Am 24. April 2013 stürzte die Textilfabrik «Rana Plaza» in Bangladesch ein und begrub 5000 Menschen unter sich. Am Tag zuvor wurden Risse in den Wänden des Fabrikgebäudes entdeckt und der Einsturz des achtstöckigen Gebäudes war bereits absehbar. Die Textilarbeiter*innen meldeten ihre Bedenken, wurden jedoch vom Fabrikbesitzer abgewiesen und ihnen wurde bei Nichterscheinen mit Lohnkürzungen und Entlassung gedroht.
Kristina Strachov absolvierte ihr Praktikum im Südasienbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung während ihres Masterstudiums in Human Rights Studies.
Saydia Gulrukh ist Journalistin, Forscherin und feministische Bloggerin. Sie engagiert sich seit zwei Jahrzehnten in der Arbeiter*innenbewegung in Bangladesch.
Mushrefa Mishu ist Präsidentin der 1995 gegründeten Gewerkschaft «Garment Workers Unity Forum» (GWUF).
Amin Amirul ist Präsident der «National Garment Workers Federation» (NGWF).
Aufgrund der mangelnden Sicherheitsvorkehrungen und Missachtung der Sorgfaltspflicht starben am nächsten Tag rund 1070 Menschen und etwa 2000 wurden verletzt. Weltweit löste der Einsturz großes Entsetzen und Empörung aus. Viele Menschen wurden dadurch erstmalig auf die unmenschlichen Arbeitsbedingungen aufmerksam, unter denen unsere Textilien in Massenproduktion angefertigt werden.
Neben den Gefahren am Arbeitsplatz gehören in Bangladeschs Textilbranche auch Hungerlöhne zur Realität, die selbst bei täglichen Überstunden nicht genug Einkommen zum Überleben sichern. Der festgelegte Mindestlohn pro Monat liegt bei 8000 Taka, umgerechnet etwa 68 Euro. Nach Angaben der Global Living Wage Coalition liegt ein Existenzminimum mit 201 Euro deutlich darüber. Vor allem Frauen, die von dem Geld ihre Kinder versorgen müssen, sind aufgrund der niedrigen Löhne armutsgefährdet.
Erschwerend hinzu kommt, dass die Analphabetenrate in Bangladesch bei 46,9 Prozent liegt und somit der Ausbeutung ihren Nährboden bereitet. Die Angestellten sind oft nicht in der Lage ihre Arbeitsverträge oder Lohnabrechnungen zu verstehen. Viele Fabrikbesitzer*innen nutzen diese verletzliche Lage aus, und internationale Modemarken üben durch aggressive Preisverhandlungen, kurze Lieferzeiten und Auftragsänderungen in letzter Minute zusätzlichen Druck aus.
Darüber hinaus wird die Ausbeutung durch das politiche Gewicht der Bekleidungsindustrie begünstigt. Diese ist unter anderem auf die enge Zusammenarbeit zwischen Fabrikbesitzer*innen und politischen Funktionär*innen zurückzuführen. Die Textilindustrie stellt mit einem Anteil von 83,4 Prozent an den Gesamtexporten und rund 26 Prozent der landesweit legal beschäftigten Arbeitnehmer*innen die Haupteinnahmequelle des Landes dar.
Als Reaktion darauf kommt es regelmäßig zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen der Polizei und streikenden Arbeiter*innen, Aktivist*innen und Gewerkschafter*innen. Anlässlich des tragischen Jahrestages des Fabrikeinsturzes von Rana Plaza sprach Kristina Strachov vom RLS-Büro Südasien mit einer der Aktivistinnen und zwei Gewerkschaftsführer*innen aus Bangladesch. Sie berichten sowohl darüber, wie sich die sozialen Rechte der Textilarbeiter*innen in den letzten zehn Jahren verändert haben, als auch über ungelöste Probleme, die von der internationalen Gemeinschaft noch zu bewältigen sind.
Wie haben die Regierung von Bangladesch und die Textiindustrie auf den Einsturz des Fabrikgebäudes reagiert?
Saydia Gulrukh (SG): Es war extrem schwierig, auf einen Verlust solchen Ausmaßes zu reagieren. Alle hatten damit zu kämpfen, außer den Fabrikbesitzer*innen, der Regierung und den globalen Marken. Ihre Reaktion war eher «business-as-usual». Der Verband der Bekleidungshersteller und -exporteure von Bangladesch und die Mitglieder des Kabinetts sahen in dem Ereignis einen Imageschaden für den florierenden Exportsektor des Landes und bemühten sich schnell um Schadensbegrenzung und die Wiederherstellung ihres beschädigten Rufes.
