Nachricht | Geschichte 100 Jahre Erste Marxistische Arbeitswoche

Eine Erinnerung – und ein Appell für heute?

Information

Gruppenphotographie Marxistische Arbeitswoche Geraberg 1923. Sitzend von links nach rechts: Karl August Wittfogel, Rose Wittfogel (1889–), unbekannt, Christiane Sorge, Karl Korsch, Hedda Korsch, Käthe Weil, Margarete Lissauer (1876–1932), Béla Fogarasi. Stehend von links nach rechts: Hede Massing, Friedrich Pollock, Eduard Ludwig Alexander, Konstantin_Zetkin, Georg Lukács, Julian Gumperz, Richard Sorge, Karl Alexander (Kind), Felix Weil, unbekannt.
Gruppenphotographie Marxistische Arbeitswoche Geraberg 1923. Sitzend von links nach rechts sind abgebildet: Karl August Wittfogel, Rose Wittfogel (1889–), unbekannt, Christiane Sorge, Karl Korsch, Hedda Korsch, Käthe Weil, Margarete Lissauer (1876–1932), Béla Fogarasi. Stehend von links nach rechts Hede Massing, Friedrich Pollock, Eduard Ludwig Alexander, Konstantin_Zetkin, Georg Lukács, Julian Gumperz, Richard Sorge, Karl Alexander (Kind), Felix Weil, unbekannt. CC BY-NC-SA 3.0, Autor unbekannt, Quelle: www.marxists.org/subject/frankfurt-school/group-photo.jpg, via Wikimedie Commons

1923 war politisch wie gesellschaftlich ein Katastrophenjahr (neben Hyperinflation samt breiter Verarmung der Bevölkerung, sind unter anderem die Ruhrkrise und der Putschversuchvon Adolf Hitler zu nennen), aber eben nicht nur. Es war auch ein Jahr des Neubeginns und Aufbruchs in der Linken.

Georg Lukács (1885-1971) und Karl Korsch (1886-1961) legten in diesem Jahr mit Geschichte und Klassenbewusstsein und Marxismus und Philosophie wegweisende marxistische Arbeiten vor, die als wesentliche Referenzwerke des Westlichen Marxismus1 gelten; Werke, die erneuernde Impulse aussandten und bis heute faszinieren und anregen. Zugleich nahm aber die strukturelle Trennung zwischen marxistischer Theorie einer- und der organisierten Arbeiterbewegung andererseits zu. Korsch und Lukacs nahmen auch an der am 20. Mai 1923 beginnenden, achttägigen Ersten Marxistischen Arbeitswoche (EMA) teil, und übernahmen dort den Programmpunkt Zur Methodenfrage. Dieses erste Theorieseminar des am 23. Februar 1923 gegründeten Instituts für Sozialforschung(IfS)2 fand im Bahnhofshotel von Friedrich Henne, einem Kommunisten, im heutigen Geraberg in Thüringen, statt. Die weiteren Themenblöcke waren Über die Behandlungsarten des gegenwärtigen Krisenproblems und Organisatorische Fragen der marxistischen Forschung. Angesichts der damaligen Entwicklungen in der gesamten Linken – Niederlage der Rätebewegung, der Reformismus der Sozialdemokratie, das sich abzeichnende Scheitern des Avantgardekonzepts Lenins und einiges mehr, waren dies die wichtigsten Fragen, die für die radikaleren Linken in der Luft lagen.

Von den 21 Teilnehmer_innen sind 19 namentlich bekannt, es gibt zwei Fotos, die das Ereignis dokumentieren. Es versammelte sich hier eine bunt gemischte Gruppe linker Intellektueller, keinesfalls nur Männer, die nur teilweise dem IfS verbunden waren und deren Bandbreite als Ausdruck der marxistischen Pluralität des IfS gelten kann. Dies waren neben den bereits erwähnten: Hedda Korsch, Richard Sorge, Christiane Sorge, Felix Weil, Käthe Weil, Karl August Wittfogel und dessen Frau Rose, Friedrich Pollock, Eduard Ludwig und Gertrud Alexander mit Kind, Konstantin Zetkin (Sohn von Clara Zetkin und zeitweiliger Gefährte Rosa Luxemburgs), Julian Gumperz, Hede Massing, Margarete Lissauer. der ungarische Philosoph Béla Fogarasi, Karl Schmückle sowie der japanische Marxist Fukumoto Kazuo. Der weitere Lebensweg der TeilnehmerInnen verlief äußerst disparat: einige wurden Antikommunisten, andere – insbesondere Friedrich Pollock3 – blieben dem IfS verbunden. Richard Sorge erlangte bspw. als Meisterspion Stalins Ruhm.4 Die Beteiligten hatten eines gemeinsam, sie waren mit dem politischen Erbe der Sozialdemokratie (und deren Verrat von 1914) nicht belastet.

