Die Zahlen sind unerreicht, die Zustände im Norden Nigers beispiellos. Nachdem algerische Behörden in nur 12 Wochen mehr als 10.000 Geflüchtete und Migrant*innen ausgewiesen und in der Wüste nahe der nigrischen Grenze ausgesetzt haben, herrscht in der Kleinstadt Assamaka ein humanitärer Ausnahmezustand. Algerien verschärft damit jedoch nicht nur seine Abschiebepraxis, sondern kehrt dem gesamten Kontinent den Rücken zu.
Algeriens Regierung verschärft wieder einmal ihr repressives und systematisches Vorgehen gegen im Land lebende Geflüchtete und Migrant*innen. Zwischen Januar und Ende März 2023 haben algerische Behörden im Rahmen rigoroser Kollektivabschiebungen mehr als 10.000 Geflüchtete und Migrant*innen nahe der Grenze zum Nachbarland Niger in der Wüste ausgesetzt, berichtet das Aktivist*innennetzwerk Alarme Phone Sahara (APS).
Sofian Philip Naceur ist Projektmanager im Nordafrika-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung und arbeitet als freier Journalist.
Auch die humanitäre Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) schlägt lauthals Alarm und rief in einer Erklärung die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft Economic Community of West African States (ECOWAS) dazu auf, umgehend dringend benötigten Schutz für die in der Kleinstadt Assamaka im Norden Nigers unter extrem prekären Bedingungen gestrandeten Menschen bereitzustellen. Die Lage in der nur rund 1.500 Bewohner*innen zählenden Stadt sei beispiellos, so MSF.
Eine für 1.100 Menschen ausgelegte Transitunterkunft des an die Vereinten Nationen angegliederten Grenzregimedienstleisters International Organisation for Migration (IOM) in Assamaka sei völlig überfüllt. Seit Algerien im Dezember 2022 in zwei Abschiebekonvois 1.078 Menschen nach Niger abgeschoben hatte, nehme IOM keine neu ankommenden Menschen mehr auf, berichtet APS in einer Stellungnahme. Ein von MSF betriebenes Gesundheitszentrum in Assamaka sei ebenso überlaufen. Tausende Menschen hätten im und rund um das Zentrum Schutz gesucht, provisorische Zelte errichtet und würden teils an der Schatten spendenden Müllstelle ausharren, um sich vor den Temperaturen von bis zu 48 Grad Celsius zu schützen. Es gäbe nicht genug Nahrung und Wasser für diese Anzahl an Abgeschobenen, warnt MSF.
Folgenschwerer Abschiebedeal
Schon seit Jahren lassen algerische Behörden systematisch und unter eklatanter Verletzung internationaler Flüchtlings- und Menschenrechtskonventionen fast wöchentlich hunderte Geflüchtete und Migrant*innen in Städten im Norden Algeriens wie Oran, Algier oder Annaba verhaften und anschließend in Buskonvois in das rund 2.000 Kilometer südlich von Algier gelegene Tamanrasset transferieren. Nach meist kurzem Aufenthalt in einer Transiteinrichtung werden diese dann auf Lkws gepfercht und meist am sogenannten «Point Zero» mitten in der Sahara nahe der nigrischen Grenze ausgesetzt. Von diesem noch auf algerischem Territorium befindlichen Ort werden Abgeschobene gezwungen rund 15 Kilometer nach Assamaka zu laufen, wo MSF, APS oder IOM Nothilfe leisten.
Die Grundlage für diese Kollektivabschiebungen ist ein bilaterales Rücknahmeabkommen zwischen den Regierungen in Algier und Niamey von 2014, das eigentlich nur die Ausweisung nigrischer Bürger*innen aus Algerien erlaubt. Doch Algerien ignoriert diese Bestimmung konsequent und schiebt auch Menschen aus arabischen sowie west- und zentralafrikanischen Staaten nach Niger ab – in Massen. Während Algerien nigrische Bürger*innen in sogenannten «offiziellen Konvois» meist bis an die Grenze bringt, werden Menschen aus west- und zentralafrikanischen Ländern – aber auch aus Jemen, Palästina, Syrien, Pakistan, Bangladesch, Sri Lanka, Ägypten oder jüngst gar aus Costa Rica – in «inoffiziellen Konvois» am Point Zero abgesetzt. In der Vergangenheit wurden dabei auch algerische Staatsbürger*innen nach Niger abgeschoben worden, meist nachdem sie ohne Ausweis in Tamanrasset oder anderen Regionen in Südalgerien willkürlich verhaftet worden waren.
