Am 3. Juli 2023 ist der zehnte Jahrestag der Machtübernahme durch Abdel Fattah el-Sisi in Ägypten. Können Sie die Entwicklungen seit el-Sisis Militärputsch kurz skizzieren?
Vor zehn Jahren herrschte in der ägyptischen Bevölkerung eine große Unzufriedenheit mit den Muslimbrüdern, die damals an der Macht waren, ebenso wie eine Verärgerung über den fehlenden politischen Dialog zwischen diesen und linken und liberalen politischen Akteur*innen. Das Militär nutzte die Wut der Bevölkerung und das Versagen der Führung der Muslimbruderschaft geschickt aus, um einen Kompromiss mit der Opposition zu schließen – und kam so wieder an die Macht.
Mohamed Abdel Salam ist Menschenrechtsverteidiger und Analyst für öffentliche Angelegenheiten. Er ist geschäftsführender Direktor der Association for Freedom of Thought and Expression (AFTE). Abdel Salam schloss 2010 sein Studium an der Ain Shams University mit einem Bachelor in deutscher Sprache ab. Im Jahr 2016 schloss er ein Diplom in Politikwissenschaft an der Universität Alexandria ab.
Damals dachten die meisten Ägypter*innen, die Entmachtung Mursis sei ein Schritt, der das Land vor einem Bürgerkrieg bewahren würde. Das war auch die offizielle Botschaft Sisis zu dieser Zeit, der damals Verteidigungsminister war. Doch seit Sisis Wahl zum Präsidenten im Jahr 2014 hat sich alles verschlechtert – vor allem die wirtschaftliche Lage. Ein Großteil der Bevölkerung kann der Armut nicht entrinnen, und selbst die Mittelschicht spürt, wie ihre Privilegien schwinden. Heute müssen sie Kredite für Wohnraum aufnehmen, für Schulgebühren und vieles mehr – das tägliche Leben und der Alltag sind schwieriger geworden als je zuvor, schwieriger noch als während der Ära von Ägyptens Ex-Präsident Hosni Mubarak.
Was die Menschenrechte und die politischen Reformen anbelangt, so wird das ägyptische Parlament vollständig von den Sicherheitsbehörden kontrolliert. Es besteht keine Möglichkeit für eine Konkurrenz zwischen regierungsnahen Parteien und der Opposition. Vor der Machtübernahme durch Sisi bestand das Hauptziel der Sicherheitsbehörden darin, politische Aktivist*innen zu verhaften. Jetzt verhaften sie jeden, der sich kritisch äußert, auch wenn sich solche Äußerungen nur um die wirtschaftliche Lage drehen. Tausende von Menschen sitzen derzeit wegen ihren Ansichten im Gefängnis.
Gleichzeitig sind mehr als 500 Websites in Ägypten gesperrt. Der «Fall 173», ein 2011 eingeleitetes Gerichtsverfahren gegen Menschenrechtsverteidiger*innen, ist weiterhin offen. Viele Ägypt*innen sind mit Reiseverboten und dem Einfrieren von Vermögenswerten konfrontiert. Die Menschenrechtslage ist katastrophal.
Abgesehen von der Repression, wie sichern Sisi und die Sicherheitsbehörden ihre politische und wirtschaftliche Macht?
Meiner Meinung nach bezieht die ägyptische Regierung den größten Teil ihrer Macht aus der Angst der Bevölkerung vor Repressionen auf der einen, und der Angst vor Chaos oder Protesten auf der anderen Seite – und zwar aufgrund der Erfahrungen nach der Revolution von 2011, die damals zu einer schlechten wirtschaftlichen und politischen Lage führte. Wenn die Menschen jetzt über die Situation nachdenken oder diskutieren, sagen sie: «Na gut, wir wollen die Situation nicht verschlimmern.»