Um sich ihrer strafrechtlichen Verantwortung zu entziehen, gingen die Weltmarken bereitwillig auf die Forderung nach finanzieller Entschädigung ein. In weniger als drei Wochen nach dem Einsturz, lange bevor das Rana Plaza Arrangement und der Rana Plaza Donors Trust Fund eingerichtet wurden, zahlte PRIMARK große Summen, um die Situation zu ihren Gunsten zu lenken. Einige von uns hatten das Gefül, dass die überwiegende Diskussion über finanzielle Entschädigung ein Versuch war, die armen Textilarbeiter*innen mit einem Preisschild auf ihren toten Körpern zu versehen. Der Prozess der finanziellen Unterstützung –
ich weigere mich, ihn als Entschädigung zu bezeichnen – hat es der Weltöffentlichkeit erschwert, sich mit der Frage der strafrechtlichen Verfolgung von Unternehmen zu befassen, und hat dadurch multinationale Konzerne entlastet.
Wie haben sich die sozialen Rechte der Textilarbeiter*innen in den letzten 10 Jahren verändert?
SG: Die Arbeiter*innen kommen nach wie vor mit dem Wissen in die Fabriken, dass sie bei der Arbeit sterben könnten. Wenn Sie die Arbeiter*nnen zu Hause besuchen, werden Sie eine laminierte Kopie ihres Fabrikausweises an der Wand sehen. Dieser Ausweis ist im Falle ihres Todes für das Überleben ihrer Familie entscheidend, weil sie damit eine finanzielle Entschädigung forden könnten.
Die Brandschutz- und Gebäudesicherheitsprobleme, die früher nur ein Kästchen auf der Checkliste für die Einhaltung der Vorschriften waren, werden jetzt sehr ernst genommen. Weder die Werksleitung noch die globalen Markenunternehmen können dies als reine Verfahrensangelegenheit behandeln und müssen in diese Art von Sicherheit investieren.
Vor dem Rana-Plaza-Unglück gab es landesweit nur 100 aktive Gewerkschaften im gesamten Textilsektor, aber jetzt haben wir fast 1100 registrierte Gewerkschaften.
Der ausschließliche Fokus auf den Brandschutz und die Beschaffenheit eines Gebäudes hat jedoch nicht nur die Frage der strafrechtlichen Verfolgung von Unternehmen unsichtbar gemacht, sondern auch die Frage der fairen Arbeitsbedingungen und der Klassenverhältnisse in den Hintergrund gestellt.
Während der Pandemie beispielsweise, wurde die Gesundheit aller berücksichtigt, nur nicht die der Textilarbeiter*innen. Die Covid-Beschränkungen galten nicht für die Bekleidungsfabriken. Die Art und Weise, wie das Leben der Arbeiter*innen als entbehrlich und wegwerfbar behandelt wird, stellt eine Klassenfrage dar, die ernsthaft diskutiert werden müssen. Sie arbeiten immer noch extrem viele Stunden für einen Hungerlohn.
Mushrefa Mishu (MM): Meiner Meinung nach haben sich die Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken in den letzten zehn Jahren nicht verbessert. Ein großer Teil der Arbeiter*innen lebt immer noch in Slums in sehr unhygienischen Verhältnissen. Nach Angaben der ILO erhalten die Textilarbeiter*innen in Bangladesch die niedrigsten Löhne der Welt. Zudem sind sie sich ihrer Rechte nicht bewusst. Daher ist es unsere Aufgabe als Gewerkschaft, sie über ihre Rechte als Menschen und als Arbeitnehmer*innen aufzuklären.
Vor allem haben die Opfer von Rana Plaza in den letzten zehn Jahren immer noch keine wirkliche Entschädigung erhalten. Die Marken haben ihnen ein paar Almosen gegeben, aber die fünf Fabrikbesitzer*innen, diese Mörder, sind immer noch nicht für ihre Verbrechen bestraft worden, so wie es das Gesetz verlangt.
Amin Amirul (AA): Als NGWF setzen wir uns für sichere Arbeitsplätze der Textilarbeiter*innen in Bangladesch ein, und es gibt Verbesserungen, vor allem in Bezug auf Sicherheit und Gesundheit. Darüber hinaus hat sich die gewerkschaftliche Repräsentanz der Arbeitnehmer*innen verändert.