Wer die Idee zur EMA hatte, ist nicht gänzlich geklärt: zentral waren Korsch und Felix Weil. Letzterer war ihr Finanzier und sorgte, als reicher, politisch linker Mäzen,5 auch für die finanzielle Ausstattung des IfS. Er war den Akteuren der ab 1931 entstehenden Kritischen Theorie bis zu seinem Tod 1975 eng verbunden.

Carl Grünberg statt Kurt Albert Gerlach

Bei der EMA ging es auch darum, den weiteren Fortgang der Entwicklung des Instituts zu diskutieren, denn im Oktober 1922 war überraschend Kurt Albert Gerlach(geboren 1886), der eigentlich vorgesehene Gründungsdirektor des IfS an den Folgen seiner Diabetes-Erkrankung verstorben. Die explizit linke Gründung war dabei ein Kind ihrer Zeit, die mehrere bürgerliche Neugründungen von ähnlichen Instituten erlebte, wie etwa im April 1919 das Kölner Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften. Ziel war die wissenschaftliche Beschäftigung mit Sozialismus, die EMA wie auch das IfS sind im damaligen politisch-gesellschaftlichen Ringen um die Bedeutung und Realisierung sowie systematische Erfassung von sozialistischen, marxistischen und kommunistischen Ideen zu verorten. Mit den Schriften von Lukács und Korsch konnte dabei auf ganz neue Marx-Interpretationen und selbstreflexive Analysen zurückgegriffen werden.

Gerlach war ein zentraler Akteur des politischen Kieler radikalen Milieus6 gewesen – promoviert 1911 bei Ferdinand Tönnies, hatte er sich zusehends immer weiter nach links radikalisiert. Von ihm und Weil stammt die Denkschrift, die die Gründung des IfS entscheidend voranbrachte. Wie die beiden zusammenfanden, ist nicht geklärt: womöglich ergab sich die Verbindung über Weils Vater, der das Kieler Institut für Weltwirtschaft in den 1910er Jahren unterstützt hatte und an dem es damals eine kleine Gruppe linker Intellektueller gab, da hier auch linke Themen wie Syndikalismus erforscht werden konnten.7 Tatsächlicher Gründungsdirektor des IfS wurde dann der Austromarxist Carl Grünberg, bevor dann Max Horkheimer 1931 die Führung übernahm und die Geschichte der Kritischen Theorie einläutete. Er veränderte die unter Grünberg eingeschlagene Richtung des Instituts in Richtung eines mehrdimensionalen, philosophisch-materialistisch begründeten Forschungsprogramms und gründete die Zeitschrift für Sozialforschung.

Relevant sind die erwähnten Jubiläen heute in mehrfacher Hinsicht: zum einen erweitern sie die Perspektive auf das, was sich zur Kritischen Theorie und Frankfurter Schule entwickeln wird – deren Vor- und Frühgeschichte ist weitaus komplexer als gedacht und dargestellt. Die eingeschlagenen, vielfach dokumentierten, kommentierten und interpretierten Wege waren längst nicht vorgezeichnet. Der Blick für die vielfältigen Auseinandersetzungen wird geschärft.8 Zum anderen verweisen sie auf heutige Notwendigkeiten: das kollektive Nachdenken, die kritisch-solidarische Diskussion und das Durchdringen des komplexen Ganzen unserer kapitalistisch-patriarchalen Gegenwart, auch auf Grundlage der Kritik der politischen Ökonomie, wie sie von Marx begründet wurde. Weder Krisen noch Entfremdung und Verdinglichung sind aus der Welt. Die politische Organisationsfrage steht angesichts des Zustandes der Linkspartei wieder auf der Tagesordnung, die marxistische Forschung ist, wie immer eigentlich, in einem prekären Zustand, gerade auch im akademischen Bereich – stabile Orte, tragende Akteure, feste Verbindungen, der beständige kollektive Austausch und Beziehungsweisen sind von Nöten. Die vielen Krisen, oder auch die Multiple Krise, spitzen sich zu. Linken Antworten, Analysen und Reaktionen zu erarbeiten und dann nachgeordnet politisch-gesellschaftlich umzusetzen wäre das Unternehmen – aber zuerst steht die analytische Durchdringung der Totalität an. Dies ist der Punkt, an dem die EMA ein Appell an unsere Gegenwart ist.

