Nachricht | Partizipation / Bürgerrechte - Migration / Flucht - Europa - Einbürgerung Vom Recht auf Asyl zur Entrechtung an den EU-Außengrenzen

Clara Bünger über das «Gemeinsame Europäische Asylsystem» (GEAS)

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Clara Bünger,

Clara Bünger bei der Plenarsitzung des Deutschen Bundestages in Berlin am 28.9.2022
«Die Vorschläge für das neue Gemeinsame Europäische Asylsystem höhlen Grundrechte und das individuelle Recht auf Asyl weiter aus.» Clara Bünger bei der Plenarsitzung des Deutschen Bundestages in Berlin am 28.9.2022, Foto: picture alliance / REUTERS | Michele Tantussi

Seit 1990 versucht die Europäische Union ein gemeinsames europäisches Asylsystem (GEAS) zu etablieren. Ziel soll sein, die europäischen Außengrenzen zu schützen, klare Zuständigkeiten für Asylverfahren zu schaffen und einheitliche Verfahren in der ganzen EU zu etablieren. Heute, 33 Jahre später, wird noch immer verhandelt. Denn die erlassenen Richtlinien und Verordnungen werden nur bedingt von den Mitgliedstaaten umgesetzt. Dadurch unterscheiden sich die Asylsysteme weiterhin deutlich voneinander. Nur der Schutz der Grenzen konnte vorangetrieben werden, auf Kosten der Menschen, die in Europa Schutz suchen, wie sich beispielhaft an der Situation auf den griechischen Inseln zeigen lässt.

Bereits 2015 wurden die EU-Hotspots als Teil der «Europäischen Migrationsagenda» als «Notfallmechanismus» in Italien und Griechenland etabliert, um eine schnelle Umverteilung der Geflüchteten zu ermöglichen. Von schnellen Verfahren und dem ursprünglich kommunizierten Verteilungsgedanken innerhalb der EU wurde allerdings sehr schnell Abstand genommen. Hierzu hat auch der am 18. März 2016 bekannt gemachte EU-Türkei Deal maßgeblich beigetragen, laut dem alle Personen, die nach dem 20. März 2016 irregulär von der Türkei nach Griechenland einreisen, dorthin zurückgeschoben werden sollen. Um dies umzusetzen, wurde ein Grenzschnellverfahren etabliert, in welchem im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung die Türkei faktisch als «sicherer Drittstaat» etabliert wurde. Während des Verfahrens ist es den Schutzsuchenden grundsätzlich verboten, die Inseln zu verlassen – was vorhersehbar zu einer Überfüllung der Lager sowie elenden und unmenschlichen Bedingungen geführt hat.

Clara Bünger ist seit 2022 Mitglied des Deutschen Bundestages. Die Volljuristin ist Sprecherin der Fraktion DIE LINKE für die Flucht- und Rechtspolitik.

Parallel dazu bemühten sich diverse Staaten um die Schließung der sogenannten Balkanroute. Selbst Schutzsuchende, die das Festland erreicht haben, können somit Griechenland kaum noch verlassen. Verschärft wurde die Situation 2019 als der neu ins Amt gewählte griechische Ministerpräsident der konservativen Partei Kyriakos Mitsotakis rechtliche Verschärfungen in der Asyl- und Migrationspolitik umsetzte. Es kam zu nationalen Grenzkontrollen, der «Aussetzung» des Asylrechts und «präventiven Maßnahmen» in Bezug auf Ankünfte an der See- und Landgrenze. Das Ergebnis: ein massiver Einsatz von Polizei- und Militärkräften und eine beispiellose Zunahme von rechtswidrigen «Pushbacks» an der Außengrenze.

Permanente Verletzung der Menschenrechte

Inzwischen ist klar, der EU-Türkei-Deal funktioniert nicht wie geplant. Weil die EU ihre Versprechungen der Aufnahme von Geflüchteten und Umverteilung dieser innerhalb der EU-Staaten nicht einhielt, veranlasste Erdoğan im Jahr 2020, dass geflüchtete Menschen mit Bussen an die Landgrenze zu Griechenland gebracht werden. Der griechische Premierminister bezeichnete Geflüchtete als asymmetrische Bedrohung und seine Behörden schoben die Menschen mit Gewalt zurück. Am 4. März 2020 wurde Muhammed Gulzar am Evros-Fluss bei dem Versuch nach Griechenland zu fliehen erschossen. Zahlreiche Organisationen, darunter auch das Deutsche Institut für Menschenrechte, haben die dortigen gewalttätigen Zurückweisungen als klaren Verstoß gegen internationales und EU-Recht bezeichnet.

