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Macrons zutiefst unpopuläre Rentenreform steht wohl kurz vor der Verabschiedung, aber der Kampf ist noch nicht vorbei

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Am zehnten Tag der Proteste gegen Macrons Rentenreform sind in Toulouse mehr als 50.000 Menschen auf den Straßen. Kurze Zeit später ging die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die Demonstrant*innen vor. (28.3.2023) IMAGO / NurPhoto

In den letzten Wochen gingen mehr als eine Million französische Bürger*innen gegen die geplante Rentenreform der Regierung auf die Straße. Die meisten politischen Parteien und die französische Gewerkschaftsbewegung sowie nach Umfragen mehr als 90 Prozent der aktiven Bevölkerung lehnen die Reform ab. Doch der französische Präsident Emmanuel Macron hält an ihr fest. Wie sind wir an diesen Punkt gelangt und was kommt als Nächstes?

Gala Kabbaj und Zakaria Bendali gehören dem Forschungskollektiv Quantité Critique an.

Ende 2019, nach einem schwierigen Jahr der öffentlichen Mobilisierung der sogenannten Gilets jaunes, der Gelbwestenbewegung, kündigte Macrons Regierung eine grundlegende Reform des französischen Rentensystems an. Das Ziel war es, anstelle des derzeitigen universellen Systems der Umverteilung ein punktbasiertes, umlagefinanziertes System einzuführen, bei dem die Dauer des Arbeitslebens verlängert und die Leistungen der verschiedenen Rentenkassen «harmonisiert», das heißt gekürzt werden sollen. Diese Reformpläne stießen auf breiten Widerstand und provozierten die Entstehung einer geeinten Front der Gewerkschaften sowie das Wiederaufleben der Gelbwestenbewegung. Letztlich wurde das Vorhaben nach drei Monaten massiver Mobilisierung im März 2020 auf Eis gelegt, wobei Macron die COVID-19-Pandemie als Ausrede anführte.

Drei Jahre später, nach dem knappen Sieg über Marine Le Pen bei den letzten Wahlen, schein Macron weiterhin fest entschlossen zu sein, das Rentensystem zu reformieren, obwohl die Unterstützung dafür im Parlament heute schwächer ist als zuvor. Seine Koalition verfügt über keine absolute Mehrheit mehr. Sein starrsinniges Festhalten an diesem Vorhaben ist jedoch nicht isoliert zu betrachten. Die Pläne sind Teil eines umfassenderen Angriffs auf das Recht der französischen Bevölkerung und Arbeiterschaft auf ein gutes Leben, wozu auch die Möglichkeit auf einen angemessenen Ruhestand gehört. In den letzten drei Jahrzehnten hat es durchschnittlich alle vier Jahre einen Versuch gegeben, das bestehende Rentensystem zu ändern.

Eine dubiose Reform

Das aktuelle Vorhaben sieht zwei wesentliche Änderungen vor: die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre und die Anforderung, mindestens 43 Jahre gearbeitet zu haben, um die volle Rente zu beziehen (zuvor waren es 42 Jahre). Von Anfang an stellte die Regierung die Reform als eine finanzielle Notwendigkeit und als eine Frage der Gerechtigkeit dar (alle Arbeitnehmer*innen sollen gleich behandelt werden) und führte mehrere Argumente an, die in der öffentlichen Diskussion jedoch bald widerlegt wurden.

Das erste und wichtigste Argument ist, dass das staatliche Rentensystem ein auf 13 Milliarden Euro geschätztes Defizit aufweist. Laut dem Rentenrat (COR), einem Gremien, das die französische Premierministerin beraten soll, stellt dieses Defizit jedoch keine wirkliche Bedrohung dar, da die meisten seiner Szenarien eine Rückkehr zu einem ausgeglichenen Haushalt vorhersagen, ohne dass es einer Reform bedarf. Es ist erwähnenswert, dass die Regierung während der Pandemie 300 Milliarden Euro zur Stützung der Wirtschaft bereitgestellt hat. Auch angesichts des Umstands, dass sich 2021 geschätzt 346 Milliarden Euro im staatlichen Rentensystem befanden, erscheint das Defizit von 13 Milliarden Euro doch eher unbedeutend.

