Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Parteien / Wahlanalysen - Türkei Wahlen im Erdbebengebiet

Ob es zu einem politischen Wandel in der Türkei kommt, ist weiterhin ungewiss.

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Svenja Huck ,

Trümmerbeseitigung im Stadtzentrum von Samandag/Hatay. Viele der Gebäude enthalten Asbest, weshalb ihre Ablagerung umstritten ist. Foto: Svenja Huck

Seit Wochen besuchen hochrangige türkische Politiker*innen immer wieder das Erdbebengebiet im Südosten des Landes. Sie treffen dort die Menschen, die die starken Beben Anfang Februar überlebt haben und nun versuchen, ihre Heimat wiederaufzubauen. Während der Präsidentschaftskandidat des führenden Oppositionsbündnisses Kemal Kılıçdaroğlu als Zeichen der Solidarität für eine Nacht in einem Zelt übernachtete, verteilte Präsident Erdoğan geringe Summen Bargeld an Kinder, nach dem er eine Pressekundgebung abgehalten hatte. All diese Auftritte sind Teil des Wahlkampfes, der am 14. Mai in den landesweiten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gipfeln wird.

Svenja Huck studierte Geschichtswissenschaften in Berlin mit Auslandsaufenthalten in Istanbul und London. Ihre Abschlussarbeit thematisiert sie die türkische Gewerkschaftskonföderation DİSK 1967-80. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen als freie Journalistin über Arbeitskämpfe und die politische Opposition in der Türkei.

Doch wie wird die Stimmabgabe in einer Region organisiert, in der es kaum noch sichere Gebäude gibt, aus der viele Menschen bereits geflohen sind und die Verbliebenen keine feste Meldeadresse haben, da sie in Notunterkünften untergebracht sind? Diese Fragen beschäftigen nicht nur die Wahlbeobachter*innen und Umfrageinstitute in der Türkei, sondern auch die Opposition und ihre Wählerschaft. Denn laut aktueller Umfragen könnte sie dieses Mal eine reale Chance haben, die AKP und ihren de facto Koalitionspartner von der Regierung abzulösen.

«Nach den Erdbeben haben wir Probleme bei der Aktualisierung der Wählerverzeichnisse und der Sicherheit der Wahlurnen», sagte Bekir Ağırdır, Vorstandsmitglied des Meinungsforschungsinstitut KONDA, der Nachrichtenagentur Reuters. Man habe keine Gewissheit über die Anzahl derjenigen, die in andere Regionen gezogen seien und damit andernorts stimmberechtigt wären. Vor den Beben lebten in der Region rund 14 Millionen Menschen, darunter 9 Millionen Stimmberechtigte. Circa 3 Millionen Überlebende haben bereits die Region verlassen, die Zahl der Toten beläuft sich nach offiziellen Angaben auf rund 50.000. Daran zweifelt unter anderen die Ärztekammer TTB (Türk Tabip Birliği). Sie kritisiert widersprüchliche Angaben über die Zahl der Begräbnisse und der nach wie vor vermissten Personen, weshalb die Zahl der tatsächlich Verstorbenen weitaus höher sein könnte. Menschen in der Region sehen darin die Gefahr, dass die Stimmen ihrer verstorbenen – aber nicht als solche registrierten – Angehörigen, missbraucht werden könnten.

Dagegen engagiert sich beispielsweise die NGO «Oy ve Ötesi» («Wählerstimme und darüber hinaus»). Die 2014 gegründete Organisation kündigte an, 100.000 Freiwillige zur Wahlbeobachtung in der gesamten Türkei zu entsenden. Bereits Mitte Februar hatte die Organisation ein System entwickelt, über das Menschen verstorbene oder vermisste Angehörige melden können. So soll verhindert werden, dass sie fälschlicherweise im Wählerverzeichnis aufgeführt werden. Auch die Angehörigen selbst sehen es als ihre Aufgabe, den geregelten Ablauf der Wahlen zu kontrollieren. Sie sagen, wenn wir schon nicht ihre Leben retten konnten, dann verteidigen wir wenigstens ihr Stimmrecht.

