Nachricht | Sozialökologischer Umbau Schmerzgriffe und Selbstjustiz gegen die «Letzte Generation»

Wie verhältnismäßig sind die Reaktionen auf die Proteste? Tobias Singelnstein im Interview

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Taxi fährt auf Aktivisten der Letzten Generation zu. Dieser liegt auf Motorhaube.
Berlin im Februar 2023, ein Taxi fährt auf einen Aktivisten der Letzten Generation zu. CC BY-ND 2.0, Foto: Stefan Müller via Flickr

Wir erleben momentan eine sehr angespannte Situation. Die Letzte Generation ist oft auf der Straße, blockiert den Autoverkehr oder macht andere Aktionen. Die Reaktion der Bevölkerung ist durch eine extreme Gewaltbereitschaft gekennzeichnet. Woher kommt, aus kriminologischer Sicht, diese Selbstjustiz und die Gewalttätigkeit der Bevölkerung?

Tobias Singelnstein: Zum einen bringen die Leute ihren Ärger darüber zum Ausdruck, dass ihr Alltag und ihr normales Fortkommen gestört werden. Aber die enormen Wutausbrüche und die Gewalt können allein dadurch eigentlich nicht erklärt werden. Ich glaube, dass den Leuten durch diese Blockaden auch vor Augen geführt wird, dass wir, so wie wir jetzt leben, in Zukunft nicht weiterleben können. Viele Menschen wollen nicht hören, was die Klimakrise für uns bedeutet und dass wir uns einschränken müssen und bestimmte Dinge nicht einfach weitermachen können.

Außerdem muss man in Rechnung stellen, dass wir in den Medien und in der Politik eine sehr aufgeheizte Debatte haben, die sich gegen die Aktionen der Letzten Generation und anderer Gruppen richtet. Dadurch ist eine starke Polarisierung entstanden. Wir sprechen in der Kriminologie von «moral panics» und die Art und Weise, in der diese doch meist eher bagatellhaften Blockaden und leichten Straftaten in der Öffentlichkeit beschrieben werden, kann man durchaus als Moralpanik bezeichnen.

Tobias Singelnstein ist Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Goethe-Universität Frankfurt, er forscht unter anderem zu polizeilicher Gewaltausübung.

Das Interview geführt hat Henning Obens, Referent für Digitale Kommunikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Auf Bildern und in Videos sind immer wieder Polizist*innen zu sehen, die Aktivist*innen der Letzten Generation mit Schmerzgriffen abführen. Die Polizist*innen kündigen die Schmerzgriffe dabei oft explizit als solche an. Ist es erlaubt, dass die Polizei bei diesen Sitzblockaden Schmerzgriffe einsetzt?

Wenn wir eine Sitzblockade haben, die nicht mehr als Versammlung geschützt ist, und wenn die Polizei dann berechtigt oder sogar verpflichtet ist, die Blockade aufzulösen, darf sie unter Umständen auch unmittelbaren Zwang anwenden. Dies darf sie allerdings nur, wenn die Blockade nicht auf andere Art und Weise beseitigt werden kann, also zum Beispiel durch Kommunikation. Die Polizei muss das mildeste Mittel nutzen, dass ihr zur Verfügung steht. Das ist bei friedlichen Sitzblockaden in aller Regel das Wegtragen: es kommen zwei Beamt*innen an die Seite, heben die Person hoch und tragen sie zur Seite. Aus rechtlicher Sicht sind Schmerzgriffe, wie sie auf einigen Videos zu sehen sind, in diesen Situationen unzulässig. Generell muss man sagen, dass Schmerzgriffe rechtlich sehr umstritten sind. Es gibt Jurist*innen die davon ausgehen, dass sie mit den derzeit zur Verfügung stehenden Rechtsgrundlagen gar nicht zulässig sind.

Kommen wir zur Reaktion der Justiz. Die ersten Urteile wegen Nötigung sind gegenüber Mitgliedern der Letzten Generation ergangen und es gab einige Verurteilungen zu Haftstrafen ohne Bewährung. Diese harten Urteile werfen angesichts der bagatellhaften Sitzblockaden die Frage der Verhältnismäßigkeit auf. Wie sind die Urteile zu erklären?

In der strafjustiziellen Reaktion auf diese Blockaden muss man zwei Ebenen unterscheiden. Erstens gibt es die Ebene der rechtlichen Bewertung, also der Prüfung, ob das, was stattgefunden hat, überhaupt strafbar ist. Hier ließe sich schon an verschiedenen Punkten streiten. So könnte man sich fragen, ob eine Notstandssituation vorliegt und man durch diese gerechtfertigt ist. Oder man überlegt, ob es sich bei Blockaden überhaupt um tatbestandsmäßige Nötigung handelt und ob sie angesichts ihres Zwecks wirklich verwerflich sind. Um diese Rechtsfragen finden in der Justiz Auseinandersetzungen statt und es gab einige gerichtliche Entscheidungen, die die Blockaden auf diesen verschiedenen Ebenen durchaus unterschiedlich bewertet haben. Allerdings besagt die herrschende Meinung nach wie vor, dass diese Blockaden grundsätzlich als Nötigung strafbar sind. Hier hat sich keine andere Linie durchgesetzt.