Hinter dem Argument, es sei dringend erforderlich, das Defizit zu verringern, verbirgt sich somit eine andere Motivation der Regierung, die im zweiten Anlauf, das Vorhaben durchzusetzen, deutlich wurde: Es geht darum, die Finanzmärkte und die Gläubiger des französischen Staates zu besänftigen, indem man die Bereitschaft zu Einsparungen signalisiert. Denn selbst wenn wir akzeptieren, dass die Reform aus finanziellen Gründen grundsätzlich notwendig ist, wurde versäumt, andere Wege zu finden, um die bestehende Lücke zu schließen. Die Regierung weigert sich, an das Vermögen und die Einkommen der Reichen zu gehen. Weder will sie die höchsten Renten kürzen (1,7 Prozent der Rentner*innen in Frankreich erhalten mehr als 4.500 Euro im Monat) noch die Beiträge für Spitzenverdiener*innen erhöhen (wie kürzlich von der spanischen Regierung vorgeschlagen). Sie verzichtet zudem darauf, die Superreichen stärker zu besteuern, um das Defizit auszugleichen. Es stellte sich also klar heraus, dass das eigentliche Ziel nicht darin besteht, das Defizit des Rentensystems auszugleichen, sondern künftige Steuersenkungen für Unternehmen zu finanzieren.

Fairness für wen?

Macrons Regierung versuchte auch, die Reform als einen Schritt darzustellen, mit dem die zwischen Arbeitnehmer*innen bestehende Ungleichheiten abgebaut werden können, insbesondere zum Vorteil derjenigen, die früh in den Arbeitsmarkt eingestiegen sind. Tatsächlich zeigt eine Folgenabschätzung des aktuellen Reformvorhabens, dass, wenn es durchkommt, Frauen tendenziell stärker davon betroffen sein werden als Männer. So müssten Frauen, die 1972 geboren sind, im Schnitt neun Monate länger arbeiten, bei Männern wären es fünf. Beim 1980er-Jahrgang müssten Frauen doppelt so viele Monate länger arbeiten als Männer. Die Erhöhung der erforderlichen Beitragsjahre für den vollen Rentenbezug würde überproportional Teilzeitbeschäftigte und Personen mit unterbrochener Berufslaufbahn treffen, also Menschen, die längere Zeit erwerbslos waren oder Elternurlaub in Anspruch genommen haben, also wieder überwiegend Frauen.

Das Vorhaben droht zudem die Klassenungleichheit zu verschärfen, insbesondere zum Nachteil von einfachen Arbeitern mit niedrigem Einkommen und Bildungsniveau. Die Reform wird größere Auswirkungen auf diejenigen haben, die früh in den Arbeitsmarkt eingestiegen sind, während Gutverdienende mit einer guten Ausbildung weniger zu fürchten haben. Nach 1972 geborene Personen, die im Alter von 22 Jahren studiert und ihre Arbeit aufgenommen haben, müssen jetzt schon bis zum 65. Lebensjahr arbeiten, um die volle Rente zu erhalten, und wären daher von der geplanten Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters nicht betroffen.

Die Regierung verspricht zudem, die garantierte Mindestrente nach einem vollem Erwerbslebend auf 1.200 Euro zu erhöhen. Voraussetzung für den Anspruch auf diese Erhöhung ist jedoch eine Vollzeitbeschäftigung zum Mindestlohn während des gesamten Arbeitslebens. Wie Ökonom Michaël Zemmour betont, trifft dies nur auf wenige Menschen zu. Derzeit erhalten fünf Millionen Rentner*innen eine monatliche Rente von weniger als 1.200 Euro. Sollte die Reform verabschiedet werden, werden nur diejenigen, die bereits mehr als 1.100 Euro verdienen, die 1.200-Euro-Grenze überschreiten, und etwa 25 Prozent der Rentner*innen (und 40 Prozent der Frauen) werden immer noch eine Rente von weniger als 1.200 Euro erhalten, weil viele ihr Arbeitsleben unterbrochen haben.

Die Opposition vereinigen

Die Bevölkerung steht dieser Reform, die Premierministerin Élisabeth Borne am 12. Januar angekündigt hat, konstant ablehnend gegenüber. Zwischen 68 und 72 Prozent der Bevölkerung haben sich seitdem an Protestaktionen beteiligt. Das Kollektiv Quantité Critique, dem wir angehören, führte im Februar eine Umfrage durch. Diese repräsentative Erhebung mit 4.000 Teilnehmer*innen spiegelt die vielfältigen Arbeitserfahrungen der Bevölkerung wider. Die Ergebnisse zeigen einen breiten Widerstand in der erwerbstätigen Bevölkerung gegen die Rentenreform und vermitteln einen detaillierten Eindruck von den Einstellungen und Motivlagen, die die aktuellen Proteste befeuern.

