Sarah-Lee Heinrich war zwei Jahre lang Bundessprecherin der Grünen Jugend. Sie spricht im Interview mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung über die Mitschuld der Ampel an dem aktuellen Rechtsruck, über die Frage, weshalb die Grünen in der Regierung so wenige spürbare Akzente setzen können. Mit ihr sprach Henning Obens, Leiter der Politischen Kommunikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Henning Obens: Hallo Sarah! Schön, dass du da bist! Ich würde vielleicht erst einmal so starten: Das Thema «Soziale Gerechtigkeit» ist ja nicht der erste Punkt, der einem bei den Grünen so einfällt. Du warst Sprecherin der Grünen Jugend und hast versucht, dieses Politikfeld dort sehr stark zu machen. Kannst du sagen, wie es dazu gekommen ist, dass dieses Thema für dich so einen großen Stellenwert einnimmt.
Sarah-Lee Heinrich: Für mich ist das Thema «Soziale Gerechtigkeit» deswegen ein wichtiges Thema geworden, weil ich in Armut aufgewachsen bin. Bei meiner alleinerziehenden Mutter, in Hartz IV, oder Bürgergeld, oder wie auch immer man das gerade nennen möchte. Es ist kein großer Unterschied mehr.
Und ich habe – ich bin auch Schwarz – ich habe auch Rassismus erlebt in meinem Leben. Und da ist es so klar zu verstehen: beleidigt dich jemand rassistisch ist er ein Rassist. Aber Armut, das ist ja nicht dasselbe. Ja, es gibt Klassismus, aber Armut ist mehr als eine Diskriminierungsform. Ich habe ein bisschen gebraucht, um das zu verstehen. Ich dachte, wir sind selbst daran schuld und so ist das, und wir sind faul, und wir haben es nicht verdient, und wir leisten nicht genug.
Und irgendwann – das war während gutem Politikunterricht, da haben wir über die Agenda Politik geredet – habe ich das erste Mal verstanden, dass Armut eine politische Entscheidung ist. Das es damals so entschieden wurde und dass es große Hartz-Proteste gab. Als sie stattfanden, war ich noch zu jung.
Und dann dachte ich mir so: Okay, wenn das so entschieden wurde, dann könnte man ja die gegenteilige Entscheidung auch treffen. Es könnten vielleicht nochmal ganz viele auf die Straße gehen, denn diese unsoziale Politik schadet vielen Menschen. Das war für mich ein starker Politisierungsschub, weil ich mir das erste Mal vorgestellt habe, wie man politische Verhältnisse vielleicht ändern könnte. Ich wollte politisch aktiv werden!
Dass ich bei den Grünen gelandet bin, war Zufall. Jetzt in der Asyldebatte ist mir irgendwann eingefallen, wie es eigentlich kam: Das war 2016 die Geflüchteten sind gekommen und wir hatten ein Willkommens-Café in Unna, wo neuangekommene Geflüchtete alteingesessene «Unnaraner» kennenlernen sollten. Und wir haben als Schule bei der Kinderbetreuung mitgeholfen. Und da habe ich die Grünen kennengelernt. Denn sie haben sowas…
... Die waren da vor Ort.
Meine Marx-Grundlagen verdanke ich dem grünen Jungendverband.
Damals waren sie diejenigen, die diese Solidarität organisiert haben. Jetzt spielen sie leider eine andere Rolle.
Also, ich brauchte ein Schulpraktikum und dann sagte ein Grüner: «Komm doch zu uns.» Ich war nicht sofort Feuer und Flamme. Ich hatte damals ein schlechtes Bild von der Partei. Ich dachte, sie interessieren sich eher für Bäume und Bienen als für Menschen. Dass sie Menschen, die nicht vegan und bio leben verurteilen und mit Sozialem wenig am Hut haben... Ich fremdelte also, aber menschlich waren sie sehr nett. Und im Willkommenscafe haben wir zusammen wichtige Arbeit gemacht. Und dann dachte ich mir, dann mache ich das Praktikum.