Die zweite Ebene betrifft die Strafzumessung und die Frage, welche Sanktion verhängt wird. Im Ermittlungsverfahren gäbe es zunächst die Möglichkeit, Verfahren wegen Geringfügigkeit oder gegen Auflagen einzustellen. Wenn es zur Anklage kommt, dann muss das Gericht entscheiden, ob es für die Nötigung eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe verhängt. Hier gab es in der Tat einzelne gerichtliche Entscheidungen, die zu dem Ergebnis gekommen sind, dass eine Freiheitsstrafe, teilweise auch ohne Bewährung, notwendig sei. Aus kriminologischer und strafrechtswissenschaftlicher Sicht stellt sich dann natürlich die Frage, inwiefern solche Urteile noch angemessen und verhältnismäßig sind.

Begründet werden die Entscheidungen von den Gerichten damit, dass die Angeklagten angeben, in Zukunft weitere Blockaden, also weitere Straftaten, begehen zu wollen. Die Gerichte begründen dann, dass aus generalpräventiven und spezialpräventiven Gründen diese Freiheitstrafe angezeigt sei. Aus kriminologischer Sicht ist das sehr zweifelhaft.

Erstens geht von diesen Freiheitsstrafen kaum eine präventive Wirkung aus. Zweitens sehen wir, dass sie mit schweren negativen Folgen verbunden sind. Wenn man für mehrere Monate ins Gefängnis muss, führt das nicht zu einer Resozialisierung, sondern zu einer Desozialisierung. Den Leuten wird ihre Freiheit entzogen, ihre sozialen Beziehungen werden gekappt, sie verlieren vielleicht ihren Job und ihre Wohnung. Inwiefern das in irgendeiner Form zu einer im Gesetz so formulierten Besserung der Leute führen soll, ist sehr fraglich.

Von Seiten der Letzten Generation wird sich oft auf einen rechtfertigenden Notstand bezogen. Auch in manchen gerichtlichen Urteilen wurden die Sitzblockaden angesichts der Klimakrise für vertretbare Aktionen gehalten. Gibt es eine juristische und kriminologische Fachdebatte darüber, inwieweit ein rechtfertigender Notstand als Argument herangezogen werden kann?

Es gibt in der Tat eine juristische Debatte darüber, ob angesichts der Klimakrise und ihren drohenden gravierenden Folgen ein Klimanotstand vorliegt, der bestimmte strafbare Handlungen, wie z.B. Nötigungen durch Blockaden, rechtfertigen kann. Aber die ganz überwiegende Meinung in der Justiz und in der Rechtswissenschaft geht nach wie vor davon aus, dass das nicht der Fall sei und eine Rechtfertigung nicht in Frage kommt.

Wir haben es im Moment mit einer gesellschaftlichen Debatte zu tun, die extrem aufgeheizt ist und in der überzogene Formulierungen wie «Klimaterroristen» keine Seltenheit sind. Schlägt sich diese Debatte auf die Diskussionen in der Rechtsprechung nieder? Wie ist das Verhältnis zwischen den öffentlichen Reaktionen und den juristischen Einschätzungen? Gibt es ein Wechselverhältnis?

Ich glaube schon, dass die Justiz und die ermittelnde Polizei in diesen Fällen nicht im luftleeren Raum agieren. Sie sind Teil der Gesellschaft und in gewissem Maße auch von der gesellschaftlichen Debatte beeinflusst. Die wütende Ablehnung der Blockaden und die aufgeheizte Debatte, die an mancher Stelle angesichts des bagatellhaften Charakters der Protestform wirklich jedes Maß verloren haben, gehen nicht spurlos an der Justiz und an der Polizei vorüber.

Die öffentliche Debatte ist stark polarisiert, ehemalige Justizminister fordern eine noch härtere Bestrafung. Wie ist die Polarisierung an diesem Punkt zu erklären? Liegt ihr Grund in den Sitzblockaden oder wird in den Debatten auch etwas Anderes verhandelt?