Die Regierung in Niamey protestierte wiederholt öffentlich gegen die Abschiebung von Menschen anderer Nationalitäten nach Niger, stieß damit in Algier bisher jedoch auf taube Ohren. Nachdem in den ersten Jahren nach Unterzeichnung des Rücknahmedeals nur sporadisch Ausweisungen durchgeführt wurden, intensivierte die Regierung von Algeriens Ex-Premierminister Ahmed Ouyahia 2017 die Verhaftungs- und Abschiebekampagnen massiv. Mit Ausnahme einer kurzen Unterbrechung nach Beginn der Covid-19-Pandemie 2020 haben die Kollektivabschiebungen seitdem nie aufgehört. Im Jahr 2021 habe MSF insgesamt 27.208 Abschiebungen aus Algerien registriert, 2022 seien es ganze 36.083 gewesen, erklärt der Büroleiter von MSF in Niger, Jamal Mrrouch, gegenüber der RLS.
Algerien verschärft Abschiebepraxis
Angesichts der bisher beispiellosen Abschiebewelle gegen Geflüchtete und Migrant*innen in den letzten Wochen fürchten Menschenrechtsgruppen und humanitäre Organisationen, Algerien könnte derzeit ähnlich wie Tunesien versuchen, eine noch härtere Gangart in der bereits extrem restriktiven Einwanderungspolitik durchzudrücken. Noch ist völlig unklar, ob die jüngsten Repressalien gegen Geflüchtete und Migrant*innen nur temporären Charakter haben, doch die Anzeichen stehen auf Sturm. Denn algerische Behörden scheinen derzeit nicht nur die Anzahl der Ausweisungen auszuweiten, sondern haben auch die Abschiebepraktiken und die Grenzkontrollpolitik an Algeriens Land- und Seegrenzen verschärft.
Rund 80 Prozent aller jüngst Abgeschobenen hätten MSF berichtet, ihnen seien von algerischen Offiziellen Geld, Wertgegenstände und Pässe oder andere Ausweisdokumente abgenommen worden, erzählt Mrrouch der RLS. «Schon seit Jahren nehmen algerische Behörden den nach Niger Ausgewiesenen systematisch die Smartphones ab, um sie daran zu hindern, Photos zu machen und diese zu veröffentlichen. Auch Geld und Wertgegenstände werden ihnen abgenommen, aber wir konnten in der Vergangenheit nur einige wenige Fälle bestätigen, in denen Abgeschobenen ihre Ausweise weggenommen wurden», erklärt Moctar Dan Yaye von APS im Gespräch. Das zuletzt offenbar systematische Abnehmen von Ausweisdokumenten durch algerische Behörden verzögert jedoch Administrativprozeduren in Niger sowie Rückführungen in andere Staaten, verkompliziert es doch die Prüfung der Herkunft von Abgeschobenen.
Verstärkte Grenzkontrollen in Nordalgerien
Zusätzlich hat Algerien in den letzten zwei Jahren seine Grenzkontroll- und Abschottungspolitik an der Mittelmeerküste substantiell intensiviert. In der Vergangenheit hatten algerische Behörden die irreguläre Migration algerischer Staatsbürger*innen über das Mittelmeer nach Spanien oder Italien partiell toleriert, waren aber rigoros gegen Überfahrtversuche nicht-algerischer Menschen vorgegangen. Wurden bei von der algerische Küstenwache abgefangenen Booten nur Algerier*innen aufgegriffen, verhängten Gerichte meist nur milde Bewährungsstrafen. Sobald sich jedoch ausländische Flüchtende auf den Booten befanden griffen Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz hart durch und verhängten oft empfindliche Haftstrafen gegen angebliche Schmuggler*innen und Geflüchtete.
Ressentiments gegen Migrant*innen nehmen in Nordafrika schon seit Jahren massiv zu. Doch nun geschieht das auch hier in Niger.
Inzwischen hat sich der Wind jedoch gedreht. In den beiden wichtigsten Abfahrtsregionen für die irreguläre Reise nach Europa nahe Oran in Westalgerien unweit der spanischen Küste und in der Region Annaba nahe der italienischen Inseln Sardinien und Sizilien wird heute auf Land und auf See sichtlich härter gegen die Migration nach Europa vorgegangen. Während in Annaba mittlerweile systematisch der Verkauf von Booten und Schiffsmotoren kontrolliert wird und jene, die solche erwerben, mit dem Konfiszieren von Booten und Außenbordern rechnen müssen, haben die Behörden in Aïn el-Turk und Cap Falcon westlich von Oran Strandzugänge sprichwörtlich zumauern lassen, um den Transport von Booten an die Strände zu verhindern. Zusätzlich wurden Patrouillen an den Ständen ausgeweitet und Polizeikontrollen an Straßen rund um bekannte Abfahrtorte intensiviert. Abgefangene Flüchtende werden heute zudem oft unabhängig von ihrer Nationalität deutlich konsequenter strafrechtlich verfolgt als früher.