Mit der Covid-19-Pandemie hat sich die angespannte Lage 2020 noch weiter verschärft. Anstatt die Anzahl der Menschen in den Lagern zu reduzieren und somit die Lebensbedingungen zu verbessern, konzentrierte sich die Mehrheit der ergriffenen Maßnahmen auf die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und anderer Rechte der Schutzsuchenden. Unter dem Eindruck dieser Situation entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Frühjahr 2020 im Eilverfahren, dass die Zustände bspw. in den Hotspots Moria auf Lesbos, aber auch in Vial auf Chios gegen das Verbot der unmenschlichen Behandlung gemäß Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen.

In der Nacht vom 8. auf den 9. September 2020 brannte mit Moria eines der größten Lager für Schutzsuchende in der EU fast vollständig ab. Dies war der katastrophale Höhepunkt des Elends, das sich seit der Etablierung der «EU-Hotspots» auf den griechischen Inseln abspielt. Die Stimmung nach dem Brand war klar: «No more Moria». Der Bau eines neuen Lagers, völlig in der Peripherie der Insel Lesbos, ist jedoch seitdem in vollem Gange. Eines der neuen Orwell‘schen Vorzeigelager der Entrechtung existiert bereits auf Kos, weitere Lager sind noch im Bau – alles mit Unterstützung der EU.

Gleichzeitig wurde bekannt, dass griechische Polizeibeamt*innen Geflüchtete, die es bereits auf die Inseln geschafft hatten, auf «Rettungsinseln» ohne Motor und meist auch ohne Handy auf offenem Meer aussetzten: Klare, illegale «Pushbacks». Die Situation an den Außengrenzen spitzte sich also weiter zu, während die EU erneut versucht, eine gemeinsame Lösung zu finden.

Vom Ausnahmezustand zum Konzept der Normalität der Entrechtung

Der Vorschlag der EU-Kommission zum geplanten Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) würde eine Verrechtlichung der EU-Hotspots bedeuten – von dem Experiment und dem Ausnahmezustand auf den griechischen Inseln hin zu einem Konzept der Normalität der Entrechtung. Bis 2024 sollen die neuen Richtlinien und Verordnungen angenommen werden. Sie haben ein klares Ziel: Fliehende Menschen sollen nicht in die EU kommen, Grenzen statt Menschen sollen geschützt werden. Dadurch werden absehbar Menschen auch weiterhin an den europäischen Außengrenzen sterben: Durch illegale Pushbacks, Gewalt durch Grenzbeamt*innen und unterlassene Hilfeleistung bei Seenot. Wer es dennoch in einen europäischen Staat schafft und seinen Asylantrag vorbringt, wird in Elendslagern inhaftiert. Die Situation in Griechenland zeigt, dass dies zu Obdachlosigkeit und Ausbeutung führt und die Außengrenzstaaten allein gelassen werden. Bereits jetzt zeigt sich, dass selbst zugesagte Solidaritätsaufnahmen seitens anderer EU-Mitgliedstaaten nicht umgesetzt werden. Angedachte Umverteilungsmaßnahmen enthalten weiterhin diverse Möglichkeiten, damit die Mitgliedstaaten diesen nicht nachkommen müssen, bspw. wenn sie selbst einen «hohen Migrationsdruck» verspüren.

Die Vorschläge für das neue GEAS höhlen Grundrechte und das individuelle Recht auf Asyl weiter aus – auch weil die Vorschläge der Kommission zahlreiche Ausnahmeregelungen vorsehen, mit denen die sowieso niedrigen Standards noch weiter unterschritten werden dürfen. Auch die Zusammenarbeit mit Drittstaaten soll weiter ausgebaut werden. Dadurch werden die Verfahren weiter von regulären Asylverfahren abweichen. Denn anstatt zu überprüfen, ob ein Grund für die Zuerkennung internationalen Schutzes vorliegt, wird nun nur noch die Möglichkeit der Rückführung ohne oder auch trotz des Vorliegens eines Grundes für eine Zuerkennung internationalen Schutzes geprüft. Dies wird durch ein – nur schwer durchschaubares und den Grundsätzen der Rechtssicherheit in keiner Weise entsprechendes – sogenanntes beschleunigtes Grenzverfahren durchgeführt. Im Zuge dessen kommt es zu zahlreichen Verletzungen von Grund- und Menschenrechten, denn schon jetzt werden nachweislich der aktuellen gesetzlichen Grundlage (Art. 43 AsylVerfRL) im beschleunigten Grenzverfahren die Verfahrensrechte eingeschränkt, was auch der UN Special Rapporteur on the Human Rights of Migrants feststellt. Die Neuerungen würden dafür sorgen, dass dieses Verfahren auf alle Schutzsuchenden angewandt wird.

