Nachricht | Div (Hrsg.): Avantgarden in Zentraleuropa. Andere Räume, andere Bühnen; Tübingen 2023

Ein Handbuch als Einführung

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Die `klassischen´ historischen Avantgarden spielten sich vor allem in Deutschland, Frankreich, Italien und Russland/Sowjetunion ab. Die Forschung zu diesen Ländern ist relativ umfangreich und die Literatur dazu liegt meist in den jeweiligen Nationalsprachen vor. Diese Beschränkung auf den national-kulturellen Sprachraum gilt auch für die zu den «anderen» Ländern (wie sie etwa in dem hier anzuzeigenden Buch thematisiert werden). Hinzu kommt, dass die Avantgarden dieser Länder meist in Relation zu den oben genannten prominenteren «Hauptländern» gesehen, definiert und erforscht werden, und mangelnde Kenntnisse dieser «kleinen» Sprachen die Forschung erschwer(t)en. Ein «Handbuch» zur Region Mittel- oder Zentraleuropa gab es bisher laut den HerausgeberInnen nicht, dem will diese Publikation nun abhelfen1.

Zentraleuropa zeichne sich, so die Hrsg., durch Diversität, Pluralität und auf intellektueller Ebene eine intensive Dynamik aus, die in kultureller Hinsicht als Laboratorium von Tradition und Erneuerung angesehen werden müsse. Dabei spielten drei Faktoren eine wichtige Rolle: Migration ermöglichte Kulturtransfers und schuf Kontaktzonen, das Verhältnis von Peripherie und Zentrum sei nicht zuletzt durch diese Migration immer wieder aufgelöst und in Frage gestellt worden. Drittens sei Deutsch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der in Rede stehenden Region eine weit verbreitete Sprache gewesen, dies erleichterte unter den Angehörigen der Avantgarden die transnationale Kommunikation, und später, so könnte hinzugefügt werden, die (deutschsprachige) Forschung.

Die hier von Müller-Funk, Faber und Unterkofler verfassten bzw. herausgegebenen Aufsätze entstammen mehreren Ringvorlesungen an der Universität Wien. Nach der Einleitung (S. 7-34) folgen Beiträge zu sieben Ländern: Jugoslawien und der postjugoslawische Raum, Österreich, Polen, Rumänien, Tschechoslowakei (Tschechien und Slowakei), Ukraine und Ungarn. Jeder Beitrag enthält eine Chronik, einen Gesamtüberblick, Kurzporträts ausgewählter Künstlerinnen und Künstler, sowie Hinweise und Kommentare zu wichtigen programmatischen Texten. Die umfangreiche Bibliographie am Schluss des Bandes ist nach den Kapiteln geordnet (S. 313-332). Hilfreich ist auch das Personenverzeichnis (S. 339-350). Der Zeitraum entspricht weitgehend dem des «kurzen» 20. Jahrhunderts von 1914 bis 1989. Es werden jeweils unterschiedliche künstlerische Disziplinen präsentiert, also nicht nur die klassische bildende Kunst (und ggf. literarischen Strömungen, aber das wäre ein anderes Thema).

Die HerausgeberInnen verstehen ihren Band als «Einführung für Laien und Studierende» (S. 29) und postulieren, dass in diesem Studienbuch zudem ein gewisser «Anspruch auf Vollständigkeit» (S. 9) verfolgt werde. Der erste Anspruch ist erfüllt, ob der zweite wirklich erfüllt ist, ist angesichts der Vielzahl an Namen und angesichts der wenigen Kenntnisse, die viele zu diesen Ländern haben, nur schwer zu beurteilen. Für Österreich kommt zum Beispiel bemerkenswerterweise fast nur die Zeit nach 1945 vor, also der Wiener Aktionismus, Hermann Nitsch, Otto Mühl, Valie Exportundsoweiter.

Wolfgang Müller-Funk, Vera Faber, Dietmar Unterkofler (Hrsg.): Avantgarden in Zentraleuropa. Andere Räume, andere Bühnen; Narr Verlag, Tübingen 2023, 350 S., 64 Abb., 34,90 Euro

1 Ein Titel für eine zwar eingegrenzte, aber vielerorts zentrale Periode wäre das zweibändige, in englisch vorliegende Werk Timothy O. Benson (Hrsg.): Central European Avant-Gardes. Exchange and Transformation, 1910–1930, MIT Press, Cambridge/Massachusetts und London 2002 und ders. und Éva Forgács (Hrsg.) Between Worlds. A Sourcebook of Central European Avant-Gardes, 1910–1930, MIT Press, Cambridge/Massachusetts und London 2002. Vgl. auch das Europäische Netzwerk für Studien zu Avantgarde und Moderne // European Network for Avant-Garde and Modernism Studies das unter www.eam-europe.bezu finden ist und auch eine Buchreihe herausgibt.