Die Regierung hat in den letzten Jahren einige Schritte unternommen, um die politische Lage zu entspannen, zumindest auf dem Papier, wie z. B. die Einsetzung eines Nationalen Menschenrechtsrates im Januar 2022. Gibt es eine wirklich substantielle Initiative zur Verbesserung der Situation?
Zunächst haben die ägyptischen Behörden die «Nationale Strategie der Menschenrechte» auf den Weg gebracht, dann haben sie zum «Nationalen Dialog» aufgerufen und das Begnadigungskomitee des Präsidenten wieder eingesetzt. Alle drei Initiativen zeigen, dass die Behörden zumindest erkannt haben, dass es ein Problem in Bezug auf Menschenrechte und politische Reformen gibt und dass sie handeln müssen.
Allerdings gibt es innerhalb der staatlichen Institutionen viel Widerstand gegen weitreichende politische Veränderungen. Sie versuchen daher positive Botschaften an die Zivilgesellschaft, die politische Opposition und an westliche Verbündete zu senden. Das ist zwar nicht schlecht, aber diese Botschaften und Versprechungen unterscheiden sich angesichts der anhaltenden Repressionen sehr stark von der Realität vor Ort.
Was wir brauchen, sind konkrete Schritte der ägyptischen Regierung, um sicherzustellen, dass diese Versprechen Teil eines wirklichen Wandels sind, wenn auch in sehr begrenztem Umfang. Ohne konkrete Schritte bleibt es kaum mehr als Regierungspropaganda.
Ägypten wird von vielen als ein Garant für Stabilität in Westasien angesehen. Joseph Borrell, der EU-Außenbeauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik, traf Mitte Juni zu hochrangigen Gesprächen in Kairo ein, wo er Sisi und Verteidigungsminister Zaki traf. Borrell twitterte: «Ein herzliches, ausführliches Gespräch über gemeinsame Anliegen wie Migration und die Notwendigkeit sofortiger Maßnahmen zur Bekämpfung von Menschenhändlern und Schleppern, die das Verschwinden von Menschen ausnutzen». Wie bewerten Sie die Beziehungen zwischen der EU und Ägypten?
Ich sehe das Problem in der Beziehung zwischen Ägypten und den Ländern der Europäischen Union in dem singulären Fokus auf Sicherheit und Stabilität. Einige europäische Politiker*innen behaupten, dass sie gemeinsame strategische und sicherheitspolitische Interessen mit der ägyptischen Regierung hätten – es geht also nicht um unsere Werte oder Menschenrechte. Die Ausrichtung der EU-Außenpolitik gegenüber Ägypten ist nicht nur in Bezug auf die Werte sehr schädlich, sondern auch in Bezug auf die Interessen der EU.
Die Ausklammerung der Menschenrechte und der politischen Reformen aus den Verhandlungen mit der ägyptischen Regierung führt zu einem Mangel an Transparenz und verschlechtert auch die wirtschaftliche Lage. All die Megaprojekte der Regierung, wie z.B. die neue Verwaltungshauptstadt und die Hochgeschwindigkeitsbahn, die vom deutschen Siemens-Konzern gebaut wird, zehren die finanziellen Ressourcen des Landes auf. Meiner Meinung nach hat diese komplizierte Situation dazu geführt, dass die meisten Ägypter Angst vor der Zukunft haben, Angst davor, im Lande zu bleiben. Sie wollen einfach nur weg.
Die Stabilität des Landes ist auch das Hauptargument der europäischen Politiker*innen zur Unterstützung der ägyptischen Regierung. Aber das wird zur größten Flüchtlingskrise aller Zeiten führen. Selbst Präsident Sisi sagte, dass die Menschen aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage das Mittelmeer überqueren und das Land verlassen werden. Dies wird von manchen als eine Frage der Grenzen und der Grenzsicherheit angesehen werden, aber darum geht es nicht – es geht um die Sicherstellung eines Wandels innerhalb des Landes, mit dem die Bevölkerung leben und am politischen Leben teilnehmen, ihre Meinung äußern und ihre Vertreter frei wählen kann.
