In Deutschland setzte sich das Wort Femizid nur langsam in der politischen und juristischen Alltagssprache durch. Seit 2020 steht es offiziell im Duden. «Vielleicht sind es die Ignoranz und die Apathie großer Teile der Gesellschaft, die mich im Laufe der Jahre wütender gemacht haben.» So zitiert die Autorin der Broschüre «Femizide in Deutschland – (K)ein Einzelfall» Gisela Zimmer die Strafverteidigerin Christina Clemm. Statistisch gesehen wird alle 72 Stunden - also jeden dritten Tag - eine Frau durch ihren gegenwärtigen oder Ex-Partner getötet. Mit Fakten und Hintergründen zur Gewalt gegen Frauen in Deutschland informiert Gisela Zimmer auf Podiumsdiskussionen. Die Journalistin fordert: «Wir brauchen eine staatliche und gesellschaftliche Ächtung jeglicher Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Dringend.»
Wegen des anhaltenden Interesses an unserer Broschüre u.a. von Frauenzentren, Schulklassen und Seminargruppen sprach Ulrike Hempel, Referentin für Publikationen und Öffentlichkeitsarbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung, mit Gisela Zimmer über den Umgang mit geschlechterbasierter Gewalt.
Ulrike Hempel: Seit dem Erscheinen der RLS-Broschüre «Femizide in Deutschland - (K)ein Einzelfall» sind Sie als Gesprächspartnerin zu Veranstaltungen eingeladen. Welche Erfahrungen machen Sie auf den Podien?
Gisela Zimmer moderierte lange Jahre das noch im DDR-Fernsehen gegründete, vom ORB übernommene Frauenjournal ungeschminkt. Heute arbeitet sie als freie Autorin, u.a. bei der FREITAG.
Gisela Zimmer: Die erste habe ich noch tief in Erinnerung. Einfach, weil sie mich irritiert, kurz auch sprachlos gemacht hatte. Eine Frau, so im mittleren Alter, sagte ganz spontan: «Femizide, so etwas machen doch keine deutschen Männer». Aber dann wusste ich wieder, wie gut es war, dass wir im Vorfeld der Broschüre viel darüber nachgedacht haben, für wen schreiben wir eigentlich? Welche Klischees existieren in der Öffentlichkeit? Über die Frauen? Über die Täter? Was weiß man überhaupt über diese Gewaltspiralen, die so viele Frauen erfahren müssen? Sehr wenig, und wenn, dann wird angenommen, Morde an Frauen, nur weil sie Frauen sind und Männer über sie verfügen dürfen, das passiert in anderen Ländern. Weit weg in Mexiko, im Iran, der Türkei und sonst wo, aber nicht hier bei uns. Expertinnen, Wissenschaftlerinnen, Soziologinnen, Juristinnen, Beratungsstellen, Frauenhäuser, längst auch spezielle Kriminalistinnen und Kriminalbeamte beschäftigen sich damit. Es gibt viele Expertisen, Untersuchungen, inzwischen auch Sachbücher dazu, aber ein stückweit bleibt es immer im Kreis der Aktivistinnen. Diese schmale Broschüre, das merke ich in den Diskussionen, hinterlässt Ungläubigkeit, Nachdenken, aber auch Fragen.
Wer interessiert sich für das Thema? Wer kommt in die offenen Gesprächsrunden?
Zum Beispiel sprach eine Lehrerin mich an. Privat. Sie unterrichtet Deutsch an einem Sportgymnasium, hatte auf der Homepage der Rosa-Luxemburg-Stiftung von der Femizide-Broschüre gelesen. Sie wollte wissen, ob sie einen ganzen Klassensatz bestellen könnte. Ihre Schülerinnen und Schüler bekamen die Aufgabe, eine Textanalyse von der Einleitung zu machen, und am Ende tauschten sie sich über diese ja zunächst fachliche Aufgabe auch inhaltlich zum Thema aus. Das hat mich beeindruckt. Ähnliches erlebte ich in Potsdam im Autonomen Frauenzentrum. Eine Pädagogin hatte ihrer Klasse die dortige Veranstaltung als fakultative «Schulstunde» empfohlen. Etliche kamen am frühen Abend in die Gesprächsrunde, durften aber auch jederzeit gehen, falls ihnen die Fakten und Hintergründe zu viel wurden. Wir haben zuvor auch darüber diskutiert, ob das Thema Femizide zumutbar für eine Altersgruppe von 17 - 18-Jährigen ist, in der es ja erste Verliebtheiten und Lieben gibt. So jung, da ist das alles noch so rosarot. Und dann diese Kehrseite in Partnerschaften, das ist schon ein Art Schock. Aber als mich dann auch noch Studentinnen und Studenten aus Berlin anschrieben, sie wollen sich damit in einem selbstgewählten Seminar auseinandersetzen, dachte ich, doch, man darf den Nachgewachsenen schon einiges mehr zutrauen.
Ansonsten kommen in die offenen Gesprächsrunden mehrheitlich Frauen. Im unterschiedlichen Alter, sie bringen ihre Erfahrungen und Beobachtungen ein, arbeiten häufig im sozialen oder pädagogischen Bereich. Ich würde mir wünschen, mehr Männer hätten den Mut zuzuhören. Frauen sind betroffen, viel zu oft auch ihre Kinder, aber die Gewalt geht in der Regel von Männern aus. Sie hat immer eine Vorgeschichte, und fast nie ist das Töten von Frauen eine Affekthandlung, sondern eine geplante Tat.
Und gibt es Fragen?
