Nachricht | Geschichte Gewalt, Konfessionalismus und Proteste im Irak 20 Jahre nach der US-Invasion

Ein differenzierter Blick auf die Entwicklungen nach 2003

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Autorin

Miriam Younes,

Wandgemälde auf dem Tahrirplatz in Bagdad mit dem Wunsch nach einer neuen Zukunft für den Irak, Dezember 2019. © Photo: Miriam Younes

Im Frühling 2003 war ich in Beirut. Die drohende US-amerikanische Irakinvasion schien unausweichlich und hatte weltweit zu massiven Protestbewegungen geführt. Auch in Beirut wurde protestiert: ich erinnere mich an eine Studierendendemonstration vor der US-amerikanischen Botschaft in Antelias. Die Sicherheitskräfte der Botschaft und die libanesische Armee empfingen uns mit Tränengas und Schlagstöcken und wir hielten Orangenhälften vor unsere Münder und Nasen, um die Wirkung des Gases zu reduzieren. Einen Monat später, am 20. März 2003 bombardierten die USA und ihre Verbündeten die irakische Hauptstadt Bagdad und fielen gleichzeitig mit Bodentruppen im Süden und Westen des Landes ein. Am 7. April rückten die US-amerikanischen Bodentruppen dann schließlich in der Hauptstadt Bagdad ein. Am 1. Mai 2003 hielt der damalige US-Präsident George W. Bush seine berühmt-berüchtigte «Mission Accomplishment»-Rede im Fernsehen, «die Vereinigten Staaten und seine Verbündeten haben gesiegt, (...) der Tyrann ist gefallen und der Irak ist frei.»[1]

Obwohl die Antikriegs- und Antiinvasionsbewegung von 2003 nicht die Invasion und Besetzung des Iraks aufhalten konnte, gehört sie dennoch bis heute zu den eindrücklichsten Momenten der globalen Friedensbewegung und war für mich einer der prägendsten politischen Erlebnisse der damaligen Zeit. Nichts schien klarer, als dass wir gegen den illegalen Angriffskrieg der USA im Irak standen, gegen den erzwungenen Regimewechsel und die offensichtlichen Lügen über Massenvernichtungswaffen, Demokratieimport und Ende der Diktatur.

Miriam Younes ist Wissenschaftlerin und Schriftstellerin mit einem Schwerpunkt auf Geschichte, Politik und Gesellschaft des Libanon, des Iraks und Syriens. Sie lebt in Beirut und arbeitet für das Centre for Social Sciences Research and Actionsowie «Revolve Media».

Im Dezember 2019, 16 Jahre nach diesem prägenden Antikriegsmoment und der trotzdem erfolgten Invasion und dem Regimewechsel im Irak, war ich beruflich in Bagdad. Es war die Zeit der «Oktoberbewegung», der letzten und bisher größten Protestbewegung im Irak seit der Invasion 2003. Ich verbrachte viel Zeit in den Protestcamps in Bagdad auf dem Tahrir-Platz, in Najaf und Karbala und ließ mich begeistern von der Masse an jungen Menschen, die für Monate ihr Leben auf die öffentlichen Plätze verlegten und organisierten, um für politischen Wandel in ihrem Land zu kämpfen. Als ich im Dezember 2019 gerade noch die Anreihung von Waschmaschinen auf dem Tahrirplatz bewunderte, die aufgestellt worden waren, damit die Protestierenden ihre Wäsche waschen konnten, lud mich ein junger Mann ein, in ihr Zelt zu kommen, sie würden die neue Verfassung des Iraks diskutieren. Es waren Szenen wie diese, die für mich das überwältigende Amalgam aus Organisation, Neubeginn und politischer Ernsthaftigkeit verkörperte, das die Protestbewegung von 2019 ausmachte. Die Protestierenden positionierenden sich radikal gegen alles, was das irakische politische System seit 2003 in ihren Augen präsentierte: Gegen Korruption, Klientelismus und Konfessionalismus, gegen islamisch-reaktionäre Normen und religiösen Radikalismus, gegen Neoliberalismus, Privatisierung, und Austeritätspolitik. Ebenso protestierten sie gegen den politischen und wirtschaftlichen Ausverkauf an ausländische Mächte, besonders die USA und der Iran. Weiterhin wurden fehlende staatliche Dienstleistungen, mangelnde Unterstützung durch den Staat, politische Gewalt und Willkür von staatlicher und nicht-staatlicher Seite angeprangert. Die Protestierenden standen – und stehen häufig auch weiterhin – für eine Neuerfindung des irakischen Staates, der irakischen Politik und der irakischen Gesellschaft, kurz für einen wirklichen politischen und gesellschaftlichen Umsturz im Irak.