Wir haben festgestellt, dass der Widerstand in allen professionellen und beruflichen Gruppen und Kategorien weit verbreitet ist, wobei die besonders Präsenz von Techniker*innen, Handwerker*innen und einfachen Arbeiter*innen auffällt. Doch selbst unter den höheren Manager*innen äußern sich 64 Prozent gegen die Reform. Nicht mit überwältigender Mehrheit dagegen sind die über 65-Jährigen (43 Prozent sind für die Reform und 45 Prozent dagegen) und jene mit einem monatlichen Nettoeinkommen von mehr als 4.000 Euro (52 Prozent sind dafür und 42 Prozent dagegen). Doch selbst in diesen Gruppen gibt es Vorbehalte, die Reform zu unterstützen.

Diese überwältigende Ablehnung verweist auf ein seit Langem bestehendes und weithin bekanntes Problem: die allgemeine Verschlechterung der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, ein Trend, der sich auf ganz verschiedene Wirtschaftssektoren, Beschäftigungsformen und Tarifbereiche erstreckt. Unsere Erhebung zeigt, dass diejenigen mit den härtesten und anspruchsvollsten Tätigkeiten und gleichzeitig niedrigsten Beschäftigungsstatus an vorderster Front des Widerstands gegen die Reform stehen, obwohl auch sehr hochqualifizierte Beschäftigte darunter sind. Das bedeutet, dass das Aufbegehren gegen die Reform unter denjenigen am «Rand des Arbeitsmarkts» am stärksten ist. In der Befragung wurde die Teilnehmer*innen darum gebeten, ihre Arbeit mit verschiedenen Adjektiven zu beschreiben, Bei denjenigen, die die vier negativen Adjektive stressig, gefährlich, repetitiv und anstrengend wählten, war die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich an Protesten beteiligen, mit 83 Prozent am höchsten.

Selbst unter den Arbeitnehmer*innen, die eine positive Perspektive auf ihren Arbeitsplatz haben und sich keine Sorgen um ihren Job oder Einkommensverluste machen müssen, ist die überwältigende Mehrheit (64 Prozent) nach wie vor gegen die Rentenreform. Dies unterstreicht die außergewöhnliche Stärke und Geschlossenheit der Oppositionsbewegung, die von ganz verschiedenen Kategorien von Beschäftigten getragen wird und sich nicht auf diejenigen Städte und Gebiete beschränkt, in denen traditionell viel protestiert und gestreikt wird. Die weit verbreitete Ablehnung der Reform wurzelt in der Vision des Ruhestands als einer Zeit der Entspannung (92 Prozent der Befragten) und der Möglichkeit, neue Interessen zu entdecken (90 Prozent der Befragten), was auf ein Umdenken in Bezug auf den Stellenwert von Erwerbsarbeit im Leben verweist und auf den Wunsch, sich nicht auf Dauer produktiv sein zu müssen und sich den Marktanforderungen zu unterwerfen.

Massenmobilisierungen

Inzwischen ist aus Ablehnung und Empörung eine mächtige soziale Bewegung entstanden, angetrieben von einer vereinten Front der Gewerkschaften. Im Moment lässt sich ein in der französischen Politik eher seltenes Phänomen beobachten, das als intersyndicale bezeichnet wird: das Zusammenkommen des kommunistischen und sozialdemokratischen Flügels der Gewerkschaftsbewegung. Der Auftakt dieser Bewegung fand am 19. Januar statt, mit ersten Aufrufen zu Streiks und Protesten. Seitdem haben die Proteste und Demonstrationen nichts an Dynamik und Beteiligung verloren. Einen ersten Rekord gab es am 31. Januar, als nach Polizeiangaben 1,27 Millionen Menschen in ganz Frankreich auf die Straßen gingen, am 7. März waren sogar 1,28 Millionen auf der Straße.