Von großer Bedeutung als wortwörtliche Grundlage sind in diesem Kontext die Forschungen zur Marx Engels Gesamtausgabe (MEGA) und den Marx Engels Werken (MEW).9 Insbesondere erstere bieten einen neuen Einblick in die tiefreichenden Einsichten von Karl Marx in Fragen etwa der Ökologie. In jüngerer Zeit ist ein lebendiger internationaler Austausch zu beobachten, der auch durch Übersetzungen ermöglich wird, und auch die ökosozialistische Debatte profitiert enorm.10

Am IfS unserer Gegenwart findet vom 26. bis 29. Mai die Zweite Marxistische Arbeitswoche statt11 – ein wichtiger Schritt zur richtigen Zeit, unter der Leitung von Stefan Lessenich, Direktor des IfS seit 2021, wird der Anschluss an die Hochphase des Instituts in den 1930er bis 1960er Jahre hoffentlich gelingen und ein solcher gemeinsamer Ort geschaffen. Das veröffentlichte, inhaltlich enorm breite Programm macht Hoffnung. Es wäre wünschenswert, bliebe es nicht bei bloß einem linken Event.

In Jena finden am 23. und 24. Mai eine Abendveranstaltung und mehrere Workshops statt.12 Koordinierende Funktion zu all den Aktivitäten rund um das Jubiläum der EMA bietet die Internetseite www.marxistische-arbeitswoche.de.

[Eine kürzere und veränderte Fassung erschien unter dem Titel «Zurück zur Theorie. Vor 100 Jahren trafen sich Linksintellektuelle in Thüringen und veränderten den Marxismus» in analyse und kritik, Ausgabe 693. In dieser Ausgabe ist auch der Text Der westliche #Marxismus wird 100 – er ist vor allem aus der Erfahrung der Konterrevolution entstanden(zu Karl Korsch und Georg Lukács) publiziert.]


1 Noch immer maßgeblich Perry Anderson: Über den westlichen Marxismus, jetzt in einer Neuauflagebei Karl Dietz, Berlin 2023 erschienen.

2 Das Gebäude des IfS wurde erst 1924 eingeweiht.

3 Besonders lesenswert: Philipp Lenhard: Friedrich Pollock. Die graue Eminenz der Frankfurter Schule. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.

4 Zum Leben der Personen und überhaupt zur EMA die bahnbrechenden Ausführungen von Michael Buckmiller: Die ‘Marxistische Arbeitswoche‘ 1923 und die Gründung des ‘Instituts für Sozialforschung‘, in: Gunzelin Schmid Noerr, Willem van Reijen (Hrsg.): Grand Hotel Abgrund. Eine Photobiographie der Kritischen Theorie, Junius Verlag, Hamburg 1988, S. 141–173. Weiteres Material, darunter auch zu den weiblichen Teilnehmerinnen, in: Michael Buckmiller (Hrsg.): Die Erneuerung des Marxismus. Karl Korsch 1886-1961: Ausstellung und Vorträge; Offizin Verlag, Hannover 2023 (Rezension: https://www.rosalux.de/news/id/50276/, 19.04.2023).

5 Zum Leben und Wirken Weils empfehlenswert: Hans-Peter Gruber: »Aus der Art geschlagen«. Eine politische Biografie von Felix Weil (1898–1975), Campus Verlag, Frankfurt am Main 2022 (Rezension: www.rosalux.de/news/id/47789/, 24.10.2022).

6 Grundlegend: Detlef Siegfried: Das radikale Milieu. Kieler Novemberrevolution, Sozialwissenschaft und Linksradikalismus 1917–1922. Deutscher Universitäts-Verlag, Wiesbaden 2004.

7 Siehe dazu: Alexander Wierzock, Sebastian Klauke: Das Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr als Wegbereiter einer Politikwissenschaft aus Kiel?, in: Wilhelm Knelangen / Tine Stein (Hrsg.): Kontinuität und Kontroverse. Die Geschichte der Politikwissenschaft an der Universität Kiel, Essen 2013, S. 293-323.

8 Vgl. die vorzügliche Arbeit: Christian Voller: In der Dämmerung. Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie, Matthes & Seitz, Berlin 2022.

9 Zur MEW siehe das Interview mit Ingo Stützle: Marx-Engels-Werke: Keine unschuldige Lektüre, 21.4.2023, (Zugriff 9.5.2023).

10 Vgl. Kohei Saito: Natur gegen Kapital : Marx' Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus, Campus Verlag, Frankfurt New York 2016 und derselbe: Marx in the Anthropocene : towards the idea of degrowth communism, Cambridge University Press, Cambridge u.a. 2022.

11 Unter dem Titel Unhaltbare Zustände, näheres siehe maw2023.ifs.uni-frankfurt.de/228.html.