Nordafrika kehrt dem Kontinent den Rücken zu
Derweil verschärfen sich derzeit nicht nur in Algerien die Lebensumstände für Geflüchtete und Migrant*innen massiv. Tunesiens immer autoritärer regierende Staatspräsident Kaïs Saïed hatte erst im Februar mit einer vor rassistischer und nationalistisch-identitärer Verschwörungsrhetorik triefenden Stellungnahme gegen Migrant*innen gehetzt und damit landesweite Angriffe gegen Schwarze provoziert. Tausende waren praktisch über Nacht aus ihren Wohnungen geworfen worden, hatten ihre Jobs verloren und waren auf offener Straße verbal und physisch attackiert worden. Während einige westafrikanische Staaten Evakuierungsflüge für ihre Bürger*innen organisiert und somit tausende Menschen aus dem Land geschafft hatten, flohen innerhalb mehrerer Wochen tausende Menschen über das Mittelmeer nach Italien. Andere wiederum versuchten sich in Algerien in Sicherheit zu bringen – vergeblich.
«Nach der Stellungnahme von Tunesiens Präsident vor einem Monat haben zahlreiche Migrant*innen Tunesien aus Angst verlassen, einige davon haben die algerische Grenze überquert wo sie von algerischen Behörden verhaftet und umgehend nach Niger abgeschoben wurden», so der MSF-Offizielle Mrrouch. Migrant*innen und Geflüchtete sind in nordafrikanischen Staaten zwar schon lange Rassismus, Staatsgewalt und Ausbeutung ausgesetzt, doch die jüngsten Entwicklungen in Tunesien und Algerien haben eine neue Dimension.
Vor allem Algerien hatte dabei nach seiner blutig erkämpften Unabhängigkeit in den 1960er Jahren explizit auf Kooperation und Solidarität mit anderen afrikanischen Staaten und von europäischen Mächten kolonisierten Ländern im Globalen Süden gesetzt und Unabhängigkeitsbewegungen mit Logistik, Geld und militärischen Mitteln unterstützt. Algeriens Hauptstadt Algier galt bis in die späten 1970er Jahre gar als «Mekka der Revolutionäre» und bot Unabhängigkeitsgruppen Unterschlupf und diplomatische Rückendeckung. Heute ist davon praktisch nichts mehr übrig. Das Land konkurriert heute nicht nur mit anderen arabischen Regimes wie Marokko oder Ägypten um die regionale Vormachtstellung, sondern unterminiert mit seiner rücksichtslosen Abschiebepolitik die Beziehungen zu unzähligen afrikanischen Staaten. Das Regime in Algier instrumentalisiert die in der algerischen Gesellschaft historisch tief sitzenden rassistischen Ressentiments und setzt teils aus kurzfristigen Interessen auf rigorose Maßnahmen oder wie 2017 auf unverhohlen rassistische Rhetorik. Mit der immer drakonischer werdenden Einwanderungs- und Grenzkontrollpolitik unterminiert die Regierung dabei zusätzlich die Bestrebungen der Afrikanischen Union (AU), auf dem Kontinent das visumfreie Reisen für Bürger*innen von AU-Staaten zu erleichtern und einer afrikaweiten Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit den Weg zu ebnen.
Derweil haben die restriktive und militarisierte Einwanderungs- und Grenzkontrollpolitik von EU und nordafrikanischen Staaten inzwischen auch heftige Auswirkungen auf die Gesellschaft in Niger. «Ressentiments gegen Migrant*innen nehmen in Nordafrika schon seit Jahren massiv zu. Doch nun geschieht das auch hier in Niger», erklärt eine mit den Entwicklungen in der nigrischen Gesellschaft bestens vertraute Quelle, die anonym bleiben will, gegenüber der RLS. Die EU-Grenzauslagerung in den Globalen Süden und die zunehmend militarisierte Grenzkontrollpolitik nordafrikanischer Staaten führen dabei die auch von nordafrikanischen Regierungen immer wieder bemühte panafrikanische Rhetorik ad absurdum und unterlaufen teils vielversprechende Initiativen der AU, die Süd-Süd-Kooperationen zwischen Staaten des Kontinents zu stärken versuchen – der einzigen Chance für einen wirksamen Widerstand gegen post-koloniale Ausbeutungsbeziehungen zwischen Globalem Norden und Süden.