Die anhaltenden Streiks im privaten und öffentlichen Sektor nehmen insbesondere seit Februar an Fahrt auf. Die Strategie ist, an nationalen Mobilisierungstagen die Streiktätigkeit hochzufahren und möglichst die gesamte Wirtschaft zu treffen, wobei wir seit Mitte Februar häufiger Teilstreiks sehen. Der öffentliche Nahverkehr, der Eisenbahnsektor und das nationale Bildungssystem sind besonders betroffen. Hier sind die Mobilisierungen weiterhin hoch und es kommt häufig zu Betriebsunterbrechungen. Obwohl die Streiks nicht das Niveau erreicht haben, das in bei der letzten Rentenreform in den 1990er Jahren zu beobachten war. Zudem gibt es erhebliche Unterschiede, nicht alle Branchen und Lohngruppen sind gleichermaßen involviert. Die geringere Streikbeteiligung geht zum Teil auf die neoliberale Transformation des Arbeitsmarkts in Frankreich zurück, die zu einer Atomisierung von Beschäftigten und einem Rückgang der Zahl der Berufsorganisationen geführt hat.

Der Bewegung sind auch viele aus den sogenannte «strategische Sektoren» beigetreten. Am 10. März wurden sechs von sieben Ölraffinerien auf dem französischen Festland blockiert. Am 18. März waren 37 Prozent der operativen Mitarbeiter bei TotalEnergies im Streik. Im März wurden zudem Atomkraftwerke bestreikt und absichtliche Stromausfälle in verschiedenen institutionellen Machtzentren herbeigeführt. Hiervon waren sogar Baustellen für die Olympischen Spiele 2024 in Paris getroffen. Auch Mitarbeiter*innen der Pariser Müllabfuhr und anderer Entsorgungseinrichtungen schlossen sich der Bewegung an, was zu einer raschen Müllansammlung in der Hauptstadt führte. Auch andere große Städte wie Nantes, Le Havre, Marseille und Metz sind betroffen.

Während im Parlament der Verabschiedung der Reform vorbereitet wird und näher rückt, bleiben die Hoffnungen groß, diese noch verhindern zu können. Die Widerstandsbewegung genießt in der öffentlichen Meinung weiterhin ein hohes Ansehen, zumal es der Regierung nicht gelungen ist, sich ausreichend Unterstützung für ihr Vorhaben zu sichern, weder in der Bevölkerung, noch in den Medien oder in den Institutionen, die die Reform in Kraft setzen sollen.

Die Umgehung demokratischer Prozesse

Angesichts der Entschiedenheit und des breiten Widerstands wurden vonseiten der Regierung alle Hebel genutzt, um die Verabschiedung und Umsetzung der Reform zu beschleunigen. Zu diesem Zweck wurde kein einziges autoritäres Instrument in der französischen Verfassung ausgelassen. Der Gesetzgebungsprozess begann am 30. Januar in den Ausschüssen der Nationalversammlung. Die Regierung beschloss, ihren Vorschlag über einen Nachtragshaushalt der Sozialversicherung in das Parlament einzubringen. Damit wurde die Dauer der Debatten in der Nationalversammlung auf 50 Tage begrenzt und die Fähigkeit der Opposition, das Projekt zu behindern, deutlich verringert. Die Debatten begannen am 6. Februar im Plenum und waren von erheblichen Spannungen und mehreren Kontroversen geprägt. Das Linksbündnis NUPES war zwischen zwei Optionen hin- und hergerissen. Einerseits konnte es mit zahlreichen Änderungsanträgen den Gesetzgebungsprozess verlangsamen und damit den Gewerkschaften die Gelegenheit geben, auf den Straßen genug Druck aufzubauen, andererseits war damit die Gefahr verbunden, dass die meisten Artikel des Gesetzentwurfs nicht zur Abstimmung kommen. Andererseits würden die rechten Republikaner, wenn sie den Prozess durch die Einschränkung von Änderungsanträgen vorantreiben, gezwungen, bei den Abstimmungen zu ihrer Unterstützung für die Reform zu stehen. Bei diesem Punkt gab es Uneinigkeit in der Opposition: Kommunisten, Sozialisten und Grüne zogen es vor, ihre Änderungsanträge zurückzuziehen, während La France Insoumise auf eine Strategie der Behinderung drängte. NUPES entschied sich am 15. Februar für die zweite Option und zog 90 Prozent ihrer Änderungsanträge zurück, um eine Abstimmung über Artikel 7 zu provozieren. Das Manöver scheiterte jedoch, da die Debatten zwei Tage später ohne Abstimmung in der Nationalversammlung endeten und vor allem Verwirrung auslösten.