Ägypten war im vergangenen Jahr Gastgeber der UN-Klimakonferenz COP27. Welche Rolle spielt die Klimakrise in Ägypten? Hat das Thema Klimawandel seit der COP in der ägyptischen Gesellschaft an Bedeutung gewonnen?
Ich würde sagen, dass die COP27 eine riesige Chance für die Menschenrechtsbewegung in Ägypten war. Es gab so viele Reiseverbote und Ängste in Bezug auf die Teilnahme an internationalen Veranstaltungen –die COP gab uns die Möglichkeit, wieder mit der Welt in Verbindung zu treten.
Und es ist uns gelungen, die Menschenrechtslage im Land zu thematisieren und anzusprechen. Letztendlich hat die internationale Gemeinschaft jedoch nicht genug Druck auf ägyptische Behörden ausgeübt, weshalb der prominente oppositionelle Aktivist Alaa Abdel Fattah zusammen mit anderen politischen Gefangenen immer noch im Gefängnis sitzt. Dennoch bin ich der Meinung, dass die Menschenrechtsorganisationen gezeigt haben, dass sie immer noch stark sind und dass all diese Maßnahmen nicht dazu geführt haben, dass der Einsatz für Menschenrechte erloschen ist.
Im Großen und Ganzen sind Fragen der Klimagerechtigkeit nicht wirklich Teil der öffentlichen Debatten im Land, da es auf Grund der Staatskontrolle über die Medien in Ägypten keinen ausreichenden Zugang zu Informationen gibt.
Sind Menschenrechtsorganisationen und die Bewegung für Klimagerechtigkeit immer noch getrennte Bewegungen, wie es weltweit oft der Fall ist, oder hat die COP als Chance gedient, Brücken zwischen ihnen zu bauen?
Ich glaube nicht, dass sie getrennt sind. Die Erfahrung der COP27 hat uns gelehrt, dass Umwelt- und Klimagerechtigkeitsthemen miteinander verbunden sind und anderen Menschenrechtsfragen sehr nahestehen. In einem Land wie Ägypten gibt es zum Beispiel keinen Raum für die Zivilgesellschaft. Das hindert Organisationen daran, das Bewusstsein für die Klimakrise zu schärfen. Während der COP gab es eine starke Zusammenarbeit und Koordination zwischen Menschenrechts- und Umweltorganisationen, und ich denke, dass diese Koalition auch in Zukunft weiter bestehen wird.
Wie hat die ägyptische Zivilgesellschaft die COP bewertet, und inwieweit ist Präsident al-Sisi gestärkt aus der internationalen Konferenz hervorgegangen?
Meiner Meinung nach müssen die Länder des globalen Südens natürlich für die Auswirkungen des Klimawandels auf ihre Bevölkerung und Wirtschaft entschädigt werden. Als ägyptische zivilgesellschaftliche Organisation haben wir dies unterstützt und sind der Meinung, dass die COP27 eine gute Chance für die Entwicklungsländer war, diese Art von Zusagen von den reichen und westlichen Ländern zu erhalten.
Die ägyptische Regierung hat starke diplomatische Beziehungen auf dem afrikanischen Kontinent, und wir verstehen, dass dies vorteilhaft ist. Aber letztlich ist die Innenpolitik der ägyptischen Regierung in Bezug auf die Klimakrise für die außenpolitischen Bemühungen nicht relevant. Der ägyptische Außenminister Sameh Shoukry ist bei den Klimaverhandlungen sehr aktiv, aber keine andere staatliche Institution im Land hat einen organisierten Plan. Wir brauchen also mehr organisierte Aktionen innerhalb des Landes und eine Öffnung des zivilgesellschaftlichen Raums und der Medienfreiheit, um Klimagerechtigkeit zu erreichen.