Dann habe ich dort auch die Grüne Jugend gegründet. Ich bin aber tatsächlich die ersten zwei Jahre kein Parteimitglied geworden, erst später. Es ist eher zufällig, wie ich gekommen bin, doch vielleicht eher relevanter warum ich geblieben bin.
Ich habe in der Grünen Jugend eine Jugendorganisation kennengelernt, die auf jeden Fall linker war als die Grünen und sich zu dem Zeitpunkt auch weiterentwickelte. Mir war damals schon klar, dass ich für mehr soziale Gerechtigkeit bin. Also war mir auch klar, dass ich mich links einordne. In der Grünen Jugend hatte ich großartige Möglichkeiten zusammen mit anderen gemeinsam Aktionen zu machen, viel zu lernen. Über unser Wirtschaftssystem, wie es wirkt und was man Ausbeutung und Diskriminierung entgegensetzen kann. Meine Marx Grundlagen verdanke ich auf jeden Fall dem Verband.
Ja, du hast viel Wirbel verursacht in den Jahren, in denen du Sprecherin warst und hast nochmal das Thema «Soziale Gerechtigkeit» sehr stark auf die Tagesordnung gesetzt. Auch mit der Gerechtigkeitskampagne, die ihr versucht habt für den Bundestagswahlkampf aufzusetzen. Und jetzt, so kurz nach der Halbzeit der Regierung, sind ja doch schon einige Defizite festzustellen. Welche Niederlagen siehst du da auf der Seite der Grünen? Wo haben sich die Grünen nicht durchsetzen können, oder wo haben sich die linken Grünen nicht durchsetzen können?
Die Ampel an sich war ein Ausdruck von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen zum Zeitpunkt Ende 2021. Ich weiß noch, dass wir den Koalitionsvertrag damals nicht abgelehnt haben, obwohl wir eigentlich um die Probleme wussten. Es gab keine gesellschaftliche Stimmung, in der man jetzt hätte nachverhandeln können. Es gab in der Partei, aber auch in NGOs und Gewerkschaften viel Hoffnung. Wir haben schon zum Koalitionsvertrag gesagt, dass das Aussparen der sozialen Frage ein großes Risiko für alle anderen progressiven Projekte ist.
Und ich finde, die letzten zwei Jahre der Ampel sind genau ein Ausdruck dessen. Wenn nicht klar ist woher das Geld kommt, wenn es die Verteilungskämpfe gibt zwischen arm und ärmer, dann hat halt eben keiner Bock mehr auf Klimaschutz, keiner Bock mehr auf Veränderung.
Das war 2021 noch anders. Die Leute haben sich gewünscht, dass das mit der GroKo endet und jetzt bleibt so das Gefühl, Klimaschutz macht mein Leben schlechter. Die AfD erzählt, die Ampel interessiert sich nur für Gendersternchen und nicht für Menschen. Und weil die Ampel so wenig für das Leben der Menschen verbessert, macht sie es der AfD einfach. Ich würde manchmal gern zurückreisen und sagen: ihr könnt den Koavertrag so nicht unterschreiben! Aber wir hätten den Leuten ihre Ampel-Euphorie wahrscheinlich nicht ausreden können.
Ich kann mittlerweile nicht mehr mit gutem Gewissen sagen, dass die Ampel wirklich besser als eine GroKo ist.
Gab es bei euch eine Debatte darum? Denn die erste rot-grüne Koalition von 1998, die dann an die Macht kam, die hat ja genau diese Agenda-Reformen durchgeführt, von denen du auch gesprochen hattest. Und für meine Generation war das schon ein prägender Moment. Es gibt ja diesen Spruch: «Only Nixon could go to China». Da sind natürlich auch Sachen durchgesetzt worden in dieser Phase, die wahrscheinlich unter einer CDU-geführten Regierung massive Proteste zur Folge gehabt hätten. Setzt ihr euch damit auseinander? Also, wie geraten progressive Regierungskonstellationen in die Krise oder scheitern sogar?
