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Gespräch über 75 Jahre israelische Unabhängigkeit und 75 Jahre palästinensische Nakba

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Palästinenser demonstrieren zum 72. Jahrestag der Nakba von 1948, an dem Israel nach der ethnischen Säuberung hunderter palästinensischer Städte gegründet wurde, im Dorf As-Sawiya, Westjordanland, 15. Mai 2020. Der Protest fand auf beschlagnahmtem Land neben der israelischen Siedlung Rehelim statt.
Protest auf beschlagnahmtem Land Demonstration zum Nakba-Tag, As Sawiya, Westjordanland, 15.5.2020, Foto: Ahmad Al-Bazz / Active Stills

In diesem Jahr jährt sich die Unabhängigkeit Israels zum 75. Mal. Gleichzeitig erinnern Palästinenser*innen an die Nakba (arabisch: Katastrophe), die Vertreibung und Flucht eines Großteils der palästinensischen Bevölkerung im Kontext der Staatsgründung Israels.

Katja Hermann, Leiterin des Westasien-Referates der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) sprach zu diesem Anlass mit Karin Gerster, Büroleiterin der RLS in Ramallah und Gil Shohat, Büroleiter der RLS in Tel Aviv.
 

Katja Hermann: Die Jahrestage fallen in eine Zeit zunehmender politischer Eskalation. In Israel regiert eine ultrarechte Regierung mit teilweise offen rassistischen und rechtsradikalen Ministern in Schlüsselressorts wie Finanz- und Sicherheitsministerium. In Windeseile werden Gesetze auf den Weg gebracht, die die demokratische Verfasstheit des Landes erodieren lassen und zudem drastische Auswirkungen für die Palästinenser*innen haben. Gil, wie schätzt du diese Entwicklungen ein?

Gil Shohat: Ich denke, dass wir hier in den ersten vier Monaten des Jahres 2023 innen- und außenpolitische Entwicklungen erlebt haben, die andere Länder in vier Jahren nicht erleben. Da ist es sehr schwer, den Überblick zu behalten. Die Regierung ist die rechteste Regierung, die Israel je gesehen. Sie hat mit atemberaubender Geschwindigkeit an die 140 Gesetzesinitiativen auf den Tisch gelegt. Das Ziel dieser Regierung ist nichts weniger als der endgültige Sieg über das noch vorhandene liberal-demokratische Fundament dieses Landes. Worauf diese Regierung gestoßen ist, ist eine unerwartete Protestbewegung aus einer politischen heterogenen Gruppe, die zu einer Massenbewegung geworden ist, die nicht nur die Verhinderung dieser «Reformvorhaben» vorsieht, sondern tatsächlich den Sturz dieser Regierung will. Es ist eine beeindruckende Protestbewegung, allen politischen Leerstellen zum Trotz, die sich dagegen zur Wehr setzt. Seit 17 Samstagen in Folge sind Hundertausende Menschen in Israel auf der Straße, es sind aufwühlende Zeiten.

Im letzten Monat gab es eine gewisse Beruhigung mit Blick auf die politischen Vorhaben wegen der Pause der Knesset. Nicht destotrotz hat dieser Feiertagsmonat, mit Pessach und den Gedenktagen, der traditionell die Einigkeit der jüdischen Israelis beschwören möchte, auch wiederum gezeigt, wie gespalten die jüdisch-israelische Gesellschaft ist, weil selbst an diesen Feiertagen, wo sich traditionell von links bis rechts nahezu alle um die gemeinsamen patriotischen und zionistischen Ideale stellen, große Spaltungen zwischen Regierungsvertreter*innen und Opposition zutage getreten sind, die eben zeigen, wie tief diese Krise ist.

Was genau sind die Forderungen der Protestbewegung und welche Rolle spielen linke Kräfte?  

Gil Shohat: Angefangen hat die Protestbewegung mit der zentralen Forderung der Bewahrung der Demokratie. Sie versteht sich als patriotische Demokratiebewegung, die sich vor allem zu den Werten der Unabhängigkeitserklärung bekennt. Sie hat sich in den letzten Monaten nicht nur zu einer bewahrenden Bewegung entwickelt, sondern tatsächlich zu einer Bewegung, die sagt, wir müssen, um solche Entwicklungen in Zukunft zu verhindern, eine Verfassungsbewegung entwickeln. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob allen klar ist, was das noch bedeuten könnte mit Blick auf Fragen der Menschenrechte und der Besatzung. Nichtdestrotz muss man feststellen, dass sich die Proteste in diese Richtung radikalisiert haben. Letztendlich geht es eben auch um die Bewahrung eines wie auch immer gearteten liberalen Konsenses, den die Mehrheit der Bevölkerung für sich reklamiert.