Politische Naivität und die Enttäuschung

Beide Momente, die Demonstration im Frühling 2003 sowie die Proteste im Winter 2019 waren für mich sowohl Momente politischer Prägung als auch politischer Naivität. Bei beiden Ereignissen war die Gegenwart so überwältigend und dominant, dass weitere Kontexte, Ambivalenzen und mögliche Schattenseiten in ihr wenig Platz fanden. 2003 war der Antikriegsmoment so überwältigend, dass die Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt viele Iraker*innen innerhalb und außerhalb des Iraks eine Invasion und ein Ende des Regimes Saddam Husseins befürworteten bzw. erwarteten, von den meisten Friedensaktivist*innen ignoriert wurden. 2019, dagegen, war die Hoffnung auf einen friedlichen und demokratischen Umsturz im Irak so groß, dass die Omnipräsenz von Gewalt (vor allem von Seiten der staatlichen Sicherheitskräfte und der Milizen) und die vielen Ambivalenzen, Uneinigkeiten und Ungereimtheiten innerhalb der irakischen Protestbewegung und der politischen Opposition(en) im Irak von vielen sympathisierenden Beobachter*innen übersehen wurde.

Dementsprechend führten beide Momente auch zur Enttäuschung: Nach 2003, als viele Iraker*innen, inklusive Akteure wie die Kommunistische Partei, die sich anfangs gegen die Invasion gestellt hatte, begannen, mit den US-Amerikanern zusammen zu arbeiten. Und spätestens 2006, als das Land erneut in Gewalt und Chaos versank und deutlich wurde, dass die politische Realität nichtalleine durch die Linse der US-amerikanischen Invasion betrachtet werden kann. Nach 2019 dann erneut, als sich die Protestbewegung angesichts von Gewalt, internen Differenzen und Perspektivlosigkeit schließlich auflöste. Etwa 800 Menschen wurden während der Proteste getötet, Tausende verletzt, bedroht und entführt. Viele Menschen mussten angesichts des politischen Drucks von Seiten der Milizen und Staat n letztendlich den Irak verlassen und ins Exil zu gehen.

Trotz dieser politischen Naivität, die in beiden Momenten meinen Blick für eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Geschehnissen getrübt hatte, und der unausweichlichen folgenden Enttäuschung, sind beide Ereignisse doch von entscheidender Bedeutung für die politische Geschichte und Gegenwart des Iraks.

Die Folgen der Invasion von 2003

Die Invasion des Iraks von 2003 brachte nicht nur das Ende des baathistischen Regimes Saddam Husseins mit sich, sie bedeutete auch das Ende des irakischen Staates und seiner Institutionen in seiner bisherigen Form. Stattdessen wurde ein neuer irakischer Staat aufgebaut, überwiegend basierend auf konfessionellen, ethnischen und Stammes-Identitäten und Zugehörigkeiten. Es kam zur Entstehung und Ausbreitung neuer Parteien und damit eingehend neuer Milizen (die mehrheitlich bereits seit Jahrzehnten im Ausland aktiv gewesen waren und häufig bis heute vom Iran unterstützt werden). Wenige Monate nach der Invasion bildeten sich die ersten militanten Widerstandsgruppen gegen die amerikanischen Besatzer, es kam zunehmend zur Ausbreitung konfessioneller Gewalt von sunnitischem wie schiitischem Islamismus. Im gegenwärtigen Irak sind nicht nur Milizen allgegenwärtig und Teil der alltäglichen Gewalt, sie sind auch eng mit dem politischen System verwoben und häufig ein verlängerter Arm dieses Staates und seiner politischen und ökonomischen Eliten. Der Irak nach 2003 ist zudem ein Staat, in dessen wirtschaftliche und politische Angelegenheiten sich wiederholt regionale und internationale Akteure wie die USA, Iran, und die Türkei massiv einmischen, externe Mächte, die miteinander konkurrieren, interne politische Akteure, Parteien und Milizen im Irak kooptieren, unterstützen und für ihre wirtschaftlichen und politischen Zwecke nutzen.

Außerhalb des Iraks war die Irakinvasion insofern von Bedeutung, als dass sie bis heute ein Paradebeispiel dafür ist, warum und wie Regimewechsel und militärische Einmischung von außen nicht geschehen soll. Die andauernde Omnipräsenz von Gewalt, Instabilität und Chaos im Irak seit 2003, die offensichtlich falsche Einschätzung der politischen und gesellschaftlichen Realität des Iraks von Seiten der US-Administration, die fehlende Aufklärung von und Rechenschaft für Kriegsverbrechen auf US-amerikanischer Seite, sie prägen bis heute Diskussionen über mögliche andere Invasionen und Interventionen gerade in der MENA-Region, wie wir sie zum Beispiele im Falle Syriens im Jahre 2012 miterlebt haben.

Ein differenzierter Blick in die Geschichte des Iraks

Trotz dieser weitreichenden Folgen und Nachwirkungen der Irakinvasion innerhalb und außerhalb des Iraks: betrachten wir Politik und Gesellschaft des Iraks heute vor allem als Folge der Invasion von 2003, begehen wir den gleichen Fehler, den die Friedensbewegung und die US-Administration im Jahre 2003 begangen haben: Jegliche politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Irak vor 2003 zu ignorieren und die Invasion als eine so radikale Zäsur zu betrachten, die alles Vorhergeschehene ungeschehen machte. Und vor allem begehen wir auch dann wieder den Fehler, den Iraker*innen innerhalb des Landes keine eigene Stimme zu geben, wie sie die Zeit vor und nach der Invasion bis heute erlebt und wahrgenommen haben.