Ja, wir haben uns damit viel auseinandergesetzt. Progressive Regierungen scheitern meiner Meinung nach, wenn zwei Punkte nicht gegeben sind:
Wenn sie sich nicht mit Profitinteressen anlegen, schaffen sie es nicht viel zu verändern und enttäuschen die Menschen. Wenn sie keine gesellschaftliche Gegenmacht auf ihrer Seite haben, werden sie sich gegen Profitinteressen nicht durchsetzen können und somit scheitern.
Die Ampel ist ein Fall von beidem. Das Programm ist nicht ambitioniert genug und die Anwesenheit von SPD und Grünen trägt dazu bei, dass die Zivilgesellschaft zumindest lange demobilisiert war.
Ich denke, dass es auch daran scheitert. Sie sind staatstragend und wollen unbedingt regieren, weil sie nicht ganz unberechtigt davon ausgehen, dass das Regierungshandeln mit ihnen progressiver ist als ohne. Doch sie sind nicht in der Lage, sich den gesellschaftlichen Rückenwind für ihre Positionen zu organisieren. Also Grüne legen es jetzt auch nicht darauf an, so eine aktivierende Partei zu sein. Wir wollen immer eine Partei für alle sein und dann ist der Klassenkompromiss ja in dich reingeboren. Und so kommen sie nicht in die Lage, viel zu verändern, sondern müssen vor allem viel mittragen.
Ich kann mittlerweile nicht mehr mit gutem Gewissen sagen, das die Ampel wirklich besser als eine GroKo ist. Und dann muss man sich fragen was hat das gebracht in dieser Regierung zu sein? Du kannst vielleicht ein bisschen was verändern, ein bisschen was verhindern. Aber du bleibst in der Defensive.
Ich finde es schon interessant, dass die Bauern es gerade mit ihren Protesten geschafft haben, auf die Ampel einzuwirken, dort auch Sparpläne weitgehend zu kippen. Währenddessen Projekte, wie zum Beispiel Kindergrundsicherung, oder auch das Klimageld eben keine gesellschaftlichen Gruppen mit Produktionsmacht finden, die das auf die Straße bringen. Habt ihr in der Grünen Jugend diskutiert, ob ihr das nicht artikulieren, ob ihr das nicht aufbauen könntet?
Klar!
Also, wenn du sagst, das war für dich so ein krasser Moment damals mit Rot-Grün, das mit der Ampel ist für eine neue junge Generation ein ähnlicher Einschnitt. Für mich auf jeden Fall. Deswegen sind wir als Grüne Jugend auch zunehmend auf Abstand zu der Regierung gegangen. Stattdessen haben wir uns anderen Projekten zugewendet. Wir haben uns damals an «Genug ist Genug» mitbeteiligt. Und dabei gelernt, was es überhaupt bedeutet nach Jahren von Corona wieder gemeinsam vor Ort organisationsübergreifend aktiv zu sein. Jetzt ist #WirFahrenZusammen ein relevantes Projekt, bei dem wir uns beteiligen.
Zum Thema Bauern, Kindergrundsicherung und Klimageld: Ich glaube es braucht einen konkreten Hebel in Wirtschaftsprozessen, um als Bewegung Power zu entwickeln. Beim Klimageld kannst du eine Demo dagegen anmelden, aber bei der Verkehrswende kannst du Bus und Bahn lahmlegen, wenn die Regierung versucht dich zu ignorieren. Das ist schon ein Unterschied. Wir versuchen das jetzt über den ÖPNV zu machen, über die nächsten Monate. Bald ist Streik!
Du hast gesagt, die Ampel ist nicht handlungsfähig. Das ist ein Problem. Warum ist das denn so? Also weil die kleinste Regierungspartei, so erscheint nach außen jedenfalls, dass die FDP da eben mal mit einem Federstrich das Klimageld einkassieren kann, Kindergrundsicherung wird aus vermeintlich finanziellen Gründen gestrichen. Als Beobachter*in hat man von außen immer den Eindruck: so richtig durchsetzen will man sich offensichtlich nicht, zum Beispiel Reiche stärker zu besteuern. Warum gelingt es den Grünen jetzt innerhalb der Koalition nicht sich da auch mal durchzusetzen? Oder erscheint das nur so?