Es gibt keine Demokratie mit Besatzung

Welche Rolle dabei linke Kräfte spielen, ist eine sehr zentrale Frage für uns als Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie befinden sich in einem Dilemma. Die Protestbewegung, so beeindruckend sie von außen ist, ist eine sehr patriotische Bewegung und hat am Anfang wenig Platz gelassen für eine Kritik an der israelischen Besatzungspolitik und, wenn man das weiter fassen will, an den Leerstellen und diskriminierenden Elementen des Staates insgesamt. Aber linke Kräfte versuchen beharrlich innerhalb dieser Protestbewegung, vor allem in den Großstädten Tel Aviv und Haifa, auch in Jerusalem, darauf aufmerksam zu machen, dass jede Forderung nach einer Beibehaltung der Demokratie, nicht nachhaltig sein kann, wenn die Besatzung so weitergeht. Die zentralen Sprüche des Anti-Besatzungsblocks sind: «Es gibt keine Demokratie mit Besatzung» und «Es gibt keine Demokratie ohne Gleichheit». Der Begriff der Gleichheit ist jetzt immer öfter zu hören. Es kommen also Begriffe in den Diskurs, die lange Jahre fast nicht vorhanden waren. Ich war letzte Woche auch auf der Demo in Tel Aviv mit 180.000 Menschen und der Anti-Besatzungsblock hatte quasi eine Paralleldemo für sich selbst innerhalb der Menge organisiert, mit eigenen Redner*innen, wo man dran vorbei musste, wenn man weitergehen wollte. D.h. sie sind sichtbar, sie sind mehr nur am Rande, sie sind mittendrin im Demonstrationsgeschehen und sie werden von Woche zu Woche größer, was aus einer linken Perspektive erstmal ermutigend ist. Bemerkenswert ist zudem die Tatsache, dass immer mehr junge Leute dort zu finden sind und auch solche, die sagen, mein Beitrag dazu kann auch sein, ich gehe nicht zur Armee, ich verweigere den Dienst, weil ich nicht Teil dieser Besatzungspolitik sein möchte. Es verbinden sich Diskurse auf diesen Demonstrationen und wir als RLS sind ganz eng dabei, um diese Kräfte zu beobachten und mit ihnen zu sprechen.  

Wer trägt die Protestbewegung, wer kommt da zusammen?  

Gil Shohat: Ich würde sagen, dass alles, was nicht regierungspolitisch auf Linie ist, dort zusammenkommt. Man kann es nicht, obwohl es natürlich gegenteilige Behauptungen der Regierung gab, an einzelnen NGOs ausmachen. Es ist tatsächlich eine breite heterogene Bewegung, die aus Empörung über den Versuch dieser Regierung, die Axt an die verbliebenen demokratischen Elemente zu legen, auf die Straße geht. Das ist der Vorteil, aber auch der Nachteil, denn es gibt keine klare Führung. Es gibt immer mehr Leute, die sagen, na gut, ich gehe samstags demonstrieren, aber was ist eigentlich das Ziel dieser Demonstrationen, wenn von Rechtspolitikern wie Gideon Sa‘ar bis Dov Khenin und Ayman Odeh von der kommunistischen Partei Hadash alle da sind? Was kann der gemeinsame Bezugspunkt sein, außer «wir sind gegen die Regierung»? Dementsprechend ist zu beobachten, dass sich die Demonstrationen in Sub-Demonstrationen aufteilen. Man muss sie einfach als Volksbewegung begreifen, so heterogen sie auch ist. 

Die derzeitige Lage in den besetzten palästinensischen Gebieten wird verglichen mit der Situation zur Zeit der Zweiten Intifada in den Jahren 2000 bis 2005. Wie schätzt du die Lage ein, Karin?   

