawa, um Bundeskanzler Olaf Scholz aufzufordern, alle Vorschläge für LNG-Exportterminals an der kanadischen Ostküste abzulehnen, die Fracking-Gas befördern würden, 22. August 2022. Foto: IMAGO / ZUMA Press

Die Förderung fossiler Brennstoffe ist ein wichtiges Standbein der kanadischen Wirtschaft. Die liberale Regierung hat zwar beschlossen, bis spätestens 2030 aus der Kohleförderung auszusteigen, doch die Zukunft von Öl und Gas bleibt unklar. Der neue europäische Markt für Flüssigerdgas (liquified natural gas, LNG), der seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine entstanden ist, wirkt in der Debatte als zusätzlicher Unsicherheitsfaktor. Umweltschützer*innen und Indigene sind gegen Pläne zum Ausbau der Erdgasinfrastruktur – und es bleibt umstritten, ob die erforderlichen langfristigen Investitionen ökonomisch überhaupt Sinn machen würden. Juliane Schumacher sprach mit Hadrian Mertins-Kirkwood vom Canadian Centre for Policy Alternatives über die LNG-Debatte in Kanada und die unklare Zukunft der Energieversorgung des Landes.

JS: Hadrian, Kanada ist einer der größten Gasproduzenten weltweit. Im vergangenen August besuchten der deutsche Bundeskanzler Martin Scholz sowie der Wirtschafts- und Energieminister Robert Habeck Kanada, um sich über mögliche Quellen von Flüssigerdgas (LNG) zu informieren, das in den nächsten Jahren russisches Gas ersetzen könnte. Ist Kanada ein Großproduzent von LNG?

HM-K: LNG spielt in der kanadischen Öl- und Gasindustrie derzeit keine bedeutende Rolle. Wenn sich aber bestimmte Leute durchsetzen, bestimmte Teile der Industrie und der Regierung, dann wird LNG ein viel bedeutenderer Teil der kanadischen Wirtschaft werden. Viele Fürsprecher*innen fossiler Brennstoffe sehen in LNG die Zukunft ihrer Industrie. Der neue deutsche Markt dient als Rechtfertigung für LNG-Projekte.

Welche Menschen drängen auf den Aufbau einer LNG-Industrie?

Hadrian Mertins-Kirkwood ist Senior Researcher im Internationalen Büro des Canadian Centre for Policy Alternatives in Ottawa, Kanada. Bei seiner Arbeit zu Klimafragen konzentriert er sich auf eine für Arbeiter*innen und Gemeinden in ganz Kanada gerechte Gestaltung des Übergangs zu einer grünen Ökonomie sowie zunehmend auf die Rolle der Öl- und Gasindustrie darin.

Zunächst einmal kommen sie aus der Industrie. In Kanada gibt es viele große Öl- und Gasunternehmen. Enbridge, unser größtes Gasunternehmen, drängt auf neue Pipelines, um mehr Gas aus dem Westen Kanadas liefern zu können, wo sich die meisten Gasvorkommen befinden. Die Regierung Kanadas ist aufgrund der förderalen Struktur des Landes sowohl politisch als auch geografisch gespalten. Auf der einen Seite steht das Umweltministerium, Environment and Climate Change Canada (ECCC). Es bemüht sich aktiv, die Öl- und Gasförderung – oder besser gesagt, die im Zusammenhang mit der Öl- und Gasförderung entstehenden Emissionen – zu regulieren. Allerdings meidet es das Thema Förderung. Es geht ihm lediglich darum, dass die bei der Förderung von Öl und Gas entstehenden Emissionen reduziert werden müssen. Unberücksichtigt bleiben dabei die Emissionen, die bei der Verbrennung des von uns exportierten Öls und Gases entstehen. Dies ist eine wichtige Diskussion in Kanada: Wie können wir emissionsarmes Öl und Gas für den Export produzieren?