Hmm ... (überlegt)
Oder wollen die es gar nicht?
Ja, genau, also diese Überlegung: «Ach man, da hat jemand schlecht verhandelt.», die teile ich auch nicht. Ich würde schon sagen, manchmal gewinnt die FDP Publicity Punkte durch ihr Rumblockieren und Grüne sind immer eher so fachlich und sagen, wir haben im Austausch dafür aber diese und jene fachlichen Punkte geklärt. Und dann würde ich ihnen antworten und sagen das ist egal ob ihr neue fachliche Punkte, die niemand versteht, geklärt habt. Weil sie niemand verstanden hat, interessiert sich die Öffentlichkeit auch nicht dafür, wenn die FDP sie euch wieder streicht. Am Anfang war es sicher auch etwas Naivität zu glauben, dass alle drei Parteien immer fair miteinander umgehen werden. Dass Vernunft und Verständigung im Vordergrund stehen werden anstatt Interessen. Grüne sind keine Klassenpartei. Sie sind so von einem Diskursgedanken geprägt. Alle setzen sich an den Tisch und wir finden die beste Lösung, die für alle die Beste ist. Wenn es darum geht, ob Mieten und Löhne sinken oder steigen, gibt es keine ideale Lösung für alle, sondern eine Seite setzt sich mehr durch. Und ich habe eine Präferenz, welche Seite das ist.
Das was die Ampel macht, diese Politik, ist der Brandbeschleuniger für den Rechtsruck.
Die Frage ist: Siehst du eine Möglichkeit wie, also auch gesellschaftlich, das Ruder gerade in dieser Frage rumgerissen werden könnte? Was wären die Ansatzpunkte? Wo siehst du die Möglichkeiten, jetzt in den nächsten zwei Jahren dieser Regierung – wenn sie denn solange durchhält – nochmal Druck zu machen von links, die Interessenswidersprüche zu artikulieren und Partei zu ergreifen?
Naja, ich sehe da schon Möglichkeiten über das nächste Jahr. Die soziale Frage spitzt sich gerade immer mehr zu und rückt auch wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein. Und zwar gerade weil die Ampel versucht hat sie demonstrativ auszuklammern. Das ist gut, das muss sich zuspitzen Richtung 2025. Man dachte 2021 nach den Klimaprotesten: es darf eigentlich keine Regierung geben, die jetzt den Kohleausstieg nicht beschließt. Der Druck war auf dem Kessel. So dürfte es jetzt 2025 eigentlich keine Regierung geben, die nichts für die soziale Frage tut. Bei welchem Thema wir landen, ob Wohnen oder Arbeit, Vermögen oder Schuldenbremse, kann ich jetzt noch nicht sagen.
Aber auch im kommenden Herbst wird es eine große Auseinandersetzung geben: Den Haushalt 2025. SPD und Grüne hätten die Reform durchzocken müssen. Mir fehlt die Fantasie wie sie ihr Milliarden-Loch stopfen wollen. Vor allem weil die Menschen jetzt spüren, was die Kürzungen bedeuten. Hier sollten wir als Linke den Unmut in Kraft verwandeln.
Was mich gerade hoffnungsvoll stimmt sind die Mobilisierungen gegen Rechts. Und auch, dass auch Teile der Zivilgesellschaft auf diesen Demos die Ampel in die Pflicht nehmen und kritisieren. Natürlich hat die Ampel und die Regierungen vor ihr Mitverantwortung für diesen Rechtsruck. Deswegen ist es gerade wichtig als Linke in diesen Demonstrationen sichtbar zu sein! Mit Positionen wie: Wir demonstrieren hier gegen die AfD und erwarten von der Ampel einen Kurswechsel! Das was die Ampel macht, diese Politik, ist der Brandbeschleuniger für den Rechtsruck. Um das zu benennen und die soziale Frage weiter zu politisieren, braucht es die Intervention von Links.