Karin Gerster: Der Vergleich kommt daher, dass der Alltag, jeder einzelne Tag für jede und jeden immer weniger planbar und die Macht und Willkürlichkeit einer Besatzungsmacht täglich spürbar ist. Z.B. was die Beweglichkeit in der Westbank angeht. Dies geht auf ihre Einteilung in den Osloer Verträgen zurück, die die Gebiete in sogenannte A-, B- und C-Gebiete aufteilen. Das israelische Militär kontrolliert die B- und C-Gebiete, die zusammen fast 80 Prozent der Westbank ausmachen. Praktisch gesprochen bedeutet das, dass wie damals in der Zweiten Intifada die Autofahrt wegen der Checkpoints von Ramallah nach Nablus sechs bis acht Stunden dauern kann. Normalerweise wird für die Strecke eineinhalb Stunden benötigt. Das israelische Militär ist fast täglich mit Militäreinsätzen in den Städten Nablus und Jenin. Soldaten oder Sondereinheiten kommen als Undercover-Missionen, getarnt als palästinensische Lieferanten, am helllichten Tage, sie zerstören Häuser, verhaften und schießen auf Menschen, weil sie angebliche Terrorist*innen sind oder weil sie schlichtweg zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort sind. Palästinensische Städte, Dörfer und Flüchtlingslager werden durch Checkpoints abgeriegelt, die Menschen werden buchstäblich festgesetzt, wie z.B. zuletzt in Jericho. Daher kommt in der Bevölkerung der Vergleich zur Zweiten Intifada zustande.

Juristisch fallen Palästinenser*innen unter Militärrecht, Siedler*innen dagegen unter israelisches Recht.

Zur Analyse der aktuellen Situation: Die Besatzung währt schon lange und eine Besatzung ist immer aggressiv. Die Schnelligkeit, mit der die neue rechtsextreme Regierung in den besetzen palästinensischen Gebieten Häuserzerstörungen und Vertreibungen umsetzt, ist im Vergleich zu den vorherigen Regierungen, die das ebenso praktizierten, offensichtlicher und brutaler. Wenn wir uns den Siedlungsbau anschauen, der 1993 offiziell in den Osloer Verträgen gestoppt wurde – und der nach internationalem Recht illegal ist, jedoch nicht nach israelischem – so wurden viele Outposts (d.h. Siedlungen, die auch nach bisherigem israelischem Recht illegal sind) gebaut, die jetzt zum Großteil legalisiert werden. Es gibt Straßen für Siedler*innen, die von Palästinenser*innen nicht benutzt werden dürfen. Juristisch fallen Palästinenser*innen unter Militärrecht, Siedler*innen dagegen unter israelisches Recht. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch, Betselem und andere beschreiben diese Situation als einen Zustand der Apartheid.

Finanzminister Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir, Minister für nationale Sicherheit, kommen beide aus der militanten Siedler*innenbewegung und wohnen auch selbst in Siedlungen. Durch ihre Positionen in der Regierung und ihrer Macht sind sie in der Lage, die Besatzungsmacht auszubauen und illegale Siedler*innen zu schützen. Die neue Regierung formuliert sehr direkt, dass für sie ein palästinensischer Staat keine Option ist, dass Palästinenser*innen kein Recht auf das Land haben, weil es der jüdischen Bevölkerung gehört. Deshalb wird in der Westbank, im israelischen Sprachgebrauch Judäa und Samaria, der Siedlungsbau für Israelis ausgebaut. Parallel geht damit einher, dass das Gesetz zum Erhalt für Schusswaffen für Israelis mit der Begründung erleichtert wurde, Siedler*innen müssten sich jederzeit standhaft zur Wehr setzen können, wenn sie von Palästinenser*innen bedroht werden. Diese neue Entwicklung führt dazu, dass die Siedler*innengewalt drastisch zugenommen hat, bewaffnete Siedler*innen, zumeist in Gruppen, greifen Palästinenser*innen, ihre Häuser, Autos, Felder und Tiere an.   

Mit Smotrich und Ben-Gvir in der Regierung wissen sie, dass sie für ihre Gewalttaten quasi einen Freifahrtschein erhalten haben, dass diese geduldet werden und aufgrund des hohen Siedler*innenanteils im Militär, auch von diesem geschützt werden. Ich könnte noch weitere Beispiele der gegenwärtigen Gewalt geben, aber ich denke, dass reicht für einen Eindruck.

Welche weiteren Folgen für Palästinenser*innen sind mit Blick auf die israelische Regierungspolitik zu erwarten?