Ja, eine wird sogar ganz häufig gestellt. Was kann ich tun, wenn ich das ungute Gefühl habe, im Freundeskreis gibt es Gewalt? Oder in der Nachbarschaft? Man hört Schreie, Krach hinter der Wohnungstür. Oder meine Kollegin verhält sich so eigenartig? Trägt Rollkragenpullover, kommt manchmal tagelang nicht zur Arbeit. Soll ich sie ansprechen? Wir sind in den Veranstaltungen ja immer mehrere, die Rede und Antwort stehen. Expertinnen aus unterschiedlichen Beratungsstellen zum Beispiel. Wichtig, so sagen sie, sei es, niemals Ratschläge zu geben. Oder Vorwürfe machen. So nach dem Motto, ich habe dich schon immer gewarnt vor diesem Typ. Aber behutsam ein Gespräch anbieten. Die eigene Wohnungstür öffnen. Zuhören. Selbst auch Anlaufstellen, Telefonnummern, Kontakte von Ort für Hilfsangebote raussuchen. Auch eine mögliche Begleitung dahin anbieten. Ein Mann erzählte mir, er hätte erst sehr spät mitbekommen, dass einer seiner Freunde die Ehefrau schlug. Nie hätte er selbst etwas bemerkt. Erst als die Frau sich wirklich traute und den schlagenden Partner verlassen hatte, erzählte sie davon. Der Mann teilte seinem Freund zwar noch mit, dass er niemals wieder etwas mit ihm zu tun haben möchte. Aber er hat sich leider nicht mit ihm auseinandergesetzt. Keinerlei Fragen gestellt. Sich nicht getraut. Christina Clemm, die wohl bekannteste Anwältin für Frauen gegen Gewalt, sagt völlig zurecht, dass es nicht reicht, nur dagegen zu sein oder als Mann ja selbst nicht die Hand gegen Frauen zu erheben. Männer müssen schon auch selbst etwas tun.
Was nehmen Sie selbst aus solchen Gesprächsrunden mit?
Das sind zwei Dinge. Das erste: Es braucht viel mehr Öffentlichkeit. Es braucht viel mehr Wissen um Femizide in Deutschland. Und wichtig ist der Blick hinter die Statistik. Seit 2015 gibt es vonseiten der Bundeskriminalpolizei eine alljährliche Auflistung von Gewaltdelikten in der Partnerschaft. Das Bittere – die Übergriffe werden ja nicht weniger. Als im November 2023 die Zahlen veröffentlicht wurden, gab es eine Steigerung von über neun Prozent. Und wenn wir von Gewalt in Partnerschaften reden, dann reden wir von vorsätzlicher und schwerer Körperverletzung, von Vergewaltigung, sexueller Nötigung, Stalking bis hin zum Mord. 80 Prozent der Betroffenen sind Frauen. Das ist doch nicht hinnehmbar. Zumal diese Gewalttaten ja nicht ausschließlich hinter verschlossenen Türen stattfinden, sondern hörbar in der Nachbarschaft oder auch ganz offen auf Straßen und Plätzen. Mitten unter uns.
Und das zweite, was ich mitnehme: Es gibt nach wie vor viel zu wenig Schutzräume für Frauen. Besonders im ländlichen Raum. Da müssen Frauen weite Wege auf sich nehmen, um Beratungsstellen aufzusuchen. Das müssen sie in der Regel auch noch heimlich tun, damit es weder der prügelnde Partner noch die Nachbarn mitbekommen. Die Scham in solchen überschaubaren Orten ist unvorstellbar groß. Außerdem habe ich die Erfahrung machen müssen, dass selbst wenn Frauen sich trauen, ausbrechen zu wollen, für sie zwar ein Platz im Frauenhaus wäre, nicht aber für die Kinder. Also verharren die Frauen in diesen für sie unsäglichen Situationen.
In der Femizide-Broschüre schildern Sie, dass es auch anders geht. Spanien hat europaweit scharfe Gesetze gegen gewalttätige Männer und Schutzmechanismen für Frauen und Kinder festgeschrieben. Mit Erfolg. Femizide dort sind stark rückläufig. Ein Beispiel auch für die Bundesrepublik?
Das sehe ich leider überhaupt nicht. Bei uns liegt politisch alles auf Eis. Die Ampelregierung versprach eine Regelfinanzierung im Koalitionsvertrag. Nach wie vor sind die vorhandenen Frauenhäuser und Beratungsstellen chronisch unterbesetzt, auch unterfinanziert. Geld gibt es je nach Kassenlage. Frauen und Kinder, die eine Tat überlebt haben, bräuchten psychologische Betreuung. Die gibt es viel zu selten. Es fehlen bundesweit immer noch ressortübergreifende Hochrisiko-Management-Stellen. Also Einrichtungen, in denen Polizei, Jugendämter, Gerichte, Beratungsstellen verzahnt miteinander arbeiten. Und richtig blamabel finde ich die deutsche Blockadehaltung gegen die EU-Richtlinie gegen sexualisierte Gewalt. Der Vorschlag der Europäischen Kommission ist sehr ambitioniert, würde endlich eine Leerstelle füllen. Bislang gibt es kein Gesetz, keine verbindlichen Standards für den Umgang mit geschlechterbasierter Gewalt, und zwar vereinheitlicht für alle Mitgliedsländer. Aus dem «Nein heißt Nein» soll das in Spanien geltende «Ja heißt Ja» festgeschrieben werden. Dann würde vieles schon frühzeitig unter Strafe gestellt werden können: Nacktfotos ohne Zustimmung im Netz beispielsweise. Oder Handys hacken, jemand auf Schritt und Tritt verfolgen. Oder digitale Gewaltaufrufe. Vom Bundesjustizminister Marco Buschmann steht dafür ein «Nein» im Raum. Seit einem Jahr.
Das Interview führte Ulrike Hempel