Kanada will also seine eigenen Emissionen senken, aber dennoch weiterhin fossile Brennstoffe exportieren?

Genau. Das ist eine große Frage im Öl-, aber auch im Gassektor: Wie können wir die CCS-Technologien, die Technologien zur Abscheidung und Speicherung von CO2-Emissionen während der Produktion, nutzen? Und wie verhindern wir Methanlecks, so dass wir «kohlenstoffneutrales Öl und Gas» bekommen? Eines der Hauptprobleme in Kanada besteht darin, dass die Öl- und Gasunternehmen, wie auch einige Politiker*innen, davon ausgehen, dass wir der «letzte verbliebene Ölproduzent» sein werden. Dann heißt es: Ja, die Welt kehrt Öl und Gas den Rücken, das wissen wir, doch sie wird in den nächsten 30 Jahren weiterhin beides benötigen, und so wird Kanada das letzte Land sein, das Öl und Gas produziert. Wir haben also auf der einen Seite das ECCC, das versucht, die Emissionen aus der Öl- und Gasförderung zu regulieren. Auf der anderen Seite haben wir Natural Resources Canada (NRCan), das Ministerium für natürliche Ressourcen, das die Förderung fossiler Brennstoffe aktiv unterstützt und ausbaut – einschließlich der Finanzierung und Unterstützung von Flüssigerdgasanlagen. Eine dieser Anlagen wird derzeit gebaut: LNG Canada, ein riesiger Komplex an der Westküste des Bundesstaates British Columbia. Für den Export nach Europa bringt diese Anlage allerdings wenig, da sie auf der falschen Seite des Landes liegt.

Wohin will Kanada also sein LNG exportieren?

Nach China, Indien und in andere Teile Ostasiens. Das ist der anvisierte Markt. Die klimapolitische Rechtfertigung lautet, dass LNG dort Kohle ersetzen wird. Die Belege dafür sind ausgesprochen dürftig; wahrscheinlicher ist, dass LNG lediglich eine von mehreren Energiequellen wird. Und LNG ist ja auch ein fossiler Brennstoff, der Umweltschäden verursacht.

Sind fossile Brennstoffe wichtig für die kanadische Wirtschaft?

Sie machen einen bedeutenden Teil der Wirtschaft aus, allerdings keinen so bedeutenden, wie manchmal behauptet wird. Je nachdem, wie man das misst, machen fossile Brennstoffe in Kanada zwischen drei und sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus. Es ist also nicht so, dass das gesamte Land von der Öl- und Gasförderung abhängt. Allerdings findet beinahe die gesamte Öl- und Gasförderung in einigen wenigen Provinzen statt. In der Provinz Alberta, die stets im Mittelpunkt der Debatte steht, machen Öl und Gas etwa 30 Prozent des BIP aus. Provinzen wie Alberta sind also in hohem Maße von dieser Industrie abhängig. Außerdem ist der Anteil von Öl und Gas an unseren Exporten sehr hoch – fast 20 Prozent. Das ist wirtschaftlich also durchaus relevant. Und es geht auch um Arbeitskräfte: Wir schätzen, dass in Kanada etwa 200.000 Personen in der der fossilen Industrie beschäftigt sind: die meisten in der Ölindustrie, einige in der Gasindustrie und nur sehr wenige in der Kohleindustrie. Auch hier ist die regionale Konzentration sehr ausgeprägt: Etwa 100.000 dieser Personen sind in Alberta beschäftigt. Die Debatte um Öl und Gas ist politisch also recht heikel. Und dann gibt es natürlich noch die politische Macht der Öl- und Gasunternehmen. Die Ölindustrie ist die mächtigste Lobby Ottawas, weit größer als alle anderen Sektoren. Einige Parteien in Kanada, etwa die Konservative Partei, setzen stark auf die Ölförderung, sogar noch mehr als die Arbeiter*innen oder die Industrie.

Wie ist die allgemeine Meinung zur Öl- und Gasförderung in Kanada?