Die heutige politische Realität des Iraks ist demnach auch die Nachwirkungen der modernen Geschichte des Iraks vor und nach 2003 in all ihrer Komplexität und Ambivalenz. Der Irak vor 2003 war ein Land, beherrscht von einem Diktator und seinem Regime, das der irakischen Bevölkerung jegliche politischen Rechte und Freiheiten vorenthielt, in dem brutale Gewalt und Willkür allgegenwärtig waren und in dem nur ein kleiner Teil der Bevölkerung seine individuellen Rechte und Freiheiten ausleben konnte. Ein Land, dessen Opposition vor allem im Ausland existierte und von dort den Moment des Regimesturzes abwartete und vorbereitete. Der Irak vor 2003 ist aber auch ein Land, in dem diverse säkulare, linke und nationalistische Ideologien wie Kommunismus, Baathismus und arabischer Nationalismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts miteinander koexistierten, so lange, bis das Regime Saddam Husseins und Ahmad Hassan al-Bakrs ab 1968 jeglichen politischen Pluralismus unmöglich machte. Seit 1979 war dann mit der Abdankung al-Bakrs der letzte Schritt Saddam Husseins vollzogen, den Irak in eine Ein-Mannes-Diktatur zu verwandeln. Der Irak vor 2003 war trotz dieser säkularen Strömungen auch ein Land konfessioneller Vielfalt, ein wichtiges Zentrum 12er-schiitischer Gelehrsamkeit seit dem 16. Jahrhundert sowie lange Zeit ein Mittelpunkt jüdischen Lebens im Nahen Osten vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Viele dieser Aspekte der irakischen Geschichte gehen in der heutigen Wahrnehmung und Einschätzung der irakischen Gegenwart unter, zu sehr wird der Fokus auf Gewalt, Konfessionalismus, Radikalismus und externe Einflüsse gelegt, die im gegenwärtigen Irak leider immer noch dominieren. Dennoch ist es vor allem die Protestbewegung von Ende 2019 und 2020, die dieses fatalistische Bild der Iraks nach 2003 wenigstens teilweise in Frage stellt. Die Proteste erfassten nicht nur weite Teile des Landes, große Teile der Bevölkerung harrten auch für Monate auf der Straße und auf den Plätzen aus, um für einen Umsturz des politischen Systems und der politischen Elite im Irak zu protestieren – aller Gewalt und allen Widrigkeiten zum Trotz. Die irakische Protestbewegung von 2019/2020 ist zudem auch eine überwiegend demokratische, anti-konfessionelle und gewaltfreie Bewegung, die trotz aller Widerstände und Herausforderungen weiterhin im Irak existiert, wenn auch momentan weitgehend marginalisiert, unterdrückt und schweigend.

Die Protestbewegung und die Zukunft des Iraks

In vieler Hinsicht kann und muss man die Protestbewegung als eine Reaktion auf die Folgen der Invasion von 2003 betrachten, der Aufschrei einer Generation, die 2003 noch Kinder oder Jugendliche war, eine Generation, die in den folgenden zwei Jahrzehnten keine Stimme erhalten hatte, die ihr gesellschaftliches, politisches und wirtschaftliches Kapital und Potential nie ausleben konnte, und die Zeugen und Opfer von wiederholter Gewalt und Unterdrückung im Namen von Staaten, Parteien und Konfessionen wurde. Sie ist der Gestalter und das Produkt einer oppositionellen Kultur und eines oppositionellen Diskurses, die sich im Irak in den letzten zwei Jahrzehnten entwickelt haben und die sich hauptsächlich gegen das politische Regime, die Dominanz der Milizen und die politische und wirtschaftliche Einmischung des Iran stellen. Gleichzeitig ist die Protestbewegung auch ein Produkt der Geschichte des Iraks vor 2003, sie zeigt das politische Erwachen einer Generation, die durch ihre Familien und Netzwerke, durch ältere Generationen und ihren eigenen Werdegang sowohl die säkulare, linke und religiös tolerante Geschichte des Iraks als auch die Gewalt und Unterdrückung des Regimes Saddam Husseins erlebt und verarbeitet haben. Der Ruf nach politischer und individueller Freiheit, nach Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Frieden ist das Produkt dieser verschiedenen historischen Erfahrungen dieser und früherer Generationen. Den Werdegang und die Forderungen, Wünsche, und Perspektiven dieser «Protestgeneration» zu verstehen und in Diskussionen über den Irak im Jahre 2023 hervorzuheben, ist zentral für jegliche linke Auseinandersetzung mit dem Irak. Hierfür ist es nötig, sowohl politische Naivität, als auch den regionalen oder globalen Helikopterblick abzulegen und stattdessen die 20 Jahre von 2003 bis 2023 zu entzerren – mit einem Blick in die moderne Geschichte des Iraks vor 2003 und einem vorsichtig optimistischen Blick in die Zukunft des Landes, die im Ansatz bereits heute von der Protestgeneration von 2019 mitgestaltet wird.