Karin Gerster: Ein wesentliches Element der Koalitionsvereinbarungen zwischen Likud und der Partei des Religiösen Zionismus ist das Bekenntnis zum alleinigen und unveräußerlichen Recht des jüdischen Volkes auf alle Gebiete des Landes Israel. Das heißt ein explizites Selbstbestimmungsrecht der jüdischen Bevölkerung, was das Nationalstaatengesetz aus dem Jahr 2018 erweitert. Es besteht definitiv die Absicht, dieses Recht auch auf das besetzte Westjordanland anzuwenden, was einer Annexion gleichkäme. Die Zuständigkeit für die besetzten Gebiete wurde vom Verteidigungsminister auf Smotrich übertragen, er übernimmt sozusagen die Funktion des Militärbefehlshabers, er ist der Koordinator der Regierungsaktivitäten in den besetzten Gebieten. Damit erhält Smotrich die volle Kontrolle über die zivilen Angelegenheiten im Westjordanland – und nicht mehr der Militärgouverneur. Damit kann oder könnte er die Annexion durchsetzen.

Wie blicken Palästinenser*innen auf die regierungskritischen Proteste und insbesondere auf den sogenannten Anti-Besatzungsblock in Israel?

Karin Gerster: Hier herrscht Zurückhaltung. Zum einen fühlen sich die Palästinenser*innen nicht angesprochen, weil die Annexion von Ost-Jerusalem und die Besatzung von Westbank und Gazastreifen nach wie vor anhalten und sie auch keinen Zugang zu den Protesten haben. Ich bin zunächst davon ausgegangen, dass der Anti-Besatzungsblock um die fünf Prozent der Protestbewegung ausmacht, aber Freund*innen haben mich dann desillusioniert, sie sprechen von einem Prozent. Selbst wenn Palästinenser*innen aus der Westbank und aus dem Gazastreifen teilnehmen wollten, wäre das ja gar nicht möglich, weil sie keine Permits, keine Erlaubnis haben, nach Israel zu fahren.  

Es ist zu 99 Prozent eine jüdisch-israelische Protestbewegung

Gil Shohat: Ich finde die Frage auch interessant im Hinblick auf die palästinensischen Israelis. Es gibt auch innerhalb der palästinensischen Bevölkerung Israels große Skepsis gegenüber der Protestbewegung, die Aktivistin und Feministin Samah Salaime hat in einem Text auf unserer Webseite die drei wesentlichen Sichtweisen dargestellt. Man muss es ganz klar sagen, es ist zu 99 Prozent eine jüdisch-israelische Protestbewegung und auch die Anti-Besatzungsbewegung ist zum Großteil jüdisch-israelisch getragen. Es gibt zwar eine palästinensisch-israelische Beteiligung aus dem Parteienspektrum von Hadash oder von NGOs wie Standing Together, aber die Debatten darüber sind sehr intensiv in der palästinensischen Bevölkerung Israels.

Der palästinensische Philosoph Bashir Bashir hat kürzlich in einem Interview gesagt, dass Palästinenser*innen den Jahrestag nicht brauchen, um an die Nakba erinnert zu werden, da sie Erinnerung und lebendige Gegenwart sei. Was bedeutet das aus deiner Sicht?

Karin Gerster: Erinnern bezieht sich auf das, was bereits geschehen ist. Ich würde Bashir Bashir deshalb zustimmen, eine Besatzungsmacht, jegliche Besatzungsmacht auf der Welt, übt Gewalt aus. Israel macht das in Ost-Jerusalem, in der Westbank und im Gazastreifen. Wie schon erwähnt, regeln bzw. «verregeln» israelische Gesetze den Alltag von Palästinenser*innen. Die Grenzen und der Luftraum werden von Israel kontrolliert, der Siedlungsbau hat seit dem Oslo-Abkommen drastisch zugenommen. Die Zahl der illegalen Siedler*innen ist von ca. 250.000 auf 800.000 angestiegen, der Alltag ist geprägt von Gewalt. Das ist die Realität der Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten. Auch palästinensische Israelis, also ca. 20 Prozent der in Israel lebenden Bevölkerung, erfahren auf unterschiedlichen Ebenen tägliche Diskriminierungen. Die Diskriminierung der Palästinenser*innen in der Diaspora ist ein weiterer Aspekt: So wird ihnen weiterhin das von den Vereinten Nationen zugesicherte Rückkehrrecht verweigert. Das sind beschriebene Momentaufnahmen der alltäglichen Nakba, die Palästinenser*innen, wo auch immer sie leben, auf unterschiedliche Weise und auf unterschiedlichen Ebenen täglich erfahren.

Wie haben die politischen Entwicklungen den diesjährigen Jahrestag der Unabhängigkeit Israels, der am 26. April stattgefunden hat, beeinflusst?