Das Thema polarisiert zunehmend, wie so viele politische Fragen. Die konservativen politischen Parteien befürworten Öl und Gas sehr stark. Ihre Mitglieder tragen T-Shirts mit dem Aufdruck «Ich liebe Öl und Gas» und behaupten, dass Kanada immer Öl fördern werde. Das ist absurd, denn nicht einmal die Öl- und Gasunternehmen selbst behaupten das noch. Sie sagen: Auch unsere Netto-Emissionen werden bis 2030 auf null sinken. Aus meinen Gesprächen mit Arbeiter*innen und Gewerkschaften weiß ich, dass die Arbeiter*innen dieses Ziel mittragen. Sie sagen: Ja, wir sind vom Gas abhängig, also helft uns beim Umstieg. Es sind also die politischen Parteien, die konservativen Politiker*innen, die Öl und Gas am stärksten befürworten. Das Thema LNG ist interessant, weil sich der Diskurs darum stark von dem um Öl und Gas unterscheidet. LNG ist zukunftsorientierter. An der Ölfront dreht sich die Debatte hauptsächlich darum, wie schnell wir die Ölförderung einstellen. Über große neue Ölprojekte wird nicht mehr gesprochen; es wird auch keine großen neuen Ölsandprojekte geben. Die Unternehmen wissen, dass solche Projekte «stranded assets» sind, «verlorene Investitionen». Sie werden also keine großen Investitionen in Öl mehr tätigen. Aber bei Gas verhält sich das anders. Dort geht es um Expansion. Die Frage ist nicht, wie sich der Gassektor am besten verkleinern lässt, sondern es geht darum, wie sehr er expandieren soll. Werden wir riesige LNG-Terminals in Ostkanada bauen, um nach Europa zu exportieren? Das wird jetzt diskutiert. Die Debatte ist also eine ganz andere. Selbst Bundes- und Regionalregierungen, denen Klimafragen ein wichtiges Anliegen sind, geraten in Versuchung. Dann heißt es, Deutschland sei doch ein guter Handelspartner für Kanada, es sei besser, nach Deutschland zu exportieren als nach China, Gas sei doch nicht so schlecht für das Klima...

Besser als Kohle.

Ja, «sauberes Erdgas», wie es hier in Kanada heißt – eine sehr erfolgreiche Marketingphrase, eine Sprachschöpfung der Ölkonzerne. Wichtiger sind jedoch die bedeutenden wirtschaftlichen Vorteile für Ostkanada. In wirtschaftlicher Hinsicht hat es Ostkanada deutlich schwerer als der Rest des Landes und benötigt dringend Investitionen. Also gibt es diesen Appell: Lasst uns große LNG-Terminals in Halifax an der Ostküste bauen. Das sei die Industrie für diese Provinz.

Wann hat die Debatte über LNG begonnen? War sie eine Reaktion auf den russischen Einmarsch in die Ukraine?

In Kanada wird bereits seit einigen Jahren über den potenziellen LNG-Markt in Asien gesprochen. Aus diesem Grund wird in der Provinz British Columbia die genannte Anlage LNG Canada gebaut. Die Möglichkeit eines großen europäischen Marktes ist ein relativ neues Thema, das erst seit 2022 diskutiert wird. Das begann, als die europäischen Länder kein Gas mehr aus Russland bezogen und sich nach anderen Quellen umsahen. In diesem Moment erkannten die kanadischen Öl- und Gasunternehmen, dass sich für sie ein neuer Markt auftut. In meinen Augen ist dies nur das jüngste aus einer langen Reihe von Beispielen dafür, dass die Ölunternehmen und ihre politischen Unterstützer*innen nach Wegen suchen, diese Industrie am Leben zu erhalten. In den letzten zehn Jahren hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Ölsande die umweltschädlichste Ölquelle sind und deshalb niemand unser Öl haben will. Also fragt man sich: Gibt es eine Alternative, durch die sich die Industrie am Leben erhalten lässt? Eine Antwort lautet CCS, Kohlenstoffabscheidung, eine andere LNG.

