Seit ihrer ersten Ausgabe im Sommer 1955 war die documenta von den politischen Spannungen und Annäherungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR geprägt. Offiziell vertreten war Kunst aus der DDR dennoch nur ein einziges Mal. Diese relative Abwesenheit hat möglicherweise dazu beigetragen, dass sich die Forschung bisher vergleichsweise wenig mit den Verflechtungen zwischen der documenta und der DDR beschäftigt hat. Füllt die Literatur zur documenta doch ganze Bibliotheken und steht zur Erforschung der Institution neben dem documenta archiv seit einigen Jahren auch das documenta Institut in Kassel zur Verfügung. Alexia Pooth verdeutlicht, dass mit Blick auf das sogenannte Museum der 100 Tage – wie die documenta aufgrund ihrer Dauer auch genannt wird – und die DDR zahlreiche Aspekte noch nicht erforscht wurden. Sie hat mit Exhibition Politics. Die documenta und die DDR eine wichtige Studie vorgelegt, die auf ein immenses Forschungspotential hinweist, indem sie die documenta als Teil einer deutsch-deutschen Kunst- beziehungsweise Verflechtungsgeschichte betrachtet. Zwar hatte Gisela Schirmer bereits 2005 mit dem Band DDR und Documenta. Kunst im deutsch-deutschen Widerspruch die Beziehungen zwischen der DDR und der documenta untersucht, allerdings lag Schirmers Fokus auf der ersten offiziellen Beteiligung der DDR an der documenta von 1977 sowie der Vorgeschichte und den Nachwirkungen dieser Beteiligung.
Widersprüchliche Verbindungen
Pooth hingegen zeichnet mit ihrer Neuerscheinung ein komplexes und in Teilen widersprüchliches Bild der Verbindungen zwischen der DDR und der documenta, welche tatsächlich bis in die Anfangszeit der Kasseler Ausstellung reichen und seitdem fortwährend bestanden. Ihr Fokus liegt auf den vielschichtigen Verflechtungen und Netzwerken über den sogenannten Eisernen Vorhang hinweg sowie auf der Rezeption von Kunstwerken und der documenta als politische Institution. Mithilfe der «Denkfigur der Polizität» setzt sich Pooth mit dem vorliegenden Band das Ziel, verschiedene «‚Dimensionen des Politischen‘ rund um die documenta und das Ost-West-Verhältnis auszuloten.» Dafür zeigt sie anhand der ersten zehn Ausgaben der documenta (1955–1997), inwiefern von Anfang an zum einen die Verantwortlichen versuchten Künstler*innen aus der DDR einzubinden und zum anderen, wie das Museum der 100 Tage in Ostdeutschland wahrgenommen wurde.
Pooth verfolgt nicht den Ansatz einer linearen Erzählung, sondern führt vielmehr anhand von vielfältigen Quellen unterschiedliche Erzählstränge zusammen. So thematisiert sie beispielsweise neben einer Einladung an Bertolt Brecht zur ersten documenta (Kapitel 1), Gerhard Richters Reisen aus Dresden nach Kassel von 1955 und 1959 (Kapitel 2). Des Weiteren zeichnet Pooth nach, wie sich die anfängliche Ausgrenzung politischer Kunst in den späten 1960er Jahren und während einer sich verändernden Ostpolitik unter Bundeskanzler Willy Brand abmilderte (Kapitel 3). Zu Beginn der 1970er Jahre rückte die Kunst aus der DDR nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Grundlagenvertrags zwischen der Bundesrepublik und der DDR in den Blick und war 1977 auf der documenta 6 in einem eigenen Raum zu sehen (Kapitel 4). Allerdings blieb es bei diesem einmaligen Intermezzo, an der documenta 7 und 8 sollte die DDR wiederum nicht beteiligt sein, auch wenn beispielsweise der Leipziger Kunsthistoriker Klaus Werner der documenta-Leitung ungefragt Vorschläge machte (Kapitel 5). Nach dem Fall der Mauer zeigte sich deutlich, wie gering und vorurteilsbehaftet die Kenntnisse in Westdeutschland über die Kunst in der DDR über vier Jahrzehnte hinweg geblieben waren, so atmete das zweite Marathon-Gespräch von 1991 in Weimar im Vorfeld der documenta 9 die Atmosphäre des deutsch-deutschen Bilderstreits der 1990er Jahre (Kapitel 6). Erst mit Catherine Davids documenta 10 von 1997 sollte sich die Kasseler Ausstellung von einer in erster Linie ästhetischen Kunstauffassung entfernen und für eine analytische und reflexive Programmatik öffnen, die unter anderem den Verhältnissen zwischen Ost und West sowie Süd und Nord nachspürte.
Im Anschluss an die Ausstellung documenta – Politik und Kunst, die 2021 im Deutschen Historischen Museum in Berlin gezeigt wurde und an der Pooth mitgewirkt hat [1], stellt sie einem interessierten Fachpublikum eine Publikation zur Verfügung, die nicht nur den Forschungsstand zum Thema bündelt, sondern zudem in kurzen Essays kostbare Dokumente und Fotos aus Archiven vorstellt sowie aktuelle Interviews mit Zeitzeug*innen aus BRD und DDR versammelt. Gleichzeitig verdeutlicht sie mit wiederkehrenden Hinweisen auf Forschungslücken, potentielle Interviewpartner*innen und bisher unbearbeitete Archivbestände den weiterhin immensen Forschungsbedarf nicht nur mit Blick auf das Themenfeld documenta und DDR, sondern auch die Verflechtungen der documenta mit den Ostblock-Ländern insgesamt.
Alexia Pooth: Exhibition Politics. Die documenta und die DDR; Kerber Verlag, Bielefeld 2024, 364 Seiten, 71 farbige und 40 s/w Abbildungen, 38 Euro