Gil Shohat: Der Unabhängigkeitstag und auch die anderen Feiertage, wie der Tag der Erinnerung, sind immer sehr einend, das war diesmal, vielleicht zum ersten Mal, nicht so. Es gab viele Menschen, die sich selbst als stolze Zionist*innen bezeichnen, die keinen Grund zum Feiern sahen aufgrund der aktuellen Lage. Der Tag wurde auch für Proteste gegen die aktuelle Regierungspolitik genutzt. Versuche von allen Seiten, vom Staatspräsidenten über den Regierungschef hin zu Vertreter*innen anderer wichtiger Organe, die gesagt haben, diese Feiertage müssten einend sein, sind nicht gefruchtet, sondern die Debatten sind umso stärker zu Tage getreten. Zum Beispiel auch auf Militärfriedhöfen, wo jährlich den gefallenen Soldat*innen gedacht wird, kam es zu Demonstrationen gegen die Reden von Ministern wie zum Beispiel Ben-Gvir, die darauf bestanden, an diesen Tagen dort zu sprechen, obwohl Familien der Gefallenen das nicht wollten. Die Feiertage, die normalerweise ein einendes Moment haben, waren diesmal ein eindrückliches Zeichen der Gespaltenheit und der sehr politisierten Lage hier.

Du hast die Gespaltenheit des Landes angesprochen. Welche Rolle spielen kollektive Erinnerungen wie die Jahrestage von Unabhängigkeit und Nakba angesichts der «Gespaltenheit» des Landes und der Gesellschaft in eine jüdisch-israelische Mehrheit und eine palästinensisch-israelische Minderheit?

Gil Shohat: Die jüdisch-israelische Bevölkerung handelt gerade unter sich aus, was ihre Haltung zur Unabhängigkeit und zur Unabhängigkeitserklärung ist. Welche Weiterentwicklung möchte die Demokratiebewegung als Widerstandsbewegung gegen den Versuch sehen, die letzten demokratischen Standards abzubauen? Das ist die eine Ebene, die äußert sich in der ganzen Dynamik der innerisraelischen Spaltung. Die andere, das sind die 20 Prozent palästinensische Israelis, die zum Beispiel am Tag der Unabhängigkeit jedes Jahr einen Marsch der Rückkehr machen. Zehntausende Menschen, vor allem palästinensische Israelis, aber auch einige jüdische Israelis, die sich dem Marsch anschließen, gehen zu den im Jahr 1948, also während der Nakba, zerstörten und evakuierten Dörfer, und feiern dort ihre eigene nationale Identität. Das war tatsächlich dieses Jahr sehr groß für israelische Verhältnisse, aber, und das ist das Problem, darüber wird in den Medien nicht berichtet. Dementsprechend kriegen das viele Leute gar nicht mit und das verstärkt natürlich diese Blasenbildung.

Es geht um Verantwortungsübernahme, es muss immer wieder betrachtet werden, dass Unabhängigkeit für die israelische Seite, Nakba für die palästinensische Seite bedeutet.

Es gibt Versuche, die Menschen zusammen zu bringen, für Werte wie Gleichheit, soziale Gerechtigkeit, nationale Gerechtigkeit. In unserem Büro versuchen wir das bei allen Schwierigkeiten vorzuleben, aber man muss ganz klar sagen, dass sich vieles parallel abspielt und dass der Versuch der israelischen Regierung, diese Spaltung voranzutreiben, weitergeht. Aber es gibt Versuche von Organisationen wie Zochrot, aber auch anderen, das Bewusstsein in der jüdischen Bevölkerung für die Verantwortung für die Nakba zu schärfen. Es geht um Verantwortungsübernahme, es muss immer wieder betrachtet werden, dass Unabhängigkeit für die israelische Seite, Nakba für die palästinensische Seite bedeutet.   

Die Erinnerung an die Nakba scheint angesichts der geografischen und politischen Fragmentierung der Palästinenser*innen ein wichtiges verbindendes Element für Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten, in Israel und in der Diaspora zu sein. Wie siehst du das, Karin?

Karin Gerster: Mein persönlicher Eindruck ist, dass es durch den brutalen Besatzungsalltag hier in den besetzten Gebieten gewisse Ermüdungserscheinungen gibt, was einen solchen Jahrestag angeht. Der Jahrestag macht schmerzlich bewusst, was alltägliche Nakba bedeutet – und das verbindet Palästinenser*innen über Grenzen hinweg.