Woher kommt das Gas für die LNG-Produktion in Kanada? Auch aus Ölsanden?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Gas zu fördern. Manches Gas ist in Teersanden eingeschlossen. Dann gibt es den Fracking-Boom, der vor allem im US-amerikanischen Nordwesten, teilweise aber auch in Alberta, Kanada, stattfindet. Und schließlich gibt es noch die konventionelle Gasförderung, bei der das Gas einfach aus dem Boden geholt wird. Wir beziehen Gas also aus verschiedenen Quellen, und dann wird es meist auf direktem Weg durch eine Pipeline geliefert. Auf diese Weise werden die meisten kanadischen Häuser beheizt, mit Gas, das einfach durch die Gegend geleitet wird. Oder man baut diese riesigen, teuren LNG-Anlagen, um das Gas in eine andere Form umwandeln und exportieren zu können.

Die Lieferung des Gases vom Westen in den Osten würde aber neue Pipelines erfordern?

Einige Pipelines gibt es bereits. Enbridge versucht seit langem, eine große Pipeline von Alberta zur Ostküste zu bauen, die Energy East Pipeline, um Öl und Gas in größeren Mengen quer durch das Land zu liefern. Es gibt zwar einige Pipelines, die dies bereits tun, aber nicht in diesem Umfang. Letztlich verschiffen wir also viel Öl und Gas von Westkanada in die USA und kaufen zugleich Gas aus den USA, um Ostkanada zu versorgen.

Es gibt aber auch viel Widerstand, sowohl gegen weitere Pipelines als auch gegen neue LNG-Anlagen.

Es gibt viel Widerstand, von zahlreichen verschiedenen Gruppen. Selbst innerhalb der derzeitigen Regierung leisten eher progressive Politiker*innen aus ökologischen Erwägungen Widerstand, ebenso wie Politiker*innen der Neuen Demokratischen Partei (NDP). Die gesamte Umweltbewegung ist in Aufruhr. Trotz der Aussicht auf viele gute, gewerkschaftlich organisierte Arbeitsplätze verhält sich auch die kanadische Gewerkschaftsbewegung in dieser Frage recht fortschrittlich und unterstützt die Erschließung neuer Öl- und Gasvorkommen im Allgemeinen nicht, auch wenn es sicher einzelne Gewerkschaften gibt, die dies tun. Wirklich wichtig sind in Kanada jedoch die indigenen Gruppen. Der größte Teil der Erschließung findet auf indigenem Land statt, und es sind Indigene, die bisher den größten Teil der neuen Pipeline-Projekte verhindert haben. Proteste gegen Pipelines waren erfolgreich, weil die indigene Bevölkerung vor Ort gekämpft hat. Und das gilt nicht nur für Pipelines, sondern auch für Anlagen wie LNG Canada, die ebenfalls auf indigenem Land entstehen und auch die indigene Bevölkerung betreffen werden.

Indigene befürchten also, solche Projekte könnten ihr Land verschmutzen?

Die Beweggründe sind unterschiedlich. Bei den Pipelines geht es vor allem um Umweltverschmutzung und gesundheitliche Auswirkungen, denn in Kanada kommt es bei Pipelines regelmäßig zu Leckagen. Das ist immer wieder furchtbar. Alle paar Wochen gibt es eine neue Meldung über ein Leck in einer Pipeline. Wie kann es sein, dass das immer noch passiert? Warum können sie keine Pipelines bauen, die nicht ständig Lecks haben? Umweltverschmutzung und Gesundheit sind also auf jeden Fall wichtig. Ein bedeutender Schwerpunkt der letzten Jahre, seit der UN-Erklärung über die Rechte indigener Völker (UNDRIP) von 2007, ist aber auch die Frage der freien, vorherigen und informierten Zustimmung (Free, Prior and Informed Consent – FPIC). Diese ist ein Schlüsselbegriff der UN-Erklärung, und sie ist zu einem wichtigen Bestandteil des kanadischen Diskurses über Pipelines geworden. Werden Indigene dem Bau von Infrastruktur auf ihrem Land zustimmen? Die Antwort lautet in den meisten Fällen nein. Doch es gibt unterschiedliche Auslegungen dessen, was FPIC bedeutet.