Aus meiner Sicht geht es nicht allein um die Blockaden und die Wut, die solche Blockaden auslösen. Im Prinzip hat sich die ganze Klima-Debatte ein stückweit auf diese Blockaden verengt. Über das eigentliche Problem der Klimakrise, die Herausforderungen, die sich für uns alle ergeben und die Frage, wie wir unser Leben verändern müssten, wird gar nicht mehr geredet. Es scheint fast so, als seien diese Blockaden eine Art willkommene Ablenkung, auf die sich konzentriert und gestürzt werden kann, um die eigene Wut rauszulassen und sich dabei nicht mit den eigentlichen Problemen auseinandersetzen zu müssen.

Was für Diskussionen gibt es gerade in der Politik um eine Verschärfung der Maßnahmen gegen die Letzte Generation und vergleichbare Aktionen des zivilen Ungehorsams?

Ich habe in diese Richtung bisher nur vage Ankündigungen gehört. Aber es wäre grotesk. Die Blockaden sind leichte Kriminalität, selbst wenn man sie als Nötigung werten möchte. Das Strafrecht hält schon jetzt alle möglichen Instrumente bereit, um auf diese Form des Protests zu reagieren. Aus meiner Sicht ist eine Diskussion über die Ausweitung des Strafrechts ein rein symbolischer Teil einer öffentlichen Debatte.

Die Innensenatorin von Berlin, Iris Spranger, hat beim Polizeikongress sehr deutlich gemacht, dass sie das gesamte zur Verfügung stehende Arsenal gegen die Letzte Generation und ihre Unterstützer*innen auffahren möchte. Wie schätzen Sie ihre Äußerungen ein?

Wenn ich mich richtig erinnere, ging es Frau Spranger darum, dass es Unternehmer*innen gibt, die angekündigt haben, Bußgeld- und Geldstrafenzahlungen für Aktivist*innen der Letzten Generation zu übernehmen. Das stellt aus Sicht der Politik offensichtlich ein Problem dar. Aus strafrechtlicher Sicht steht jedoch fest, dass es nicht strafbar ist, für jemand anderen Geldstrafen zu übernehmen und zu bezahlen.

Derzeit stehen Überlegung im Raum, einen vorbeugenden Gewahrsam von fünf Tage für Klima-Demonstrant*innen einzuführen. Ist diese Reaktion noch verhältnismäßig? Ist der fünftägige Gewahrsam eine Möglichkeit, juristische Sanktionen zu ersetzen?

Der Unterbindungsgewahrsam, der in den Polizeigesetzen geregelt ist, ist eine hochproblematische Maßnahme. Er sieht einen Freiheitsentzug, also einen sehr schweren Grundrechtseingriff vor, wenn eine Gefahr festgestellt wird, dass Personen in naher Zukunft Straftaten begehen. Man kann ihnen dann die Freiheit entziehen, um diese Straftaten zu verhindern. Erstens sind aber diese Prognosen sehr schwierig zu stellen: Wie soll man sagen, ob Leute in Zukunft Straftaten begehen, es sei denn, sie sagen es selbst über sich? Zweitens besteht die Gefahr, dass dieses Instrument als vorweggenommenen Sanktionierung benutzt wird. Deshalb war es in Deutschland für lange Zeit sehr zurückhaltend geregelt und in manchen Bundesländern ist es noch immer so, dass der Gewahrsam nur zwei Tage dauern darf. Allerdings wird in Berlin jetzt überlegt, die mögliche Dauer auf fünf Tage zu erhöhen und in manchen Bundesländern ist schon viel mehr möglich. Diese Entwicklungen sind aus verfassungsrechtlicher Sicht sehr problematisch.

Eine weitere Änderung, die zur Diskussion steht, ist eine Gebührenanhebung durch die Polizei. Wiederholungstäter*innen sollen dann bis zu 2000 Euro «Bearbeitungsgebühr» bezahlen. Sind diese Überlegungen Teil einer generellen Tendenz?

Es gibt schon länger die Tendenz, Kosten für polizeiliche Maßnahmen auf die Personen abzuwälzen, die sie veranlasst haben. Das mag an anderer Stelle und in einem gewissen Umfang nachvollziehbar sein. Im Falle des politischen Protests finde ich so ein Vorgehen problematisch, da es auch dazu führt, dass politischer Protest noch auf eine zusätzliche Art und Weise sanktioniert wird.

Sehen Sie die Möglichkeit, dass das an der Letzten Generation erprobte Repressionsarsenal gegen alle sozialen Bewegungen und Aktionen des zivilen Ungehorsams zum Standard wird?

Polizeiarbeit und auch die Rechtsprechung entwickeln sich kontinuierlich weiter und all die Vorgehensweisen, die sich in Antwort auf die Blockaden der Letzten Generation herausbilden, werden sicherlich nicht auf solche Aktionen beschränkt bleiben. Sie werden sehr wahrscheinlich auch in anderen Situationen genutzt und so Bestandteil polizeilichen Vorgehens werden.