In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Gewerkschaften dank lokaler Kampagnen und des Drucks der internationalen Gemeinschaft gestiegen. Vor dem Rana-Plaza-Unglück gab es landesweit nur 100 aktive Gewerkschaften im gesamten Textilsektor, aber jetzt haben wir fast 1100 registrierte Gewerkschaften. Als Gewerkschaftsmitglied sind die Arbeiter*innen Teil von etwas Größerem, und die wachsende Zahl der Gewerkschaften ist entscheidend für die Beendigung der schlimmen Missstände und Ungerechtigkeiten, denen sie kollektiv ausgesetzt sind.
Wie verändert sich die Textilindustrie derzeit und welche Auswirkungen hat dies auf die Arbeitnehmer*innen?
MM: Derzeit werden die Produktionssysteme der Bekleidungshersteller*innen zunehmend automatisiert. Dies ist ein neues Phänomen und die Industrie verlangt jetzt besser ausgebildete Arbeitskräfte. Infolgedessen wurde eine beträchtliche Anzahl von Arbeitnehmer*innen, insbesondere Frauen, entlassen. Vor einigen Jahren lag der Prozentsatz der weiblichen Beschäftigten in den Textilfabriken bei 80-85 Prozent, jetzt hat sich das Szenario geändert und der Anteil ist auf etwa 55-60 Prozent gesunken.
Wir brauchen eine Form der Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft. Wir müssen die neuen Herausforderungen wie das Sorgfaltspflichtgesetz, den Klimawandel und die Automatisierung in der Bekleidungsindustrie gemeinsam angehen.
Welche Art von internationaler Unterstützung könnte Ihrer Meinung nach die Arbeitsbedingungen der Textilarbeiter*innen verbessern?
MM: Da die Textilsindustrie in Bangladesch zu hundert Prozent exportorientiert ist, sind internationale Kollaborationen wichtig, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Die Kampagne für Saubere Kleidung (Clean Clothes Champaign - CCC) hat eine wichtige Rolle dabei gespielt, die amerikanischen und europäischen Käufer*Innen zu vereinen.
Die Konsument*innen und die internationale Gemeinschaft sollten die Fabrikbesitzer*innen mit den Löhnen der Arbeiter*innen, der Meinungsfreiheit, der Registrierung von oppositionellen Gewerkschaften, sauberen Waschräumen und Trinkwasser in den Fabriken konfrontieren. Sie sollten die Besitzer*innen der Textilfabriken nach Zwangsüberstunden bis Mitternacht, Folter und Schikanen, illegalen Entlassungen und fehlenden Entschädigungen fragen.
SG: Da ich mich vor allem mit der Frage der strafrechtlichen Verfolgung von Unternehmen beschäftige, setze ich mich für eine globale Allianz zur Beseitigung von Unternehmensverbrechen ein. Um die Arbeitsnormen in der globalen Wertschöpfungskette zu verbessern, müssen wir einen Mechanismus fordern, mit dem wir Gerechtigkeit herstellen können, sei es bei einem Todesfall oder bei der alltäglichen wirtschaftlichen und sozialen Ausbeutung. Wir müssen uns weiterhin für ein internationales Tribunal einsetzen.
AA: Ein nützliches Instrument sind Gesetze zur Sorgfaltspflicht, die internationalen Unternehmen vorschreiben, die Einhaltung von Menschenrechtsstandards entlang der gesamten Lieferkette zu gewährleisten. Ich glaube, ein solches Gesetz ist in Deutschland bereits in Kraft getreten und die Europäische Union ist dabei es zu erarbeiten.
Jedoch hat keines der europäischen Länder Gespräche mit uns aufgenommen, um unsere Anliegen und Bedürfnisse aus dem Globalen Süden zu berücksichtigen. Das Gesetz sieht vor, dass es nicht nur für Arbeitnehmer*innen im Heimatland gilt, sondern für die gesamte Lieferkette, einschließlich in Bangladesch. Die Einführung eines solchen Gesetzes innerhalb eines eizigen Landes ist nicht schwer umzusetzen, aber die gesamte Lieferkette abzudecken, stellt eine große Herausforderung dar. Von Seiten der lokalen Gewerkschaften sind wir natürlich gerne bereit, uns an der Umsetzung und Überwachung zu beteiligen.
Daher fordere ich die EU und andere Länder auf, diese Fragen mit den Gewerkschaften in den Produktionsländern zu diskutieren. Auch die internationale Gemeinschaft sollte ihre Stimme erheben und Druck auf die bangladeschische Regierung ausüben, damit dieses Gesetz auch das unsere wird. In diesen Punkten brauchen wir eine Form der Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft. Wir müssen die neuen Herausforderungen wie das Sorgfaltspflichtgesetz, den Klimawandel und die Automatisierung in der Bekleidungsindustrie gemeinsam angehen.