Als nächstes war der vom rechten Flügel kontrollierte Senat an der Reihe, das Gesetz zu prüfen, dafür war eine Sitzung am 28. Februar in Ausschüssen und am 2. März in einer Plenarsitzung vorgesehen. Die linken Fraktionen folgten der von NUPES beschlossenen Strategie und legten mehrere Änderungsanträge vor, um Abstimmungen über Artikel des Gesetzentwurfs zu ermöglichen. Sechs Tage später, am 8. März, nutzte die Mehrheit der republikanischen Fraktion Artikel 38 der Geschäftsordnung des Senats, um eine deutliche Beschleunigung der Debatten zu erzwingen. Am darauffolgenden Tag wurde Artikel 7 mit 201 gegen 115 Stimmen angenommen. Zwei Tage später nutzte Arbeitsminister Olivier Dussopt Artikel 44 der Verfassung, um eine einmalige Abstimmung über den gesamten Gesetzestext durchzusetzen. Am nächsten Abend wurde das Gesetz vom Senat in seiner Gesamtheit verabschiedet.

Macrons Staatsstreich

Der Prozess nahm dann erheblich Fahrt auf. Da sich die Nationalversammlung und der Senat nicht einig waren, traf sich am 15. März ein gemeinsamer Ausschuss aus sieben Abgeordneten und sieben Senatoren, um einen gemeinsamen Text für beide Kammern zu erarbeiten, über den dann beide abstimmen mussten. Der Senat hatte ihn am 16. März verabschiedet, aber in der Nationalversammlung kam es trotz Verhandlungen zwischen der Regierung und dem rechten Flügel zu keiner Mehrheit. An dieser Stelle beschloss Premierministerin Élisabeth Borne, Artikel 49 Absatz 3 der Verfassung anzuwenden, der es der Regierung ermöglicht, die Verabschiedung eines Gesetzes ohne Abstimmung in der Nationalversammlung zu erzwingen. Am selben Abend fanden in ganz Frankreich spontane Demonstrationen statt, um gegen das zu protestieren, was die Gewerkschaften und ihre Verbündeten als Beerdigung der Demokratie bezeichnen.

Der einzige Weg, dies zu verhindern, wäre ein Misstrauensvotum gewesen, das im Falle eines Erfolgs die Regierung zum Rücktritt zwingt. Ein entsprechender parteiübergreifender Antrag wurde von der zentristischen LIOT-Fraktion eingereicht, scheiterte aber mit nur neun Stimmen. NUPES prüft nun die Möglichkeit, das «Referendum über gemeinsame Initiativen» zu nutzen. Am 17. März legte die Linkskoalition einen Gesetzentwurf vor, der eine Anhebung des Renteneintrittsalters über 62 hinaus verbieten würde. Sollte der Verfassungsrat dem Vorschlag zustimmen, könnte er den Weg für ein Referendum zu diesem Thema ebnen. Der Rat hat jedoch einen Monat Zeit, um den Text zu überprüfen, und der Vorschlag wird ungültig, wenn die Reform vor dieser Frist verabschiedet wird, da die französische Verfassung die Aufhebung eines innerhalb eines Jahres erlassenen Gesetzes nicht zulässt.

Dass Macron kurz davor stand (es fehlten nur neun Stimmen), seine Macht zu verlieren, kann als ein kleiner Sieg angesehen werden. Darüber hinaus ist die Berufung auf Artikel 49 Absatz 3 ein deutliches Zeichen für die Schwäche der Regierung. Diese Situation verschärft die anhaltende politische Krise in Frankreich weiter, wobei die Regierung zunehmend isoliert ist und die sozialen Unruhen weiter zunehmen. Unter diesen Umständen scheinen alle Voraussetzungen dafür gegeben zu sein, damit die Widerstandsbewegung in den kommenden Tagen ihren Druck aufrechterhalten oder sogar noch stärker werden kann, um eine Rücknahme des Gesetzes zu erzwingen. Vieles erinnert an das Jahr 2006, als die damalige Regierung aufgrund von Massenprotesten an der Durchsetzung sogenannter «Erstanstellungsverträge» für Berufseinsteiger*innen scheiterte.