Aufnahmebereite Kommunen müssen einbezogen und gestärkt werden

Um das Elend an den Außengrenzen zu beenden, müssen die Bundesregierung und die EU ihren Kurs der Externalisierung und der Lagerpolitik ändern. Die deutsche Bundesregierung darf den vorgesehenen Verschärfungen des GEAS auf keinen Fall zustimmen und sollte sich innerhalb der EU dafür einsetzen, dass statt staatlicher Interessen die fliehenden Menschen und ihre Rechte geschützt werden. Auch sollte sie ihren Umgang mit Hilfsangeboten aus deutschen Kommunen überdenken. Denn nach dem Brand in Moria wollten über 200 Kommunen Menschen aus dem Lager aufnehmen. Thüringen und Berlin beschlossen im Juni 2020 Landesaufnahmeanordnungen und zeigten so Bereitschaft für eine selbstständige Aufnahme von insgesamt 800 besonders schutzbedürftiger Personen und ihren Familien. Für die Wirksamkeit und Umsetzung der Aufnahmeprogramme wäre nach § 23 Abs. 1 S. 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) jedoch das Einvernehmen des damals CDU-geführten Bundesinnenministeriums (BMI) notwendig. Diese Zustimmung erfolgte nicht.

Offiziell wurde die Ablehnung u.a. damit begründet, dass eine Landesaufnahmeanordnung (LAAO) «im Widerspruch zu den Zielen der Dublin III VO und europäischen Lösungen» stehen würde. Dies überzeugt rechtlich nicht, denn das EU-Recht wird durch eine LAAO in keiner Weise verdrängt, es gilt unverändert weiter und kommt zur Anwendung, auch wenn das Bundesverwaltungsgericht einer Klage des Landes Berlin nicht stattgab. Die Länder beschreiten lediglich einen zusätzlichen Weg zur Entlastung eines offenkundig nach geltendem Recht überforderten Mitgliedstaates. EU-Recht verbietet nicht, dass Mitgliedstaaten Menschen aus humanitären Gründen aufnehmen, deutsches Recht ermöglicht das. § 23 Abs. 1 AufenthG bezweckt in diesen Konstellationen, Erleichterungen für die verwaltungsmäßige Bewältigung aufenthaltsrechtlicher Probleme zu schaffen. Es steht auch nicht im Widerspruch zu unionsrechtlichen Vorgaben. Anders als das BMI in seinem Schreiben deutlich macht, wäre eine Aufnahme gerade Ausdruck des unionsrechtlichen Grundsatzes der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Hinzu kommt, dass das Einvernehmen gemäß § 23 Abs. 1 AufenthG nur zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit verweigert werden darf. Maßstab hierfür ist jedoch nicht das Ermessen des BMI, sondern der Fakt, dass eine nicht hinnehmbare Rechtszersplitterung drohen müsste. Dies ist schon bei der geringen Anzahl begünstigter Personen in den LAAOs zu verneinen. Auch der Hinweis des BMI, die Voraussetzungen von § 23 Absatz 1 AufenthG lägen nicht vor, weil eine Aufnahme aus EU-Staaten nicht der bisherigen Praxis entspräche, überzeugt hier nicht. Der § 23 AufenthG macht ausdrücklich keinen Ausschluss für eine Aufnahme von Personen innerhalb der EU. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich nichts anderes, wonach die Anordnung sich sowohl auf Personen beziehen kann, die sich noch nicht im Bundesgebiet aufhalten, als auch auf bereits Aufhältige.

Eine Aufnahme durch Bundesländer aus den griechischen Lagern ist politisch von der Bundesregierung nicht gewünscht, denn sie würde das Scheitern des europäischen Hotspots-Konzepts anerkennen. Die Initiativen der Länder können demgegenüber als eine Art Gegenentwurf zu dem unmenschlichen «Lagerkonzept» und der Externalisierung gesehen werden, indem sie im Rahmen ihrer verfassungsrechtlich verankerten Eigenstaatlichkeit selbstständig Menschen aus den Hotspots dezentral in den jeweiligen Ländern aufnehmen. Zugleich schafft die Aufnahme weniger ausgewählter Geflüchteter keine Abhilfe an der Gesamtsituation in den Lagern.

Fazit

Statt einem weiteren Entgegenkommen zu den rechten Kräften in der EU und einer Verschärfung der gesetzlichen Vorgaben muss die EU also dringend damit beginnen, schutzsuchende Menschen nicht mehr als Sicherheitsgefahr wahrzunehmen. Dass Migration hier mit zweierlei Maß gemessen wird, zeigt sich auch in den Versuchen der deutschen Regierung, durch neue Gesetze attraktiver für Fachkräfte zu werden. Dabei wäre es dringend notwendig, auch den bereits hier lebenden Menschen Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Qualifizierungsmaßnahmen zu ermöglichen sowie endlich sichere Fluchtwege zu schaffen.