Das Innenministerium hatte angekündigt, dass mögliche Adressänderungen bis zum Abend des 17. März über das online-System e-devlet durchgeführt werden können und dementsprechend die Wählerverzeichnisse erstellt werden würden. Realistisch ist der Zeitrahmen jedoch nicht, denn nur knapp einem Monat nach dem Erdbeben waren viele Menschen noch immer auf der Flucht, oder hatten das Erdbebengebiet vorübergehend verlassen, kehrten anschließend aber wieder zurück. In den ersten Tagen wurden kurzfristig kostenfreie Flüge und temporäre Unterkünfte für die Erdbebenopfer in anderen Regionen der Türkei bereitgestellt. Doch fehlende Perspektiven, hohe Preise in den großen, westlichen Stadtzentren und die Verbundenheit vieler zu ihrer Heimat veranlassten die Menschen nach einigen Wochen zur Rückkehr. Oppositionelle befürchten, dass die permanente Mobilität der Menschen dazu führen könnte, dass die Wählerverzeichnisse nicht auf dem aktuellen Stand seien werden und am Wahltag Chaos entstehen wird. Dadurch könnte es für viele Menschen aus der Erdbebenregion schwierig bis unmöglich werden, ihre Stimme abzugeben. Vor dem Hintergrund, dass die Opposition ohnehin mit dem Versuch der Wahlfälschung durch die Regierungsparteien rechnet, erschweren die Umstände nach dem Erdbeben zusätzlich einen geregelten Wahlablauf.

Graffiti in Antakya zeigt Unterstützung für den Präsidentschaftskandidaten der Opposition. Im Hintergrund steht ein Zelt der Katastrophenschutzbehörde AFAD. Auf dem Stromkasten wird vor Todesgefahr gewarnt. Foto: Svenja Huck

In einer Umfrage des İstanbul Ekonomi Araştırma Insituts Anfang März fällt auf, dass trotz des offensichtlichen Versagens staatlicher Behörden 38% der Befragten die staatliche Krisenbewältigung als erfolgreich bezeichnen. Auch liegt nach dieser Umfrage die Regierungspartei mit 33,7% noch immer vor der Oppositionspartei CHP mit 25,8 %. Gleichzeitig nannten jedoch fast 90 % auf die Frage, welcher Institution sie bei der Krisenbewältigung am meisten vertrauen, die freiwilligen Zivilist*innen. Erst an zweiter Stelle folgte die türkische Armee. Nicht vergessen werden sollte jedoch, dass aktuelle Umfragen häufig in der Kritik stehen, nicht repräsentativ zu seien, da Menschen aus den Erdbebengebieten nicht einbezogen werden würden. Wie in anderen Umfragen zeigt sich jedoch auch hier, dass die hauptsächlich von der Opposition, linken Organisationen und Zivilist*innen organisierte Nothilfe nicht automatisch zu einem starken politischen Wandel in Bezug auf die Wahlen führt. Bis zum Wahltag im Mai wird zwar die Bedeutung der alltäglichen Versorgung vor Ort nicht abnehmen, aber auch Themen wie der Wiederaufbau, beispielsweise durch günstige Kredite, werden dann eine Rolle spielen. Präsident Erdoğan hat Gewerbetreibenden und Handwerkern einen sogenannten «Rückkehr zum Leben-Kredit» (Hayata Dönüş Kredisi) versprochen.

Die politische Mündigkeit der Millionen Erdbebenopfer im Südosten der Türkei wurde bereits in den ersten Tagen nach den Beben angegriffen. Regierungspolitiker*innen beleidigten die Menschen, die das Versagen der Regierung und die fehlende staatliche Hilfe anprangerten, als «anstandslos, schäbig und armselig». Die kommenden Wahlen sind eine Möglichkeit, die Regierung für ihr Versagen zur Verantwortung zu ziehen. Da jedoch zahlreiche Indizien darauf hinweisen, dass es bei den Wahlen zu Unregelmäßigkeiten kommen könnte, ist bereits die Gewährleistung einer freien und repräsentativen Stimmabgabe ein Akt der politischen Ermächtigung. Auch wenn bei den Menschen im Erdbebengebiet nach wie vor die alltägliche Versorgung und das blanke Überleben im Vordergrund stehen, so hat das Erdbeben auch viele von ihnen zusätzlich politisiert. Dass sie in den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen mitentscheiden können, ist eine zentrale Forderung der Überlebenden.

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