Kanada legt das Konzept der «Zustimmung» also anders aus als die UN?

Die UN-Erklärung hat in kanadisches Recht Eingang gefunden, und mit ihr der FPIC-Begriff. Die Regierung interpretiert diesen jedoch als eine Art erweiterte Anhörungspflicht. Indigene sollen also kein Veto einlegen können. Sie sollen ein Projekt nicht einfach stoppen können, indem sie erklären, mit ihm nicht einverstanden zu sein. Das ist aber natürlich im Zustimmungsbegriff implizit. Außerdem gibt es eine Menge Debatten darüber, welches Land überhaupt als indigen gelten sollte. Die kanadische Geschichte hat ein verwickeltes Geflecht von Landrechten hinterlassen. Einige Ländereien sind abgetretenes Land, auf dem indigene Völker historisch gesehen ihr Recht auf das Land an den Staat abgetreten haben – wobei manche dieser Verträge umstritten sind. Es gibt auch nicht abgetretenes Land. Ich lebe in Ottawa auf nicht abgetretenem Algonquin-Gebiet. Das Volk der Algonquin hat dem Bau dieser Stadt nie zugestimmt. Es ist also die Frage, wo in Kanada man sich befindet, und das macht die Sache juristisch kompliziert – wessen Zustimmung ist erforderlich? Es ist aber auch wichtig zu erwähnen, dass es indigene Gruppen gibt, die sich sehr für die Rohstoffgewinnung und die Entwicklung einsetzen, insbesondere in Alberta. Manche Indigene haben enorm von der Ölförderung profitiert, und viele Arbeiter*innen im Ölsektor sind Indigene. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht alle Indigenen über einen Kamm scheren, denn es gibt viele verschiedene indigene Völker in Kanada. 

Wird es deiner Meinung nach zum Bau eines LNG-Terminals in Ostkanada kommen? Oder wird die «Gelegenheit», von der manche in diesem Zusammenhang sprechen, einfach verstreichen?

Ich rechne mit Letzterem. Meine Einschätzung – nicht nur meine Hoffnung – lautet, dass es bereits zu spät ist, die Infrastruktur für den Export von LNG aus Kanada nach Europa aufzubauen. Der Zeitplan ergibt einfach keinen Sinn. Die Bauarbeiten an LNG Canada, der riesigen Anlage in British Columbia, haben 2018 begonnen und sind noch nicht abgeschlossen. Es wird damit gerechnet, dass der Bau insgesamt etwa sieben Jahre dauern wird. Rechnen wir das also einmal durch. Eine Anlage muss geplant werden; es muss einen Entwurf geben und dieser muss genehmigt werden. Selbst wenn man letztes Jahr damit begonnen hätte, wäre die Anlage wahrscheinlich nicht vor 2030 fertig. Das ist der früheste Zeitpunkt, zu dem LNG in nennenswertem Umfang aus Ostkanada verschifft werden könnte. Werden Deutschland und andere europäische Länder 2030 noch LNG benötigen? Wahrscheinlich werden sie dann noch in einem gewissen Umfang darauf angewiesen sein. Aber im Jahr 2040? Oder 2050? Mit Sicherheit nicht. Die meisten dieser Infrastrukturprojekte müssen 30 oder 40 Jahre lang betrieben werden, um sich zu amortisieren, weil der Bau so teuer ist. Die LNG-Canada-Anlage in British Columbia kostet 40 Mrd. Dollar. Es wäre völlig irrational, unter solchen Bedingungen eine entsprechende Anlage im Osten zu bauen.

Wir tun uns in Kanada ausgesprochen schwer, ein klares Konzept für die Zukunft der Energieversorgung zu entwickeln.

Bei Wasserstoff ist das anders, daher denke ich, dass man zu einem bestimmten Zeitpunkt keine LNG-Anlagen, sondern Anlagen für den Wasserstoffexport bauen wird. Wasserstoff wird in Zukunft rentabler werden, denn man kann grünen, emissionsfreien Wasserstoff herstellen, vor allem in Québec. Québec ist aufgrund der Wasserkraft ein wichtiger Erzeuger von Ökostrom und exportiert derzeit tonnenweise Ökostrom in andere Provinzen und in die USA. Es gibt also riesige Mengen an Strom, die zur Herstellung von grünem Wasserstoff verwendet werden können. Wasserstoff hat seine Berechtigung. Er ist nicht meine erste Wahl, wenn es um Lösungen für die Klimaproblematik geht, aber grüner Wasserstoff ist tatsächlich machbar. Es gibt also eine potenzielle Zukunft für diese Art von Infrastruktur.

Wird das in Kanada diskutiert? Gibt es einen klaren Plan, wie man von fossilen Energieträgern wegkommt und wohin der Übergang führen soll?

Nein, es gibt keinen klaren Plan, und das ist ein großes Problem. Wir tun uns in Kanada ausgesprochen schwer, ein klares Konzept für die Zukunft der Energieversorgung zu entwickeln. Das zeigt sich auch an den Spannungen zwischen dem ECCC und dem NRCan. Niemandem in der Privatwirtschaft ist derzeit klar, ob Kanada in 30 Jahren noch ein großer Ölproduzent sein wird oder ob es in 30 Jahren überhaupt kein Öl mehr geben wird. Auch den Schüler*innen, die jetzt über ihre berufliche Zukunft entscheiden sollen, ist dies nicht klar. Dieser Mangel an Klarheit ist ein echtes Problem für uns, sowohl auf politischer als auch auf wirtschaftlicher Ebene und auf der Ebene der Arbeitskräfte. Wir haben eine Regierung, die sich dem Ziel «Netto-Null» verschrieben hat, sich aber nicht traut, zu sagen, was das bedeutet.

Es wäre einfacher, wenn es einen klaren Zeitplan gäbe.

Auf jeden Fall. Wir haben das bei der Kohle gesehen, wo das gut funktioniert hat. Kanada hat beschlossen, dass es bis 2030 keine Kohlekraftwerke mehr im Land geben wird, und diese Entscheidung wurde bereits 2018 getroffen. Also ein ziemlich langer Zeitraum, mehr als zehn Jahre, aber alle wissen Bescheid, und jeder Sektor kann seine Entscheidungen entsprechend treffen. Die Privatwirtschaft kann die Abschaltung der Kraftwerke planen, die Gewerkschaften und die Arbeiter*innen können den Wechsel in andere Sektoren planen, und die betroffenen Gemeinden können sich auf die veränderte Lage einstellen, weil Klarheit herrscht. Bei Öl und Gas herrscht jedoch überhaupt keine Klarheit, und deshalb kommt es immer wieder zu diesen Debatten.

Die LNG-Debatte hat also zu weiterer Unsicherheit geführt?

Ja, denn jetzt sagen die Leute: Moment mal, vielleicht muss die fossile Brennstoffindustrie gar nicht abgewickelt werden. Das ist einfach eine riesige Ablenkung von unseren Klimaschutzaufgaben. Mit jedem neuen Projekt für fossile Brennstoffe wird das Unvermeidliche geleugnet. Solche Projekte lösen die strukturellen wirtschaftlichen Probleme nicht und erschweren nur den Übergang zu einer grünen Ökonomie.
 

Übersetzung von Max Henninger & Cornelia Gritzner für Gegensatz Translation Collective.